Sonntag, 28.06.2020

Force of Evil

von Wolf-Eckart Bühler

Ich wollte Erfolg haben, ich wollte in der Welt vorankommen, und ich glaubte, daß es nur drei Wege gebe.
Du kannst ein Vermögen erben, du kannst dein Leben lang hart arbeiten dafür, oder du kannst es stehlen.
Ich wurde arm und ungeduldig geboren.
An jenem Julimorgen hatte ich ein Büro in Wall Street, hoch oben in den Wolken: 10.000 Dollar im Jahr.
Heute war ein wichtiger Tag in meinem Leben, denn morgen hatte ich die Absicht, meine erste Million zu machen, ein aufregender Tag im Leben jedes Mannes.
Aber vorübergehend war das Unternehmen noch nicht ganz legal. Ich war der Rechtsanwalt des Wett-Syndikats.

Die Trottel wetten auf jede mögliche Kombination von drei Ziffern. Einfach, simpel, selbst ein Kind kann das, und die Kinder tuns. Die Gewinn-Nummer wurde ausgewählt aufgrund der Summe der Wettgelder auf irgendeiner Pferderennbahn. 20 Millionen Wetter pro Tag in den Vereinigten Staaten. Jahreseinkommen für kleine Gauner und Syndikats-Gangster: eine Billion Dollar. Es schien schade um so viel gutes Geld zu sein, in den Taschen anderer zu verrotten. (5)

Wenn wir wüßten, auf welcher Seite der Straße Hall arbeitet, würde unser Klient Mr. Ben Tucker das sehr zu schätzen wissen. Wir wollen keine Unannehmlichkeiten, die nicht nötig sind. Es steht einiges auf dem Spiel, wenn wir das Wettgeschäft in eine legale Lotterie umwandeln wollen. – Joe. Du weißt gewöhnlich, was du tust, Joe, aber es ist eine Sache, Tucker offiziell zu repräsentieren. (Er lächelt zur Rechtfertigung.) Das lehren sie sogar in Harvard. – Und? – Aber in der Minute, wo du anfängst, Geschäfte für Tucker zu machen, Joe, Tuckers Geschäfte, ist das etwas anderes. Rechtsanwälte sind nicht vom Recht geschützt. – Tucker macht mich reich, Hobe, und ich bin dein Partner, der dich reich macht. Ich trage seine alte Schulkrawatte, und du trägst meine. Du kannst in der Mittagspause dir deine eigene beim Trödler kaufen. – Was willst du über Hall wissen, Joe? – Nun, ich kann mir vorstellen, daß unser Klient gerne wissen würde, ob Hall Geschäfte machen will oder Präsident der Vereinigten Staaten werden will. – Jeder amerikanische Junge will Präsident der Vereinigten Staaten werden. – Nicht jeder amerikanische Junge hat einen Blankoscheck vom Gouverneur. (7/8)

Wir wollen nur 12 Banken finanzieren, Joe, die ganz großen… und natürlich die kleine Bank deines Bruders… das macht 13. Die anderen könne alle pleitemachen, und die Combination übernimmt ihr Geschäft. (Er setzt sich, überschlägt mit dem Federhalter einige Zahlen, fragt beiläufig) Gehst du jetzt deinen Bruder besuchen? – Kann ich offen mit dir sein, Frank? – Edna sagt das immer. Sie sagt, Ich werde jetzt ganz offen zu dir sein, Frank. Und dann kommt irgendwas Gemeines oder Schreckliches über mich… oder irgendwas Dummes über sie selbst. – Ich werde dumm sein, Ben. Ich bin ein Rechtsanwalt, dein kleiner cleverer Rechtsanwalt, und ich habe die Organisation dieses Wettmonopols übernommen, um es legal, respektabel und profitabel zu machen… Und ich habe es aus zwei Gründen getan. Kann ich offen sprechen? – Was ist der zweite Grund? – Offen gesagt der erste Grund ist Geld. Aber der zweite Grund ist mein Bruder. Er ist 50 Jahre alte, ein Mann mit einem schwachen Herz, und wenn morgen 776 gewinnt und sein Vermögen wegwischt, wird es auch sein Leben wegwischen. Er wird weiß werden und sterben, aus Scham, alt zu sein und bankrott. Das ist mein Problem. Er wird der Combination nicht beitreten, außer ich zwinge ihn dazu, und ich kann ihn nicht zwingen, außer ich erzähle ihm von 776. – Du wirst ihm gar nichts erzählen. – Es ist der einzige Ausweg. – Es der einzige Weg uns zu ruinieren. Nein. – Es ist ganz sicher, Ben. – Nein. Du gehst am besten deinen Bruder überhaupt nicht besuchen. – (steht dann auch, freundlich jetzt, überredend) Schau mal, Joe. Laß uns mal klarstellen. Morgen ist der 4. Juli. Der einzige Tag im Jahr, wo die Leute abergläubisch sind und eine einzige Nummer wetten: 776. Morgen werden die Nickels, Dimes und Pennys von jedem Trottel auf 776 gesetzt werden. Richtig. – Richtig. – Nun arrangieren wir, daß diese Nummer tatsächlich gewinnt, das heißt alle Wettbanken gehen bankrott. Weil sie die Gewinne nicht auszahlen können. Richtig? (gehen auf Balkon, dann Treppe runter) Ich hätte nicht all das Geld investieren müssen, das mich dieses Unternehmen kostet, Joe. Ich hätte meinen ehemaligen Bier-Partner Ficco mit seinen Chicago-Scharfschützen ins Geschäft nehmen können und all diese Banken übernehmen können, wie ich damals ‘27 das Biergeschäft übernommen habe. Aber du, du sagtest: Nein. Du bist mein kluger Rechtsanwalt. Richtig. – Richtig. – Du sagtest, du würdest die Öffentlichkeit dazu bringen, daß ein Gesetz erlassen wird, welches das Wettgeschäft zu einer legalen Lotterie macht, so wie in Irland oder in England. Oder wie hier die Wetten auf Rennbahnen. Und daß jede Gewaltanwendung, jede Schießerei diese Chance zunichte machen würde. Und ich sagte, Na gut, Joe. Er wird nicht an seinem kranken Herzen sterben, solange er sich daran erinnert, daß er einen reichen Bruder hat. Reiche Verwandte sind besser als Ärzte oder Medikamente. – Okay, Ben. Okay. – Denk daran, Joe: du und ich sind die einzigen, die von 776 wissen, und ich habe keinen Grund, es irgend jemand anderem auf die Nase zu binden. – Du traust mir nicht?! – Natürlich traue ich dir, Joe. Ich will nur, daß du weißt, wie besorgt ich bin. (9-13)

Ich hatte meinen Bruder Leo schon Jahre nicht mehr gesehen, und hier war er wieder in den Slums gelandet, in denen wir geboren waren. Er führte ein kleines Wettbüro, so wie ein anderer ein Restaurant oder eine Bank führt. Diese Wettbüros wurden Banken genannt und sie waren wie Banken, indem die Chancen, sein Geld wieder herauszubekommen 1000 zu 1 standen. So standen die Chancen auf einen Gewinn. Die Banken waren eingerichtet hinter Billard-Sälen, in leeren Fabrikhallen, in Kellern, oder verborgen in Slum-Apartments, wie bei Leo.

(Joe geht mit ausgestreckten Händen auf Leo zu) Wie geht’s dir Leo? Wie geht’s dem ältesten Bruder in unserer Familie? – (unwirsch) Woher soll ich das wissen? (Leo wendet sich wieder seinen Papieren zu, sieht sie aber gar nicht wirklich an, während Joe, um seine Verlegenheit zu überspielen, zuerst auf seine ausgestreckte und nicht angenommene Hand schaut, dann zu seinem Hut greift, ihn absetzt und auf den Tisch legt.) (Leo schiebt den Hut an die entfernteste Ecke des Schreibtisches, noch immer nicht Joe anblickend, der sich setzt.) (Aufgeräumt) Nun, seh ich nicht gut aus, Leo? – Was willst du, Joe? – Ich wollte dich besuchen, Leo. Brauch ich dazu einen bestimmten Grund? – Du würdest mich nie in deinem Leben besuche, Joe, wenn du keinen bestimmten Grund hättest. – Was ist der Unterschied? – (Leo unterstreicht seine Worte, indem er mit einem Federhalter ungeduldig auf Joe zeigt.) Ist das ein privater Besuch oder ein Geschäftsbesuch? Was jetzt? Ich bin beschäftigt. – (Joe lehnt sich vor, begütigend.) Ich bin gekommen, dich aus diesem Luftschacht zu holen und dich in ein richtiges Büro zu setzten, mit einem richtigen Geschäft; ich bin gekommen, dir alles zurückzuzahlen, weil du mein älterer Bruder bist. Darum bin ich gekommen. – (Leo, stumpf und gezwungen ruhig) Komm wieder vorbei, wenn ich tot bin. – (Heftig) Ich mußte kämpfen, um dir diesen Vorschlag machen zu können, Leo, ich mußte meinen Hals riskieren dafür. Nun hör zu. (Joe beginnt auf und ab zu gehen, angespannt, wütend, während Leo vorgibt, an seinen Papieren weiterzuarbeiten, dabei aber genau zuhört.) In deinem Geschäft ist was im Laufen zur Zeit. Du hast eine von 20 oder 30 Banken in dieser Stadt, eine der kleinen. Nun stell dir vor, daß ein Syndikat übernimmt: stell dir vor, es organisiert und verschmelzt diese Banken. Die kleinen Banken wie deine bleiben auf der Strecke. (Leo beginnt aufzuhorchen) Jetzt hörst du mir zu. Stell dir vor, es senkt die Kosten für Schmiergelder und Kautionen, es senkt die Betriebskosten, garantiert die Profite. Ein Mann wie du wäre aus dem Geschäft, nicht wahr? Du könntest nicht mithalten, nicht wahr? Aber stell dir vor, du hättest einen Bruder, und dieser Bruder würde deine Bank zur Bank Nummer 1 machen in der Combination, in der Fusion, in der Corporation? – Welcher Korporation? Mr. Tuckers? – (es klopft an der Tür) Herein. (Während Joe frustriert im Gehen innehält, kommt Doris Lowry herein; sie trägt einen kleinen Geldsack mit der Aufschrift Merchants National Bank und einige Papiere. Ich hab das Geld für die Gewinner, Mr. Morse. (Am Tische beginnt sie das das Geld in kleine Bündel zu teilen, faltet sie in Papierblätter, hält sie mit Gummibändern zusammen. Währenddessen ist sie sich Joes Anwesenheit bewußt und etwas verlegen.) (Leo, gefährlich ruhig) Und was will diese Korporation von mir, Bruder Joe? – (Joe, mit einem feindseligen Blick auf Doris) Als Gegenleistung dafür, daß sie die Organisation und den gesamten Apparat übernimmt, in Gegenleistung dafür, daß sie dich in die Combination mit hereinnimmt, erhält die Korporation 2/3 der Gewinne und due erhältst 1/3 der Gewinne. Auf der anderen Seite… – 2/3 für Tucker, Bruder Joe, und 1/3 für mich, für mein eigenes Geschäft? (er blickt Joe in die Augen) Weißt du was das ist, Joe? (er schreit) Erpressung! Das ist es, was es ist. Erpressung! (zu Doris) Mein eigener Bruder epreßt mich. (Joe schreit zurück) Du bist verrückt! Du bist vollkommen verrückt! (Leo, ruhig) Ich will davon nichts wissen. – Du weißt, warum du davon nichts wissen willst. Weil du ein kleiner Mann bist. Denn wenn es um eine kleine Sache geht, dann ist es für dich richtig – dann bist du ein Tiger. Aber wenn es eine große Sache ist, dann zitterst du, dann beschimpfst du mich. (er windet sich schmollend, Leo nachmachend) Oh nein, nein. Eine Million Dollar für Leo. Oh nein. Das muß ein Irrtum sein. Das muß die falsche Adresse sein. Das muß nebenan sein. – (Leo greift ruhig nach seinem Mantel) Die Antwort ist nein. – (bittend) Du weißt genau, daß dein „Nein“ den Zusammenschluß der Banken, inklusive deiner, nicht stoppen wird. Dies ist deine Chance, Leo, die eine, die ich für dich habe. – (Leo öffnet die Tür; man sieht den Raum dahinter, Bauer, der aufhorcht, dahinter in der Küche die Sortierer der Wettscheine.) Nimm deine Chance und steck sie dir sonstwohin, Joe. Ich bin ein ehrlicher Mann hier, kein Gangster mit diesem Gangster Tucker. – (Zitternd vor Wut und Demütigung, wirft Joe die Türe wieder zu.) (Die Sortierer lauschen gespannt.) Willst du etwa mir, einem Syndikats-Anwalt, erzählen, daß du hier ein legales Geschäft betreibst? Wie nennst du es denn? Wettauszahlung, illegale Lotterie, Paragraph 974 des Strafgesetzbuches, Lotterie, Wettgeschäft. – Ich führe meine Geschäfte ehrlich und anständig. – Ehrlich! Anständig! Nimmst du etwa nicht die Pennys, Nickels und Dimes, die die Leute verwetten, so wie jeder andere Gauner in diesem Schwindelgeschäft? (Die Sortierer blicken sich stumm an und Bauer zuckt schmerzvoll zusammen, während er weiter lauscht.) Es wird Schwindel-Lotterie genannt, weil die armen Leute ihre Nickels auf Nummern setzen, anstatt ihre wöchentlichen Versicherungsbeiträge zu leisten. Darum. Schwindel. Das ist es und so wird es genannt. Und Tucker will Millionen machen, und du willst Tausende machen, und Sie (zu Doris), Sie geben sich mit 35 die Woche zufrieden. (Als Doris das hört, läßt sie das Bündel Geld wie heiße Kohlen fallen. Leo legt seinen Arm auf ihre Schulter.) Aber es ist alles dasselbe. Alles Schwindel. – Dies ist meine Sekretärin. Meine Stenographin, meine Freundin, Doris Lowry. Sie ist schon lange bei mir. Sie ist wie eine Tochter für mich. Aber du… Ich hätte der Rechtsanwalt sein wollen, und ich hätte es werden können, wenn ich dich damals aus dem Haus geworfen hätte, als unsere Eltern starben. Und was hab ich gemacht? Ich hab für dich gearbeitet, wie ein Idiot. Ein Rechtsanwalt braucht aber Klienten. (Wütend) Du bist nicht mein Bruder. Du mußt durch einen schwachsinnigen Kellner in die Familie gekommen sein. – Wie kannst du so zu mir reden vor einem Fremden? – Sie ist kein Fremder für mich. Du bist der Fremde. Und jeder soll das wissen, alle Welt soll das Wissen, weil du mein Bruder bist. Und ich schulde der Welt zu erzählen, was du bist. Ein Gauner und ein Dieb und ein Gangster. – (Leo öffnet die Tür und will abgehen.) Leo, sei vernünftig. Tucker wird aus dir einen ehrlichen Mann machen. Tucker wird dich angesehen machen. Er gibt mir eine Viertel-Million-Dollar, die Öffentlichkeit dazu zu bringen, das Wettgeschäft legal zu machen. Wie Bingo-Bango und die Irischen Wetten. Ich zahl dir alles zurück, Leo. Ich werde dich reich machen. Mit einem Büro in Wall Street über den Wolken. Sei ruhig, Leo, sei vernünftig. – Also gut. Ich bin vernünftig. Ich bin ruhig. Ich gebe dir meine Antwort ruhig und vernünftig, meine endgültige Antwort. Meine endgültige Antwort ist endgültig nein. Die Antwort ist nein. Unwiderruflich, endgültig nein. Endgültig und positiv nein. Nein, nein, nein. Und nein. – (Leo geht ab. Joe nimmt seinen Hut, blickt auf Doris, die sich auf die Lippen beißt, stürmt heraus.)

Alles was Kain Abel angetan hat war ihn zu töten. – Ich hatte nichts damit zu tun. – Na gut. Du hattest nichts damit zu tun. Danke jedenfalls, daß du die Kaution bezahlt hast und mich mit demselben Schlüssel rausgeholt hast, mit dem du mich eingesperrt hast. – Nach heute Nacht wird es zu spät sein, Leo. Zu spät, sage ich dir, zu spät! – Ich will dir noch etwas sagen, Joe. Du hast mir die Augen geöffnet, und die Polizei hat sie mir noch weiter geöffnet. Ich habe mir selbst etwas vorgemacht, daß ein Wettbüro zu betreiben ein Nichts ist, und daß ich besser bin als du. Jetzt mach ich mir nichts mehr vor. Meine Augen sind offen. Nach morgen schließe ich. Ich nehme mein Geld und hör mit dem Geschäft auf. Ich mach Schluß damit. – Dann mach es heute. Schließ heute Nacht. Warte nicht bis Morgen. – So ein Gauner bin ich auch wieder nicht. Ich habe Wetten in meiner Bank liegen. Das sind Schulden. Morgen werde ich auszahlen, was ich schulde, wie viel es auch immer ist, und dann mach ich Schluß. Ich werde in den Spiegel schauen können und mein eigenes Gesicht sehen, nicht deines. – Ich will dir doch helfen, Leo. – Ich habe 10, 15.000 übrig. Das ist alle Hilfe die ich brauche. Aber du kannst etwas für mich tun… – Alles, Leo, wenn du nur auf mich hörst. – Du hörst mir zu. Doris, sie braucht Hilfe. Sie hat gekündigt, bevor du die Razzia auf meine Bank veranlaßt hast, und jetzt ist sie wie jeder von uns mit einer Vorstrafe belastet. Das ist das Ende ihrer guten Zeugnisse und daran bist du schuld. Du hast vornehme Freunde in Wall Street. Sie ist eine gute Stenographin. Verschaff ihr einen guten und ehrlichen Job. Dafür wäre ich dir dankbar, ihretwegen, nicht meinetwegen. – Gut, ich mach das, aber… was auch immer passiert, mach dir keine Sorgen. Ich meine, wenn … – Was könnte schon passieren, daß ich deine Hilfe brauchen sollte. (36-37)

Soll ich sie nach Hause fahren, Miss Lowry? – Nein. – (Joe hält sie am Arm fest.) Was bin ich hier eigentlich, ein Aussätziger? – Nur wie wir alle, Mr. Morse, nur hat man sie noch nicht geschnappt. – Ich hab euch alle herausgeholt. Ich habe eure Kautionen bezahlt. – (Doris will weiter.) Was wollen sie von mir, Mr. Morse? Ich hab noch ein ganzes Leben übrig, über heute nachzudenken, und sie werden mir dabei keine Hilfe sein. – Woher wollen Sie das wissen? Alles was ich anfasse wird zu Gold. Schauen sie, es regnet wieder, und ich habe meinem Bruder versprochen, Sie nach Hause zu fahren. – Das ist gelogen. – Okay, ich habs nicht versprochen, aber ich hätte es, wenn er mich darum gebeten hätte. Man kann über sein Leben nicht viel sagen, bis man es zu Ende gelebt hat. Kommen Sie. Ich bringe Sie nach Hause. (Lichter und Verkehrsampeln tanzen Muster über die Gesichter von Joe und Doris. Er lehnt sich zurück, müde, aber sie sitzt gerade und von ihm abgewendet.) Sie Sind müde, und ich bin noch müder. Was kann uns schon passieren? Sie erzählen mir Ihre Lebensgeschichte, und vielleicht kann ich ein glückliches Ende vorschlagen… – (Doris) Die Zeiten waren hart, und ich konnte nirgendwo einen Job finden, aber dann hat ihr Bruder mich angestellt, weil ich so aussah, als könnte ich Hilfe brauchen. Ich bin auf die Wirtschaftsschule für 10 Wochen gegangen, weil meine Mutter wollte, daß ich etwas vorweisen kann. – (Joe betrachtet sie abgespannt.) Sie haben einiges vorzuweisen, Doris. – Das hatten auch Sie. Ich kenne Leo seit ich 13 bin, und ich habe von Ihnen gehört seitdem. – Was haben Sie über mich gehört, Doris? – Die Geschichte von dem abtrünnigen Sohn, der niemals nach Hause gekommen ist. Wieviel Leo für Sie getan hat und wie wenig Sie für sich selbst getan haben. Der wilde Straßenjunge. Der wilde junge Mann, der behauptete, er sei eine Wildkatze im Dschungel, das hab ich gehört. Ihr Bruder hat mich über Wasser gehalten, auch wenn die Geschäfte schlecht gingen, und vielleicht ist das der Grund, daß ich mir eingeredet habe zu glauben, was er sich selber eingeredet hat zu glauben, daß ein Wettgeschäft zu betreiben nicht gar so schlecht ist. Und jetzt ist mein Name im Vorstrafenregister, und meine Fingerabdrücke bei den Akten, und solange ich leben werde, werden die Leute es wissen und sich daran erinnern. Und ich werde mich daran erinnern und es wissen. Ich werde es wissen … – Vergessen Sies. Sie waren ein Telefonanruf bei der Polizeistation. Es war ein falscher Anschluß. (Lächelnd) Wie fühlen Sie sich als falscher Anschluß? – Nicht sehr gut, Mr. Morse … nicht sehr gut. – Sagen Sie, ich hätte Schuld. Das tut jeder. (Der Wagen hält an einer Ampel, als Doris ihr Gesicht abwendet. Joe öffnet plötzlich die Wagentür und springt heraus. Als er wieder auftaucht, hält er einen großen Blumenstrauß im Arm. Er wirft ihn auf Doris Schoß, schließt die Tür wieder, und der Wagen schießt davon.) Ein Blumenstrauß für ihre Abschiedsparty. Ich mag happy endings. – Es gibt kein Geschäft, Mr. Morse, wo man so was kaufen kann. – Nennen Sie mich Joe, Doris, und ich kaufe ihnen ein happy ending. – (Sie betrachtet ihn über ihre Blumen hinweg, aus dem starken Duft heraus, den sie einatmet, den Joe einatmet, der sie beobachtet.) Sie sind ein merkwürdiger Mann … und ein sehr schlechter Mann. – Und Sie sind ein süßes Kind … und Sie wollen, daß ich schlimm zu Ihnen bin, noch schlimmer als ich bin. – Was soll das denn heißen? – Daß Sie schlimm sind, wirklich schlimm, grausam und schlimm. – Was reden Sie da für einen Unsinn, Mr. Morse? – Weil Sie schlimm sind, weil Sie verlegen sind, daß ich Ihnen etwas tun könnte. Nach Ihnen greifen könnte, Sie aus dem Konzept bringen könnte, Sie davonfegen könnte … Ihre Kindlichkeit Ihnen nehmen könnte und stattdessen Geld und Sünde ihnen geben könnte. Das ist wirkliche Schlechtigkeit. – Was wollen Sie damit erreichen, Mr. Morse? Was wollen Sie erreichen, was ich von mir selber glauben soll … und von Ihnen? – Wissen Sie, was Schlechtigkeit ist? (Er steckt eine Hand in seine Tasche, zieht sie wieder heraus, etwas in seiner geschlossenen Faust haltend. Er redet nicht zu sich selbst, noch zu ihr, sondern fast zu der Welt, so müde ist er, so müde von den Ereignissen des Tages.) Wenn ich meine Hand in die Tasche stecken würde und Ihnen einen Rubin gäbe, einen Rubin für eine Million Dollar, geschenkt, nur weil Sie schön sind, und ein Kind, daß etwas vorzuweisen hat, weil ich ihn Ihnen geben möchte, ohne etwas dafür zu verlangen … wäre das schlimm? – Haben Sie einen? – (lacht, öffnet seine Hand) Nein … – Als ich noch ein kleines Mädchen war, Mr. Morse, habe ich immer die Zauberer mit ihren schwarzen Umhängen und ihren Zylindern und ihren Rubinringen bewundert, weil ich zuhörte, was sie sagten, sie redeten immer so schnell, anstatt darauf zu achten, was sie taten. Aber jetzt bin ich ein großes Mädchen, mit einer Vorstrafe, dank Ihnen, und ich weißt, daß es nicht böse ist, etwas zu geben und nichts dafür zu nehmen. – Es ist pervers. Können Sie das nicht sehen? Es ist unnatürlich. Für etwas, was man will, alles drangeben: das ist natürlich. Hinlangen und sich einfach etwas nehmen: das ist menschlich. Das ist natürlich. Aber Spaß daran zu finden, etwas nicht zu nehmen, sich selbst bewußt hinters Licht zu führen, wie es mein Bruder heut gemacht hat … Spaß daran zu haben, etwas nicht zu kriegen, etwas nicht zu nehmen … Siehst du nicht, was das für einen Mann bedeutet? Wie man das macht um sich selbst zu hassen und seinen Bruder dazu – ihm das Gefühl zu geben, daß er schuldig ist … zu leben und schuldig zu sein … (Der Wagen hält vor einem kleinen Haus. Joe öffnet die Tür, zu müde um auszusteigen, und Doris steigt aus.) Gute Nacht. Kommen Sie morgen in mein Büro. Nein, wir haben geschlossen. Es ist ja Feiertag. Kommen Sie Freitag. Ich habe meinem Bruder versprochen, einen wunderschönen, rosigen, respektablen Job für Sie zu finden. Und Sie brauchen keine Zeugnisse. – Ich weiß ja, wie schlecht Sie wirklich sind. (Er gibt dem Chauffeur ein Zeichen, und der Wagen schiebt davon.) (Doris schaut ihm zu, als er wegfährt, in ihren Armen die Blumen. Sie beugt sich zu ihnen hin und riecht.)

Joe steht im Dunkeln, blickt über die glitzernde Wüste von Jersey, den riesigen melancholischen Fluß. – Joe blickt hinüber zum Broadway. Den schwarzen Hügel hinunter stapft die schmale, vom Wind getriebene Figur von Leo, wie ein Schlafwandler, sein Mantel vom Wind zerzaust. Joe versteckt sich, als Leo um die Ecke kommt und sich dem Eingang seines alten Hauses nähert.

Fühlst du dich nicht wohl? Ist es wieder dein Herz? – Nein, ich habe heute all mein Geld verloren. – Leo! – Ja. Jeden Penny. Und mehr. – Was sollen wir tun? – Wir sind schon einmal arm gewesen, ist es nicht so? – Nicht in unserem Alter. – Ja, das stimmt. Es sind nicht mehr viele übrig, die älter sind als wir. – Sag das nicht so, Leo. Wir haben noch unser ganzes Leben. – Heute morgen war ich ein wohlhabender Mann. Dann kam 776, die Chance 1 zu eine Billion. Und ich bin erledigt. Ich hatte nicht einmal die Genugtuung, dieses schmutzige Geschäft selber aufzugeben. Es hat mich aufgegeben… Die Arbeit eines Lebens in Nichts verwandelt, sie flog hinweg wie Luft, wie Staub, wie Nichts. – Sh, sh. Das war sowieso kein Geschäft für einen Mann wie dich. Du wirst etwas Besseres finden, etwas Anständigeres für einen wundervollen Mann wie dich. – Alles was ich weiß ist, daß ich nichts habe. Ich liege auf der Straße. Ich liege im Fluß und ertrinke. – Wenn wir doch wenigstens Kinder hätten. – Was hat das damit zu tun? – Es wäre nicht so schrecklich jetzt. – Wenn ich jetzt auch noch Kinder hätte, um die ich mich sorgen müßte, läge ich jetzt unter einem U-Bahn-Zug. – Nein, ich weiß, daß das nicht wahr ist. Ein Mann mit Kindern hat eine Frau, die ihn etwas bedeutet. Wenn ich Kinder hätte haben können, nur eines, einen Jungen oder ein Mädchen, nur ein einziges, würdest du jetzt nicht denken, daß du alles verloren hast. –

Hallo Sylvia. Ich war in der Nachbarschaft, drum hab ich gedacht, ich komme mal vorbei… Hallo Leo… Ich habe gehört, was passiert ist, deshalb bin ich hergekommen. Es könnte der glücklichste Tag in deinem Leben sein. Du hast einen krummen kleinen Erdnußstand verloren. Jetzt kannst du auf der Fifth Avenue aufmachen. – Ich weiß nicht, was er vorhat, Leo, aber das ist nichts für dich. Es tut mir leid, daß wir kein Geld mehr haben, aber es tut mir nicht leid, daß es mit den Wettgeschäften Schluß ist. Du hast nie auf mich gehört; hör dieses eine Mal auf mich. – Was ist dein Rat, Sylvia? – Du bist ein Gauner, und der Rat eines Gauners ist nichts wert. – Höre, Leo. Du gehst morgen in dein Geschäft, und ich werde da sein, und ich werde dafür sorgen, daß du in ein paar Monaten dieses Geschäft als reicher Mann verlassen kannst. – Laß dich nicht mit ihm ein. Du bist Geschäftsmann. – Ja. Ich bin ein Geschäftsmann mein ganzes Leben lang gewesen, aber ich weiß ehrlichgesagt immer noch nicht, was das bedeutet. – Du hattest eine Garage, du hattest ein Maklerbüro. – Was du für eine Ahnung hast. Maklerbüro! Wovon hab ich da gelebt? Von Hypothek zu Hypothek. Ich hab Kredite gestohlen wie ein Dieb. Und die Garage! Geschäft! War das ein Geschäft! Drei Cents draufgemogelt auf jede Gallone Benzin – 2 für den Chauffeur, einen für mich. Einen Penny für den einen Dieb, zwei Pennys für den anderen Dieb. Also gut, Joe ist hier. Ich werde keine Pennys mehr zu stehlen brauchen. Die großen Gauner werden für mich Dollars stehlen. – Ich hab alles für dich vorbereitet, Leo, wie ich schon sagte. Weil du mein Bruder bist. Darum bin ich hier, um dir zu sagen, daß es nicht so schlecht steht. – Nun, ich muß morgen sowieso mal zum Geschäft. – Warum? – Selbst ein Bankrotteur hat seine Bücher in Ordnung zu bringen. – Ich werde da sein, Leo, mit neuen Büchern für dich. – Also gut, laß uns essen. Und da du schon mal da bist, kannst du genausogut mitessen. – Danke, Leo, aber ich muß noch einiges erledigen. Ich seh dich morgen. (46-50)

Ich fühle mich wunderbar, Doris, glücklich entspannt. Möchten Sie nicht gerne herausfinden, wie charmant ich sein kann. Warum nicht? Möchten Sie nicht gerne mitfeiern, ganz groß, Miss Lowry? – Was feiern Sie, Mr. Morse? – Ein gutes Gewissen. – Wessen gutes Gewissen? – Nun seien Sie nicht selbstgerecht, Doris. – Irgendwie mag ich Sie nicht, instinktiv. – Ich mag mich selber nicht. Sehen Sie? Wir stimmen überein. Lassen wir uns gehen. Ich werde Ihnen Wein geben und ein Dinner und wir tanzen, und in den frühen Morgenstunden, wenn sie entspannt und müde sind, werde ich … ihnen einen Gutenachtkuß geben. – Ich glaube nicht, daß Ihnen meine Gesellschaft gefallen wird, Mr. Morse. – Natürlich nicht. Aber Ihnen wird meine Gesellschaft gefallen… Aber nun sagen Sie nicht immer Nein, wenn Sie in Wahrheit Ja sagen wollen. Sie sind wie Leo. Er wollte immer schon in die Combination, aber er wollte gezwungen werden. Genau wie Sie. Um eine moralische Überlegenheit zu bewahren, die gar nicht existiert. Ich bin sein Sündenbock. Gehen Sie mit mir aus, dann bin ich Ihrer. – Haben Sie ihn dazu gebracht? – Ich habe so getan als ob und er hat so getan als er sich zwingen läßt. Wollten Sie das wissen? – Warum tun Sie das den Leuten an? Ihm? Mir? Ich kenne Sie noch nicht einmal, mir sowas anzutun. So mit mir zu reden. Es muß in Ihnen etwas sein… – Wenn Sie anfangen wollen zu predigen, brauchen Sie eine Seifenkiste … Sie sind nicht sehr empfänglich heute. Weil Sie noch nicht wissen, was Sie von mir wollen. Aber wenn Sie morgen in mein Büro kommen wegen dem Job, versuch ich es wieder. – Sie werden mich niemals dort sehen. – Ich hab immer noch den Rubin, Doris. Du hast 35 die Woche verdient, als du bei Leo gearbeitet hast. Ich verschaff dir 100. Und ich wette mit dir um einen Riesenstrauß Rosen, daß du da sein wirst. Sie sind jetzt der Buchhalter einer großen Organisation, Mr. Bauer. – (Bauer betrachtet ihn stumm, geht zu Leo) Mr. Morse, ich muß Sie einen Augenblick sprechen. – Nun, was gibt‘s, Bauer, worum geht‘s? – Um dasselbe wie bei Doris. Ich kündige. Ich wollte Ihnen das nur sagen, damit Sie morgen jemand anderen haben. – Morgen? – Dieser Platz macht mich krank. – Du hast Augen im Kopf. Freddy, du kannst es selber sehen. Ich bin nicht mehr allein im Geschäft. – Mr. Morse, worin haben Sie mich da reingezogen? Haben Sie mich da reingezogen, ohne daß ich etwas davon wußte, ohne daß Sie etwas zu mir sagten. Haben Sie mir das angetan? Oder nicht? – Du hast angefangen in diesem Geschäft zu arbeiten, weil du das Extra-Geld gebrauchen konntest. Jetzt bekommst du eine Gehaltserhöhung. Du arbeitest für eine große Organisation statt für einen Einzelnen. Du bist Buchhalter von 13 Banken anstatt von einer. Du kommst voran. – Ich will es aber nicht. Ich bin nicht Ihr Sklave! – (Johnson) Hey, Du! – (Joe zu Leo) Was gibt es, Leo? – Er will weg. Wenn er geht, wie soll ich die Fusion machen? – Okay, Leo. Geh rein und kündige diesen anderen Grabsteinen. Ich werde mit Bauer reden. – Ich muß dir die Wahrheit sagen, Joe. Ich hab nicht die Kraft genug für diese Art von Geschäft. – Was meinst du damit, diese Art von Geschäft? Jede Organisation muß sich auf ihre Angestellten stützen können, wenn sie sie braucht. – Mr. Bauer, kommen Sie mal einen Moment her… Mr. Bauer, ich würde gerne alle Mißverständnisse ausräumen, die hier vielleicht bestehen könnten. – Nein, es gibt keine Mißverständnisse. Ich will nur weg. – Ist das fair? – Vielleicht ist das nicht fair, aber es ist was ich will. – Warum gehen Sie solche Umwege, sich selber Ärger zu bereiten? – Was meinen Sie damit? – Wir organisieren das ganze Geschäft neu und brauchen die Loyalität jedes einzelnen Mannes in diesem Augenblick. – Sie können mich nicht dazu bringe, hierzubleiben. Das können Sie nicht. Wie wollen Sie das anstellen? Was haben Sie vor? – Ich möchte mit euch allen auf gutem Fuße stehen, und ich freue mich auf die Zeit, in der wir in einer netten und entspannten Atmosphäre zusammenarbeiten können. Ich glaube nicht an Arbeitgeber, die ihren Angestellten sagen müssen „Sie haben das und das zu tun“. Ich schätze Arbeitgeber, dessen Angestellte etwas von selber tun, und zwar weil sie ihre Arbeit mögen, und weil sie ihrer Firma loyal sind. – Wenn ich jetzt hier rausgehe, wie wollen Sie mich aufhalten? Wie wollen Sie das tun, wenn ich sagen, ich will hier nicht bleiben und hinausgehe? Wie wollen Sie mich aufhalten? – (Johnson) Das Syndikat wird sie aufhalten. Es wird sie aufhalten… tot oder lebendig. – Sie sehen, Mr. Bauer, ich will Ihnen nur helfen. (55-59)

(Edna liest in einem Brief) Wie lange ist „für immer“? – Bis irgend jemand es dir wegnimmt. – Was gibt’s, Edna? – Ich konnte nicht telefoniere, darum kam ich selber her. – Telefonieren worüber? – Telefonieren wegen des Telefons. – Was ist mit dem Telefon? – Dein Freund, der Staatsanwalt Hall, hat Bens Telefon angezapft. – Nun, Ben mußte das erwarten. Hall hat ein Geschäft, und Ben Tucker ist sein Warenbestand. – Darum hat Ben mich geschickt. Das gilt nämlich auch für dich. – Ich bin Anwalt. Nach dem Gesetz stehe ich in einem treuhänderischen Verhältnis zu deinem Mann. – Wird dein Telefon auch von Hall abgehört? – Sag Ben, daß er sich keine Sorgen zu machen braucht. Abgehörtes Beweismaterial ist vor Gericht nicht zulässig. Ich werd es ihm zeigen. – Zeig es dir selbst, wenn du schon dabei bist. Ben erzählt mir, wenn du sorgfältig hinhörst, wenn du es ein paar Mal versuchst, kannst du ein kurzes Klicken hören, ein kurzes Klicken. Das kommt daher, daß jemand anders einen Hörer abnimmt. Der Mann, der zuhört… Hast du dein Telefon für Sachen benutzt, die er besser nicht hätte hören sollen? – Ich benutz es für alles. Ich stehe meinen Klienten jederzeit zur Verfügung. – Du könntest den Rest deines Lebens damit zubringen, dich an das zu erinnern versuchen, was du besser nicht gesagt hättest. – Was reitest du dauern darauf herum? Wenn das Telefon angezapft ist, ist es angezapft. – Werd nicht gleich wütend, nur weil du Angst hast. Warum probierst du es nicht selber aus? Das hat Ben jedenfalls gemacht. Das würde Ben tun. Wovor hast du soviel Angst, daß du nicht zeigen willst, daß du Angst hast? – Ich bin kein Nickel. Ich verbringe mein Leben nicht am Telefon… Hat Ben dir gesagt, daß du hierherkommen sollst, oder hast du angeboten, die Nachricht zu übermitteln? – Ich hab’s angeboten. – Weshalb bietest du dich immer an, mir schlechte Nachrichten zu überbringen? Was willst du? Worauf wartest du? – Ich warte darauf, den Mann zu sehen, der du wirklich bist. Was für ein Mann du bist. – Mach das Spiel bei deinem eigenen Mann. – Ich machs bei dir. – (küßt sie) Ist es das was du willst? Ich kann dich in meinen Armen zittern fühlen. Wenn du einen gebrochenen Mann brauchst, den du lieben kannst, brech deinen Mann. Wenn du das für deine Liebe brauchst, bin ich dir nicht nütze. – Du bist nicht stark genug und nicht schwach genug. – (61-64)

Es schien fast nicht möglich, daß Hall so rasch gehandelt hatte.
Berufen zum Staatsanwalt in Sachen Wettbüros am einen Tag, Bens Telefon angezapft am anderen Tag.
Ein sehr eifriger Mann, dieser Hall. Sehr ehrgeizig, mit vielen Überstunden, die von meinen Steuergeldern bezahlt werden.
Abgehörte Telefongespräche sind als Beweismittel vor Gericht nicht viel wert. Sie sagen einem cleveren Anwalt jedoch, wo Beweise gefunden werden können. Wie sie aussehen könnten…
Es war der erste Schritt eines langen Verfahrens gegen das Syndikat, und das Syndikat waren Ben Tucker und ich.
Wenn du reich werden willst, nimmst du die Risiken in Kauf, die damit verbunden sind; ich aber hatte ein Extra-Risiko auf mich genommen, wegen Leo, um ihm Vertrauen einzuflößen. Ich hatte mein Gesicht gezeigt heute morgen. Ich war mit Bauer rauh umgesprungen, um es leichter für Leo zu machen. Aber Leute können zum Sprechen gebracht werden.
Zu wem spricht mein Telefon?
Ein Mann kann den Rest seines Lebens damit verbringen, sich an das zu erinnern, was er nicht hätte sagen sollen. (64-64)

Er dreht sich um, so wie Lot sich umgedreht hat, und blickt auf seinen Schreibtisch. – Der glattpolierte Tisch ist ein Felsenberg in dem Raum. – Aus seiner Tasche zieht er seinen Schlüsselring, betrachtet ihn, wirft ihn in die Luft und fängt ihn auf. Die Stadt murmelt aus ihren Canyons bis hier oben herauf, überflutet das Büro mit Verkehrslärm, einigen Schiffssirenen; dies mehr im Hintergrund: dort laut und vernehmlich in dem Raum selber das Ticken der Standuhr, sehr regelmäßig wie das Schlagen eines Herzens, bevor die Angst es ergriffen hat. – Draußen, außerhalb der Fenster, ist die Stadt wie immer, mit ihrem Lärm. Er schließt das Fenster, und der Lärm ist vorüber. Er schließt auch das andere Fenster. Jetzt ist der Raum ein Stethoskop, im dem Joe das Herz dieses Raumes schlagen hört, die Standuhr. Er dreht sich um und betrachtet sie. – Die Standuhr steht in dem Raum wie ein lebendiger Mensch. – Joe nähert sich ihr, und als er näherkommt, wird ihr Ticken lauter. Er öffnet die Glastür und steckt seinen Zeigefinger hinein, bis das Pendel ihn berührt und aufhört zu schlagen. Der Raum ist plötzlich totenstill. Joe wendet sich um. – Der Schreibtisch ist ein Berg, größer jetzt, näher, immens. – Joe geh hinüber zu dem Schreibtisch und setzt sich. – Er schaut auf die Schublade. – Die Schublade enthält eine Bombe. – Er lehnt sich hinunter und öffnet die Schublade, öffnet sie wie einen Käfig, in dem eine wilde Bestie wartet. – Das Telefon wartet auf ihn. – Er nimmt es auf und stellt es vorsichtig auf den Tisch. Er starrt auf das Telefon, wie um es zu verstehen. – Er sitzt da und versteht nichts. Er nimmt den Hörer ab, führt ihn zu seinem Ohr, und das Summen des Zeichens ist sehr laut. Es tönt wie das Summen von Blut in den Ohren. – Joe wählt eine Nummer und wartet. Er wählt eine andere Nummer und wartet. Dies ist ein normales Telefon. – Joe legt den Hörer sachte auf. – Das Telefon auf dem Tisch, unverstanden. – Joe lehnt seinen Kopf ganz nahe ans Telefon, bis er nur noch ein paar Zentimeter davon entfernt ist. Er greift nach dem Hörer, nimmt ihn aber nicht auf. Er wartet. – Joes Augen sind wie schwarze Sonnen, fixiert auf das Telefon. – Er reißt plötzlich den Hörer hoch und hält ihn an sein Ohr. – Sein Ohr ist eine Höhle, und der Hörer eine schwarze Trompete. Er summt seinen normalen elektrischen Ton, vielfach verstärkt. Dann ein deutliches Klicken. Das Summen geht weiter. – Joes Gesicht ist das Porträt eines Mannes, dessen Kehle gerade durchgeschnitten wurde. Der Tod hat sich angekündigt, ist da. Er hat Angst, seinen Kopf zu bewegen, er könnte herunterfallen. Das Summen geht weiter, und Joe lehnt sich langsam in seinem Sessel zurück. – Er sitzt und wartet. Das Telefon ist verstanden. Jetzt wählt er langsam, bedächtig, eine Nummer. (Operator) Beim nächsten Zeitzeichen ist es 6 Uhr 27. Das Zeitzeichen. Joe legt den Hörer auf, stellt das Telefon sorgfältig in die Schublade zurück, schließt sie ab. – Er erhebt sich, geht zu der Standuhr. – Ich hatte einiges an Ärger von Hall erwartet. Ich hatte es erwartet, und doch war es ein Schock, herauszufinden, daß er so schnell vorgegangen war. Es war etwas, sich darüber Sorgen zu machen, und etwas, sich damit zu befassen, und etwas, sich daran zu erinnern. – Er stellt die korrekte Zeit ein und setzt das Pendel wieder in Bewegung. Das Leben kehrt in den Raum zurück. – Joe merkt, daß die normale Welt, welche die Uhr repräsentiert, für ihn für immer verloren ist. Er greift nach seinem Hut und rennt aus dem Raum. – Ich hatte für einen Moment Doris vergessen, und ich war froh, daß sie da war und auf mich wartete. Sie war jemand, mit dem man reden konnte. – Was zum Teufel tust du hier? Was willst du? – Sie haben mir gesagt, daß ich kommen soll, und ich bin gekommen. Sie haben mir gesagt, ich soll warten, und ich habe gewartet. – Ich habe dir gesagt, du sollst warten… hierherzukommen? – Was ist? Was ist dort drin geschehen? Was ist mit Ihnen geschehen? – Ich bin eingeschlafen. Ich hatte einen Traum. Ich bin in den Fahrstuhl gestiegen und ich fiel tausend Stockwerke tief, weil er gar nicht da war. – Ich wollte schon gehen, aber dann bin ich geblieben. Ich glaube, ich sollte jetzt gehen. – Laß mich nicht alleine… hier. – Wir könnten zusammen gehen. – Wir gingen die Wall Street hinunter auf die Trinity Church zu. Sie beobachtete mich von der Seite und fragte sich, was wohl dort in meinem Büro passiert sein könnte. Ich glaube, sie hatte sich entschlossen, sich in mich zu verlieben… und mir wäre es recht gewesen zu jeder anderen Zeit. Sie wäre etwas anderes gewesen als die Art von Frauen, die ich sonst kannte. Sie wollte, daß ich ihr sage, daß ich sie davon überzeuge, daß ich nicht gewußt hatte, was ich tue, daß ich das Geschäft, in dem ich war, überhaupt nicht verstand. Mir jedoch machte der Gedanke Spaß, sie davon zu überzeugen, daß ich es doch tat. (64-67)

Mitternacht. Jetzt ist es Mitternacht. Ich denke schon seit Stunden, daß es Mitternacht ist. Ich hab diese Mitternachtsgefühl… Bist du müde, Doris? Soll ich gehen? – Ich habe darauf gewartet, Mr. Morse, von Ihnen zu hören, und ich habe das Gefühl, daß Sie darauf gewartet haben, es mir zu erzählen, wann dieser Tucker aufgetaucht ist. – Weshalb sind Sie so neugierig? – Weil vom ersten Augenblick an, wo ich Sie gesehen habe, alles, was Sie machen, so falsch ist, und doch, wenn Sie sprechen, und wenn ich Sie sehe, fühle ich, ich weiß nicht wie ich es sagen soll, ich weiß es wirklich nicht, aber ich wenn Ihnen zuhöre, bin ich mir absolut nicht mehr so sicher, was ich von Ihnen denken soll. – Das ist mein großes Talent, Doris, Leuten das Gefühl zu geben, daß sie nicht wissen, was sie von mir halten sollen: sogar mir selber. – Ich verstehe nicht, wie Menschen so vieles auf einmal sein können. – Weil du es nicht bist? – Weil ich es nicht bin. – Und ich bin es. Und doch versuche ich immer, nur Einer zu sein, und den Anderen zu töten – nur gelingt es nicht, der Andere will nicht sterben. (…) – Soll ich es Ihnen bequem machen, Mr. Morse, mit einer Tasse Kaffee? – Warum nicht, Doris? – Also wann war das, Mr. Morse, als Tucker in ihr Leben kam? – Ich werde dir erzählen, wie die Konjunktur anfing, und wie ich das Geld fühlen konnte, über die ganze Stadt verstreut wie Luft, wie der Duft dieser Blumen, die ich dir geschenkt habe. Ich konnte den Geruch von Geld riechen. – Und dann kam Tucker? – Ja. Und ich bin ein Mann… Was sollte ich mit den Tuckers zu tun haben. Aber er öffnete seine Brieftasche, und ich bin Hals über Kopf hineingesprungen… Ich saß da und fühlte, wie stark ich war. Ich hatte soviel Stärke, Doris, jedenfalls dachte ich das, so viel Stärke, und dann ist es so gekommen. Ich war nicht stark genug, der Korruption zu wiederstehen, aber stark genug, mir meinen Teil zu ergattern. – Und jetzt willst du aufhören? Ist das dein Problem? – Mein Problem, Miss Lowry, ist, daß ich mich wie Mitternacht fühle und nicht weiß, was der Morgen bringen wird – außer daß für eine kurze Weile ich mich ganz gut gefühlt habe hier bei dir, mit dir zu sprechen und dich zu mögen. Du bist der einzige Mensch, mit dem ich je über sowas gesprochen habe, Doris, und ich weiß nicht einmal warum. Außer daß du heute Abend mit mir zusammenwarst, wo ich sogar mit dem Teufel gesprochen hätte… Das ist die Wahrheit, Doris. Ein Mann lügt nicht um Mitternacht. Aber jetzt rede ich mit dir, weil du Doris bist… Schau, wie schön dich das macht… – Wer bist du jetzt? Jemand, der sagt, er macht sich selber etwas vor, oder mir, daß er mich liebt? – Nicht so schnell. Das werde ich dir nicht sagen. Aber es wäre schön, dich zu küssen. Findest du das komisch? – Nein. Ich finde das nicht komisch… Fühlen Sie sich jetzt besser, Mr. Morse? – Ich fühle mich schlechter. – Dann denke ich, Sie sollten jetzt gehen. – Und niemals wiederkommen? Es kommt mir so vor, als wäre das das nächste, das sie sagen werden… Ich ziehe mein Angebot zurück, dir einen Job zu verschaffen. So sehr habe ich dich liebgewonnen. – Danke, Mr. Morse. Ich will ihn sowieso nicht. – Ich werde dieses Zimmer immer im Gedächtnis behalten. Ich werde an ihn denken als an den einzigen Ort der Ruhe in meinem ganzen Leben… und niemals zurückkommen. – Kommen Sie zurück. Bitte. Kommen Sie zurück. Ich würde es mir sehr wünschen. Aber kommen Sie zurück, Mr. Morse, wenn ich Sie lieben kann, ohne in Mr. Tuckers Tasche springen zu müssen. (75-79)

Was ist los, Ben, was geht hier vor sich? – Ich weiß, was Ficco will, aber er wird es nicht kriegen. Er kam gestern Nacht zu mir und fragte mich. Er weiß Bescheid wegen Hall, und er denkt, ein bißchen Gewaltanwendung hier und da würde uns genug Angst machen, ihn zu beteiligen. Ich habe ihn ins Gesicht gesagt, Hall oder nicht Hall, daß wenn er sich mit uns anlegen will, er sein Schießeisen braucht. – Jetzt ist nicht die Zeit dafür, Ben. Wir müssen vernünftig sein. – Ich bin vernünftig. Aber ich werde euch alle eher in der Gosse liegen sehen, und mich dazu, ehe ich auch nur einen Nickel verlieren will von dem Geld, daß ich in diese Combination investiert habe. – Ich hab nicht Leo in das Syndikat gebracht, um ihn zu ruinieren. Aber so wird es kommen. Ich spüre, daß das in der Luft liegt, und ich will ihn raushaben. Ich will ihn noch heute Nacht raushaben, Ben. Ich will, daß er ausbezahlt wird und draußen ist. – Feine Sachen schlägst du da vor. Und das, nachdem wir seine Bank zur Hauptbank gemacht haben. – Dann übernehme ich eben. Ich löse Leo aus und übernehme selber, persönlich. – Von mir aus, Joe. Aber von dem Augenblick an, wo du anfängst, unmittelbar mit den Banken zu tun zu haben, wo du mit hundert Leuten pro Tag zu tun hast, wo du dich um die Details dieses Geschäfts kümmern mußt, wirst du nicht mehr sagen können, daß du lediglich Tuckers Anwalt bist. Von dem Augenblich an wirst du Tuckers Partner sein. – Trotzdem löse ich Leo aus, Ben, noch heute Nacht. Er wollte von sich aus gehen, und ich habe ihn überredet, zu bleiben. Doch diese Art von Leben wird ihn kaputtmachen. – Es wird uns alle kaputtmachen, Joe, wenn das so weitergeht, aber mach ruhig, was du glaubst, tun zu müssen. (85-86)

Ich habe keine Zeit, mich mit dir herumzustreiten. Ich wollte dir nur sagen, wie leid mir das alles tut – aber es scheint nicht nötig zu sein. – Mir geht es ausgezeichnet. Du solltest dir besser Sorgen machen um Leo, und du solltest dir besser Sorgen machen um dich selbst. – Wenn du reich werden willst, nimmst du die Risiken in Kauf, aber das hat nichts mit dir zu tun. Ich habe dich in dem Gerichtssaal beobachtet, und… – Und was, Joe? Wenn ich jemals geglaubt habe, dich zu lieben, dann um etwas Böses und Korruptes in mir selbst zu lieben. Ich will dich weder lieben, noch dich sehen, noch dich überhaupt kennen. Und ich werde versuchen, mich nicht einmal an dich zu erinnern. – Ich hab dich nicht aufgefordert, ins Büro zu gehen. – Du hast Leo gezwungen, im Geschäft zu bleiben. – Das war sein eigener Wunsch. – Du hast ihn in Versuchung geführt. Genauso wie du versuchst, jetzt mich in Versuchung zu führen, nämlich zu vergessen, was so klar auf der Hand liegt. Du wirst sehen, Leo ist nicht wie du. Er wird daran zugrunde gehen. Du wirst ihn reich machen, wenn er schon im Grab liegt. Ich will nicht ins Grab kommen, weil ich dich liebe —- Ich habe mit Tucker besprochen, daß du heute Nacht aussteigst. Ich werde dir auszahlen, was du investiert hast. – Ich will das nicht, Joe. Das Geld, das ich in diesem verfluchten Geschäft gemacht habe, als es noch mir gehörte, ist Blutgeld. Ich will es nicht zurückhaben. Und das Geld, das Tucker mir geben will, ist ebenfalls Blutgeld, und ich will es genausowenig. – Geld hat keine Moral, Leo. – Aber ich habe gemerkt, daß ich eine habe. Ich habe gemerkt, daß ich eine habe, Joe. Und jetzt werde ich dir sagen… ich werde dir sagen, als dein älterer Bruder, der für dich geschuftet hat… ich werde dir sagen: Hör auf; hör auch du auf, denn ich werde alt, und alte Leute sterben, und dann wird niemand mehr da sein, der um dich weinen würde. (88-89)

Du dummer Hund, du! Weißt du auch, was du tust? – Laß mich in Ruhe. Weißt du, was du tust?… Willst du aus meinem Bruder einen Mörder machen, einen Schlachter? Du willst doch leben, oder? Du willst doch diese Hörnchen essen, oder? – Laß mich in Ruhe… bitte. – Ich werde dich in Ruhe lassen, du gottverdammter Idiot. Ich hab dich von der Straße geholt, und jetzt häufst du Blut auf meines Bruders Kopf. Tucker wird dich töten. Und Tucker bedeutet: Mein Bruder. Mein Bruder. – Bitte, bitte! – Sag das nicht. Ich werde dich selber töten, bevor ich zulasse, daß du meinem Bruder das Kainszeichen aufdrückst. (93-94)

Es kümmerte mich nicht, ob Leo das Geld annehmen wollte oder nicht. Ich wollte ihn aus dem Weg haben, und ich wollte ihn in Sicherheit wissen, um mein eigenes Gewissen zu beruhigen. Es war alles Gewissen, das ich noch übrighatte. – Mein Partner Wheelock hatte mich Hall in die Hände gespielt. Es war zu spät, von dem Syndikat wegzugehen, zu spät, einen Kompromiß zu schließen, zu spät zu fliehen. – Ich mußte mit Tucker zusammenstehen und für unser Geschäft kämpfen. Ich hatte nichts anderes, für das ich hätte kämpfen können. Es bedeutete rohe Gewalt bei Ficco, Rechtskriege bei Hall. Und es war vorauszusagen, was das alles kosten würde, und wie es überhaupt ausgehen würde. – Nur bei einem war ich mir sicher: Ich konnte die Spinnweben an den Wänden meines teuren Büros sehen und ein Schild mit der Aufschrift „Zu vermieten“. Ein Büro zu vermieten an einen cleveren jungen Anwalt, der in der Welt vorankommen will. – Mitternacht ist Wall Street eine Wüste, ich nehme an, weil das Geldmachen eine Tagesbeschäftigung ist. Jetzt aber war es Nacht… und ich lauschte meinen eigenen Fußstapfen und dachte an Doris. – Zwischen Mitternacht und Morgen würden die letzten Stunden sein, sie noch einmal zu sehen und mit ihr zu sprechen – eine Art letzter freier Nacht. (96)

Ich hab dir etwas Persönliches zu sagen. Ich will nicht, daß die ganze Welt weiß, was du weißt… daß Hall mir morgen früh mein Leben wegnehmen wird. – Warum sitzen wir dann hier? Wenn es so ernst ist, wenn es so schlecht steht, was tust du dann hier und betrinkst dich und redest dummes Zeug? – Ich feiere. Es ist ein Feiertag. Ein Feiertag ist, wenn du etwas feierst, was vorüber ist, was vor langer Zeit passiert ist und wo jetzt nichts mehr übrigbleibt als die Toten zu feiern. – Du redest, als seist du schon tot. – Das bin ich auch. Tot. Aus der Anwaltschaft ausgeschlossen. Erledigt. Erledigt worden. Am Ende. Kaputt. – Wann ist das passiert? – Am Tag, als ich geboren wurde. Und es tut mir leid für dich, daß ich dich da hineingezogen habe, ein Mädchen, das etwas vorweisen kann, das versucht seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aber ich war ein Mann, ein Junge, der etwas vorzuweisen hatte, der versuchte, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Laß uns tanzen. – Ich will dir gern helfen, wenn du nur einmal ernst bleiben könntest. – Ich bin ernst… Hab keine Angst. Du weißt nicht, was es heißt wirklich Angst in sich zu haben… Du weißt nicht, wie das ist, am Morgen aufzuwachen und am Abend schlafenzugehen und dein Mittagessen zu essen und die Zeitung zu lesen und die Hupen in den Straßen tönen zu hören oder die Trompeten in den Nachtklubs zu hören, und all die Zeit über, was immer du auch tust, was immer du auch hörst, was immer du auch siehst oder wo immer du auch bist – Angst zu haben; tief innen in dir Angst zu haben. Ist das das Leben? … Blast, Trompeten! Blast mein Gehirn weg… Ist das das Leben? – Nur, wenn du das daraus machst. – Ich habe es dazu gemacht. Sie haben es dazu gemacht. Siehst du die Ratte hier nicht, die Ratte, die ihr ganzes Leben gelebt hat um gejagt zu werden? Das ist es. Die Ratte, die gejagt wird. Geboren, um gejagt zu werden… Du wirst gejagt, und dann beißt du zurück. Und dann wirst du wieder gejagt. Und dann beißt du wieder zurück. Und dann wirst du wieder gejagt, und wenn du nicht zurückbeißt, dann landest du in der Ecke… Es bleibt dir gar nichts übrig, als zu beißen. Tust du das nicht, reißen sie dir die Zähne aus dem Kopf. Ist das das Leben? Siehst du, was das ist? Ist es das, was ich bin? In der Ecke, aus der Ecke heraus, beißen, jagen, beißen, jagen? – Joe, bitte, alle hören zu. – Sollen sie zuhören. Ich bin Rechtsanwalt. Ich vertrete meinen eigenen Fall. Sag mir, ist das das Leben? Beißen oder sie reißen dir die Zähne aus dem Kopf? – Du hast nie gewußt, was gut für dich war. Jeder Mensch muß wissen, was gut für ihn ist, und es dann tun, egal wie. – Ist das vielleicht nicht gut für mich? Ist nicht das, was gut ist? Hier. Nimm es. Es ist jetzt deins. Lehn es nicht ab, Doris, denn die Leute beobachten dich. Nimm dieses Geld und geh hier raus. Lehn es nicht ab, weil du denkst, es sei nicht richtig, es zu nehmen. Denn die Leute schauen auf dich und werden denken, daß es nicht richtig ist, daß ich dich kaufe oder so etwas. Was können sie dir schon bedeuten? Sie werden auf dich schauen, für einen kurzen Moment, wenn du hier rausgehst, und dann wirst du sie nie wieder in deinem Leben sehen, und du wirst reich sein… Vielleicht wäre es nicht richtig, aber nur für eine Minute. Nur für eine Minute, das ist alles… Wie lange denkst du, brauchst du, um bis zur Tür zu kommen und ihnen aus den Augen zu sein? Kein Mensch wird sich darum kümmern, wo du es herhast und was du getan hast, es zu bekommen. Alle Welt wird dir gewogen sein, weil du reich bist. Nimm es, sage ich dir. Wenn du es nimmst, werde ich dich für immer lieben. Dies ist die große Chance deines Lebens, und sie wird nie wiederkommen, solange du auch lebst. – Ich will dieses Geld nicht, Joe. Keiner will es. Ich will an dich rankommen, Joe, ich will dir helfen, dich retten, für dich selbst und für mich selbst. Irgendwie bist du wild und verrückt, gefangen in der Falle. Und irgendwie willst du nicht kämpfen, um herauszukommen. Und irgendwie liebe ich dich. – Um Himmelswillen, Doris, sag daß du mich verachtest und verabscheust. Sag, daß du mich nicht liebst… Wenn du mich liebst, wie kann ich mich auf diese Weise fallen lassen… wie kann ich sterben, mich untergehen lassen, verrecken, verschwinden als eine Luftblase, die einmal Joe Morse war… (108-111)

(Ficco) Ich glaube nicht, daß ich mit Joe Morse auskommen kann. Wofür brauchst du ihn überhaupt? … Schieße ihn ab, Ben, werd ihn los. Er wird keinen Pfifferling wert sein, wenn wir in Zukunft aufs Ganze gehen. Diese Rechtsverdreher haben schnell Schiß. Außerdem wird er sowieso nicht mit mir arbeiten wollen, wegen seinem Bruder. – Überlaß es mir. Du läßt seinen Bruder frei und ich kümmere mich um Joe. – Da gibts allerdings ein Problem, Ben… — Ich hab dich schon die ganze Nacht gesucht, Joe. Wo warst du denn? – Wo ist mein Bruder, Ben? Wo ist mein Bruder? Wohin haben sie meinen Bruder gebracht? Wo ist Ficco, wo kann ich Ficco finden? – Ich habe alles geplant, Joe. Es wird alles funktionieren… Dies hier ist Ficco. Ich hab alles mit ihm besprochen. Er schließt sich uns an und wird dafür sorgen, daß Halls Heilsarmee alles verborgen bleibt. — Jetzt hab ich aber genug von dir, Joe. Ich hab schon immer genug von dir gehabt! – Wo ist mein Bruder? – Ich hab die Nase voll von deinem Bruder, ein für alle Mal. Ich führe dieses Syndikat, und du arbeitest für mich, genauso wie Ficco. Ist das klar? … Ich werde dafür sorgen, daß Ficco deinen Bruder morgen freiläßt. Und du wirst dafür sorgen, Joe, daß dein Bruder das Maul hält, wenn Hall ihn in die Zange nimmt. Ich mach dich dafür verantwortlich. Entweder du spurst hier, Joe, oder du fliegst raus. – Leo Morse wird nicht sagen. Er ist tot. – Ich wußte nichts davon, Joe. Bleib sitzen, Joe… Was ist passiert, Ficco? – Ein Unfall. Er ist gestorben. – Warum hast du mir das nicht gesagt? – Du schienst nicht daran interessiert zu sein, bevor Joe Morse kam. Ich mach keine Geschäfte mit ihm, Ben. – Das ändert natürlich einiges. Ich sag dir was, Ficco… Du übernimmst die Banken, und Joe und ich verlassen für eine Weile die Stadt und tauchen unter. Ich will Joe nicht hierhaben, wenn die Polizei den Leichnam seines Bruders findet. Wo ist er eigentlich? – Ich hab ihn in den Fluß kippen lassen, unter der Brücke bei dem Leuchtturm. – Wir lassen ihn da, bis die Polizei ihn findet… Ich werde Joe inzwischen aus der Stadt bringen… (Telefon abgenommen) – Ich werde mich um alles kümmern, Ben. Du verläßt die Stadt wie geplant, alleine. – Ich würde nicht zu weit gehen, Ficco. – Morse hat was anderes im Kopf als das Syndikat. – Ich hab das Syndikat im Kopf, Joe, ich hab das Geschäft im Kopf. Warte nur einen Augenblick. Betrachte dir deinen neuen Partner mal aus der Nähe… Er hat nicht dein Interesse im Kopf, Ben. Er will mich töten, nicht wahr, Ficco? – Stimmt, und ich werde es tun. – Wie du Bauer hast töten lassen. – Wie Bauer. – Wie meinen Bruder. – Wie deinen Bruder, nur werd ich es diesmal selbst erledigen. Und zwar auf der Stelle. – Halt den Mund, Joe. – Laß mich das alles klarstellen, Ben. Wir haben dieses Syndikat zusammen aufgebaut, nicht wahr, stimmts? – Vorsicht, Joe. – Laß mich das klarstellen, Ben. Wir waren Partner, ist es nicht so? – Stimmt, Joe. – Und jetzt denkst du ich mache zu viel Ärger. Es interessiert dich nicht, daß Ficco meinen Bruder umgebracht hat, nicht wahr? Du hast nicht mal danach gefragt. Du hast dein Geschäft abgewickelt… Glaubst du etwa, du könntest Ficco vertrauen? Weißt du überhaupt was dein neuer Partner vorhat? Ich werd es dir sagen, Ben. Sag mir ob ich recht habe, Ficco… Zuerst, Joe Morse. Er wird heute Nacht verschwinden. Dann übernimmt Ficco die Banken alleine, während Ben Tucker die Stadt verläßt. Die Bankiers, die Kassierer, die Boten, jeder im Geschäft kennt Ficco als den Boß, den einzigen Boß. Ficco ist der Mann mit dem Schießeisen… Und er ist nicht blöd. Stell dir vor, Ben Tucker würde niemals mehr zurückkommen. Wer würde schon nach einer Buchführung fragen? Stell dir vor, Ben Tucker verschwindet, auch er, eines Tages, ist weg. – Das reicht, Morse. – Wir haben genug geredet, Joe. Du und ich hauen jetzt ab. – Ich werde in diesem Zimmer sterben, Ben. Nicht auf den Felsen am Fluß, wie mein Bruder. (115-124)

Ich verließ sie, bevor die Polizei eintraf. Alles war am Ende, mit allem war Schluß. Binnen dreier Tage war alles zu Ende gegangen und Leo war tot, tot wegen mir. (Die winzig kleine Figur eines Mannes rennt die Stufen hinunter zum Fluß, herabsteigend von den Türmen der Stadt.) Ich wollte Leo finden, ihn noch ein einziges Mal sehen, und Doris kam mit mir. Es war schon Morgen, die Morgendämmerung… Ich wollte alleine sein, wenn ich Leo finden würde, und ich dachte, Doris bliebe zurück, während ich hinunterstieg. – Ich fühlte mich sehr elend, als ich dort hinunterstieg. – Alles ging unter, und ich stieg nach unten. – Ich war alleine und stieg nach unten. – Ich hörte nicht auf, nach unten zu steigen, nach unten bis zum Ende der Welt. – Der Tag erwachte langsam, es wurde heller, und ich konnte die Brücke sehen. – Und da war all der Müll, all die alten Sachen, die die Leute weggeschmissen hatten. So ein Ort war das, ein Ort, an dem die Leute alte Sachen wegschmeißen, und ich suchte meinen Bruder dort, suchte ihn unter dem Müll und dem Dreck, und ich sah die Schrift an der Mauer. – Ich rannte den Pfad hinunter, und die Brückenbogen über mir wurden immer höher, immer höher, und weit weg waren die Felsen und der Fluß. Es sah alles so schön und ruhig dort aus, als ob es keinen Tod gebe, und kein Verbrechen, das den Tod herbeiführt. – Die Stadt war hoch über mir, hinter mir. – Und ich war alleine, suchte meinen Bruder, suchte dort bei dem Fluß, der ins Meer mündet. – Ich fand den Körper meines Bruders, wo sie ihn hingeworfen hatten, auf den Felsen am Fluß, hingeworfen wie einen alten Teppich, den keiner mehr haben will. Er war tot und ich fühlte mich genauso tot. – Denn wenn das Leben eines Mannes so lange dauern kann und auf diese Weise endet, wie Müll, dann ist etwas faul, und das muß geändert werden, so oder so, und ich wollte dazu beitragen.

(1981)

[Teil 4 der Serie „Abraham Polonsky: Widerstand in Hollywood“ mit Texten von Wolf-Eckart Bühler; Force of Evil, USA 1948, Regie: Abraham Polonsky]

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