Dienstag, 17.11.2020

Die Gegenwart des Kinematographen

Eine Revue zur Essay-Sammlung „Meine Reisen durch den Film 1895-2020“ von Harry Tomicek (Klever, Wien 2020).

„PAN! Der große Pan ist tot! Pan und das arkadische Personal“ – In diesem Katalog des Museums für Europäische Gartenkunst (Schloss Benrath, 2007) bin ich zum ersten Mal auf den Autor Harry Tomicek gestoßen und habe ich seinen bemerkenswerten Aufsatz „Pan im Film“ gelesen. Jetzt bin ich ihm wieder begegnet: in der Koda des knapp 600 Seiten starken Buchs „Meine Reisen durch den Film 1895-2020“. Wie wenige Filmbücher zieht es mich in seinen Bann. – Einleitend sei ein Exkurs eingeschaltet, der erklärt, warum mich Harry Tomiceks „Reisen“ faszinieren. In Studien über die Geschichte der neolithischen Revolution bin ich seit längerem mit Fragen der Bau- und Gartenkunst befasst. Ich versuche plastisch zu belegen, wie humane und soziale Konflikte Auskunft geben über unsere Zivilisation. Ausgangspunkt ist, dass in jeder Passion – zum Beispiel für Literatur und Film – bereits ein Schlüssel zum Verständnis solcher Konflikte liegt. Es gilt die Raum-Zeit-Vorstellungen zu dechiffrieren, die sich in den Künste materialisieren. Unter dieser Prämisse können Gärten und Häuser wie Landschaften und Skulpturen als Ausdruck einer Bewegungskunst oder Kinästhetik erfahrbar werden. Der Genfer Komparatist Jean Starobinski illustrierte die Kinästhetik exemplarisch: Seine Monographie „Montaigne en mouvement“ (Paris 1982) zeigt Montaigne in Bewegung und gleichzeitig die Bewegung in Montaigne. Im Einzelfall geht es um die Beschreibung von Konflikt-Konstellationen, von Bewegungen als Spannungen.

– Jetzt schlage ich das Buch von Harry Tomicek an einer beliebigen Stelle auf und beginne zu lesen, wie er den Titel von Robert Flahertys Film „Man of Aran“ erklärt: „Ein im Titel verkündetes Programm. Nicht ‘Men’ sondern ‘Man’. Nicht die von speziellen soziologisch beschreibbaren Tagesnöten geprägten Bewohner einer entlegenen westirischen Inselgruppe in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts. Nicht ein Dasein, das von Elektrifizierung, aufkeimendem Tourismus und Konflikten mit britischer Polizei und fernab im Luxus lebenden Großgrundbesitzern geprägt wird. Sondern: der Mensch im Zeitalter von ‘Aran’. Flahertys Aran: in dem die Gegenwart Mittelalter und das Mittelalter Neolithikum ist“.

– Ich springe in die Mitte des Essays zu dieser Passage: „Über Flahertys Filme findet Kracauer die schönen Worte, ihre eigentümliche Schönheit sei der Lohn fürs geduldige Warten darauf, dass die Dinge zu sprechen beginnen“.

– Über die „unglaubliche Geduld“ des Dokumentarfilmers heißt es dann in einer erläuternden Wendung: „Flaherty hat bis zur letzten Phase der Drehzeit weder Vorstellung noch Ahnung von der ‘zwanglos aus den Dingen sich entwickelnden Geschichte’, nach der er sucht, hat Unsummen von Material belichtet, studiert über Wochen fiebrig und verzweifelt Meilen belichteten Zelluloids, brütet verzagt, hasst das Gefilmte wie einen amorphen, übermächtig gewordenen Leviathan und findet dann doch im beharrlichen Schauen und Wiederschauen und Nochmals-Schauen Struktur und Form jenes filmischen Dramas, das den Kampf um den Boden und den Kampf mit der See in seiner Essenz vor Augen zu führen vermag“.

Ein anderer beliebiger Sprung führt mich an eine Stelle in einem Essay über „The Searchers“ von John Ford. Die Seiten lange akribisch-einfühlsame beinahe meditative Beschreibung der ersten Einstellung des Films beschließt der Autor so:
„Und: aus einer der Schründe in der Landschaft (dort, wohin die Frau zu spähen sucht: einige hundert Yards von der homestead) scheint sich der Umriss eines Reiters aus dem Kriechwacholder- und Tumbleweed-Gründen des Monument Valley hervor zu schälen. Es scheint so, ist so, ist zu vermuten, aber noch nicht restlos klar, ob es ist, wie es scheint“.

Als Abschluss meiner Zitat-Revue will ich einen gezielt gewählten Beleg (aus einem Artikel zum 80. Geburtstag von Robert Bresson, 1987) einschalten: „Bresson erfindet die Filmschrift neu. Indem er sie auf ihre Essenz zurückbringt, den Montagesprung, die antinaturalistische Großaufnahme, den Kontrapunkt des Tons, der nicht illustriert, sondern eine eigene Stimme vorantreibt… Da das Auge nur nach außen, das Ohr aber nach innen geht, ersetzt Bresson das Bild immer häufiger durch den Ton und behandelt das Auge wie ein Ohr. Er ist entfacht von Dingen, die ‘innen geschehen’…“

Der Autor-Leser Tomicek, der sich in dieser Doppelrolle im Vorwort vorgestellt hat, entziffert auf subtile Weise die Rhythmen und Schriftzüge von Filmen und entfaltet den Geist ihrer Widersprüche und Widerstände. Mit seinen Seh- und Schreibweisen zielt er auf das Wirken im Innern des Kinematographen, das sich entzieht, unsichtbar bleibt, am Ende unsichtbar bleiben muss.

So bin ich unversehens wieder in den Aufsatz „Pan im Film“ von Harry Tomicek geraten, den ich schon kannte und auf den er in der Koda des Buchs zurückgreift. Hierin skizziert er in Umrissen die Geschichte des Kinematographen:
„Das herkömmliche Kino in seiner ersten prägenden Gestalt hob 1895 mit der Vorführung der Minuten kurzen und eine statische Einstellung langen Filme von Louis Lumière an. Sie waren ungeschnitten und wurden ‘vues – Blicke’ genannt, da sie sich imstande zeigten auf frappante Art den Anblick und viel beeindruckender, die Zeitform bewegter Dinge getreu wie Blicke wiederzugeben. Der Apparat, der sie aufgenommen hatte (und sie mit Hilfe von Licht auch ins Dunkel zu projizieren vermochte) erhielt den pathetischen Namen Cinematograph: ‘Aufzeichner der Bewegung’. Die aus seiner Kapazität abgeleitete technische Kunst ‘Bewegungsaufzeichnung’ alias Kinematographie (später salopp Kino genannt) stellt sich vom Ursprung und Wesen her keineswegs als ‘Geschichtenerzählen’ dar. Die vues dokumentierten: Straßenszenen, in Bahnhöfen einrollende Züge, Arbeiter beim Verlassen der Fabrik. La nature prise sur le fait, wie Zeitgenossen schwärmten: Natur auf frischer Tat ertappt. In ‘Kinematographie’, dem alten Namen des Films spricht sich nicht seine ganze Essenz, doch der erste seiner beiden Wesenszüge aus: das der Erscheinungszeit der Körperdinge (kinema) gemäße Aufzeichnen und Niederschreiben (graphein) ihrer Bewegung (kinesis)“.

„Die Reisen durch den Film“ von Harry Tomicek führen aus der Geschichte in unsere Gegenwart und berichten aus dem Innern des Kinematographen. Sie folgen – wie Novalis es ausdrücken würde – den Spuren des Erscheinenden und verhindern, dass wir zu (algorithmischen) Formularwesen werden.

Ein (erster) Nachsatz:
Nach Schreiben dieses Artikels sieht mich beim Gang durch die Straßen in Nippes im Schaufenster eines Secondhand-Ladens ein Buch an, das ich erwerbe, obwohl ich es schon besitze: Artavazd Peleschjan, Unser Jahrhundert. Wien 2004. Zu Hause öffnet sich das Buch wie von selbst in der Koda, im Gespräch zwischen Godard und Peleschjan. Der Letztere sagt: „Das Kino stützt sich auf drei Faktoren, nämlich auf Raum, Zeit und die wirkliche Bewegung. Diese drei Elemente gibt es in der Natur, doch in der Kunst sind sie nur im Film anzutreffen. Mit ihrer Hilfe ist die geheime Bewegung der Materie zu finden. Ich bin überzeugt, dass das Kino imstande ist, gleichzeitig die Sprache der Philosophie, der Wissenschaft und der Kunst zu sprechen“.

Ein (zweiter) Nachsatz und Hinweis, der beim Durchlesen Tage später nötig erscheint. Kurt Leonhard, seines Zeichens Michaux-Übersetzer und -Herausgeber, brachte auch das Buch von Edgar Morin, Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Untersuchung. Stuttgart (Klett 1958) ins Deutsche. Ausführlich sei daraus der Schluss zitiert:
„Seit seinem Auftreten auf der Erde hat der Mensch seine inneren Bilder ‘verfremdet’, indem er sie auf Knochen, Elfenbein oder Höhlenwänden festhielt. Der Film stammt aus derselben Familie wie die Felszeichnungen von Eyzies, Altamira und Lascaux, die Kinderkritzeleien, die Fresken Michelangelos, die sakralen und profanen Darstellungen, die Mythen, Legenden und Literaturen… Aber niemals sind alle diese Vorläufer und Verwandten so sehr einverleibt worden, niemals waren sie so eng mit der natürlichen Realität verbunden. Deshalb hat man auf das Kino warten müssen, um die imaginären Vollzüge so ursprünglich und vollständig geäußert zu sehen… Schließlich sind unsere Träume zum ersten Mal vermittels der Maschine, nach ihrem Bilde, projiziert und objektiviert worden. Sie sind industriell fabriziert und kollektiv verbreitet. Sie kehren zu unserem wachen Leben zurück, um es zu formen, um uns zu lehren, wie man lebt oder nicht lebt. Wir eignen sie uns von neuem an, sozialisiert, zweckdienlich, oder sie verlieren sich in uns, wir verlieren uns in ihnen. Da sind sie: magazinierte Ektoplasmen, Astralleiber, die sich von uns als Personen nähren und von denen wir uns nähren, Seelenarchive… Man wird versuchen müssen, sie zu befragen – das heißt das Imaginäre wieder in die Realität des Menschen einzufügen“.

Köln, Rheinufer – Mitte November 2020:
Manfred Bauschulte

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