Montag, 30.08.2021

Filme der Fünfziger LVIII: Ihre große Prüfung 1954. Regie: Rudolf Jugert

Jede Zeit hat ihre eigenen Probleme mit der nachwachsenden jungen Generation; in den 1950ern gab es das Phänomen der Halbstarken, das durch Rock-Musik, Mopeds und Boogie-Woogie klassifiziert und definiert wurde. Das Kino thematisierte die Halbstarken zunächst in Good-Will-Filmen, in denen an die Vernunft der Erwachsenen wie an die Einsicht der Jugendlichen appelliert wurde. Einer der frühen Filme dieser Reihe ist Ihre große Prüfung, wobei mit „Ihre“ nicht etwa eine Gruppe von Menschen resp. Jugendlichen gemeint ist, sondern die Lehrerin Helma Krauss, die an der Schule einer ihr fremden Stadt eine Oberprima übernommen hat. Luise Ullrich hatte in den Nachkriegsfilmen die Figur der patenten, lebenspraktischen und auch erotisch nicht unerfahrenen Frau entwickelt; in Vergiss die Liebe nicht (1953), Regina Amstetten (1953) und Eine Frau von heute (1954) verkörpert sie Frauen, die sich im Leben gut ohne und gelegentlich auch gegen Männer behaupten können. Ihre große Prüfung ist zwar 1954 gedreht, das Drehbuch ist aber noch ganz dem Geist des Jahres 1950 verhaftet. Unter den Schülern der Oberprima gibt es den verwaisten Jugendlichen Bruck (Paul Bösiger), der in einem Heim wohnt und mit dem Klassenlehrer so aneinandergeraten war, dass dieser an einer Herzattacke starb. Eine Schülerin stammt, an ihrer Aussprache klar erkennbar, aus dem Osten und wohnt mit ihrer Mutter in prekären Verhältnissen. Und die Lehrerin Helma Krauss befindet sich, so der Tierarzt Dr. Clausen (Hans Söhnker), im „Paragraphengestrüpp der Zölibatsverpflichtung“ – bis 1951 durften Frauen nur dann den Lehrberuf ausüben, wenn sie unverheiratet waren.

An der Schule gibt es gravierende Spannungen; der Schüler Bruck weigert sich, den Grund der Auseinandersetzung mit dem früheren Klassenlehrer  zu offenbaren, der Lehrer Dr. Rottach (Ernst Schröder) plädiert für seine Relegation. Helma Krauss und der Schuldirektor sehen dafür aber keine juristische Handhabe. Helma Krauss wird Klassenlehrerin der Oberprima, aber die Klasse fürchtet, dass Dr. Rottach, der

Dr. Rottach (Ernst Schröder)

eigentlich damit gerechnet hatte, Klassenlehrer der Oberprima zu werden, die Schüler aus Rache durchs Abitur fallen lassen wird. Dr. Rottach ist ein intelligenter, vor Ehrgeiz schwitzender Lateinlehrer, der die Klasse schon mal aus Bosheit minutenlang das Aufstehen und Setzen üben lässt. Helma Krauss behandelt im Unterricht auch Sartre, Dr. Rottach konfisziert ein Sartre Buch bei einer Schülerin („Ich habe meine Gründe“.) Helma Krauss wird im Kollegium wegen ihrer verständnisvollen Art zunehmend angefeindet und gibt ein Versprechen ab: sollte ein Schüler ihrer Klasse das Abitur nicht bestehen, wird sie die Schule verlassen. Der Weg zur Abiturprüfung ist also wie ein Showdown, der Lehrerin geht es nun darum, das Vertrauen der Schüler zu gewinnen und sie zum Lernen zu motivieren. Das gelingt ihr, weil sie vor allem keine Scheu davor hat, soziale Klassenzugehörigkeiten zu überspringen und jugendliche Frechheiten großzügig zu thematisieren und in die Schranken zu weisen. Es geht um Übergriffigkeiten beider Seiten, der Alten wie der Jungen, und um die Bequemlichkeiten des Einrichtens in Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid.

Drei Typen der Lehrerin: die selbstbewußte Frau

Als Pin-Up

Die nachdenkliche Frau

 

Anders als in späteren Jugendfilmen spielen Kriminalität und explizite Feindschaft keine Rolle; Regisseur Jugert zeigt stattdessen eine Typologie der Kleinstadthonoratioren, die in ihrer geballten Einfalt durchaus auch gefährlich werden können. Auffällig ist das Fehlen der Kirche als sittlicher Autorität – ihr wurde in dieser Funktion schon keine Glaubwürdigkeit mehr zugetraut. Es werden neue Topoi eingeführt, die in Filmen späterer

Die Mädchen der Abiturklasse: 2. Reihe rechts: Karin Dor

Die Jungs der Abiturklasse: Vorn Wolfgang Völz und Götz George

Jahre wieder auftauchen. Das Hallenbad ist der Treffpunkt der Jugend und der alleinstehende, liberal gesinnte Tierarzt eine gute Partie für eine alleinstehende Frau. Karin Dor als Tochter des Tierarztes und Paul Bösiger als Schüler Bruck sind zwei relativ neue, junge Charaktere im deutschen Film; Rudolf Jugert hatte sich bei allen Erfolgen mit Schmachtfetzen wie Ein Herz spielt falsch (1953) einen Sinn für eine realitätsnahe und typensichere Inszenierung des Kleinstadtlebens bewahrt. Es ist noch die Zeit, da Jean Paul Sartre als Phänomen zwar diskutiert wird, aber als Abiturstoff die klassisch-romantischen Epigonen (Paul Heyse, Felix Dahn, Martin Greif) abgefragt werden. Richard Dehmel gibt mit dem Satz „Ein bißchen Güte von Mensch zu Mensch ist mehr wert als alle Liebe zur Menschheit“ den Tenor der Abituransprache des Direktors vor.
Die Prüfung ist bestanden. Es hätte schlimmer kommen können.

Schreiben Sie einen Kommentar

Sie müssen angemeldet sein, um zu kommentieren. Ein neues Benutzerkonto erhalten Sie von uns, bitte dazu eine Email mit gewünschtem Username an redaktion(at)newfilmkritik.de.


atasehir escort atasehir escort kadikoy escort kartal escort bostanci escort