Sonntag, 12.05.2024

Emigholz über Arslan

Gedanken zu Thomas Arslans Film Verbrannte Erde von Heinz Emigholz

I will not go to hell in some dusty motel.
Mick Jagger

Der Verbrecher auf der Erbse

Die Prinzessin ist ein prekäres Wesen. Solange ihre Familie noch an der Macht ist. In einer Welt, die sich zwar von selbst dreht, aber dennoch unbedingt revolutioniert werden will, ist sie stets auf der Flucht. Sie stopft sich das Korsett mit Diamanten voll. Das wird die Kugeln nur bedingt abhalten, verlängert aber ihren Todeskampf. Dann wird sie unter einer Straßenkreuzung begraben, damit man ihr Grab nicht finden kann.

Verbrecher fangen gewöhnlich klein an und arbeiten sich manchmal an die Spitze eines Staates hoch. Als Schurke versucht er diesen zu seinen Gunsten umzuformen. Wird man in eine Klasse hineingeboren, die mit Geld umzugehen versteht, beansprucht diese Karriere nicht unbedingt viel Lebenszeit. Der Umgang mit wie auch immer beschafften Summen wird einem sozusagen in die Wiege gelegt. Solange er oder seine Familie aber nicht die Macht im Staat übernommen haben, steht er in einem ähnlich prekären Verhältnis zur Gesellschaft wie die Prinzessin – als Frosch mit der Maske. Das Gefängnis droht, wenn nicht die Todesstrafe.

Fangen wir mit dem Einbrecher und seiner Stellung im Staat an. Seltsam, er stellt sich gegen die Gesellschaft, aber keiner setzt in der Logik seines Tuns mehr auf das Funktionieren der Gesellschaft, als er es tut. Er muß deren Funktionieren sogar voraussetzen, um erfolgreich agieren zu können. Es ist seine Geschäftsgrundlage. Er wird zum idiotischen Negativ, weil er das Positiv anhimmelt. Würde die Gesellschaft nicht funktionieren, würde sein Beruf keinen Sinn machen, es gäbe nichts abzuschöpfen. Ihr Verfall würde ihm den Sinn rauben. In ihrem Scheitern verlöre er seinen Verstand. Dafür gäbe es keine Fundbüros. Er könnte keine Tat mehr begehen, er würde von ihren Konsequenzen erschlagen werden. Er müßte sich selbst richten wie ein Amokläufer oder Kamikazeflieger. Und da er meistens gefaßt wird, oder an den Ort seiner Tat zurückkehrend an sich selbst zerbricht, scheint dieses Scheitern in ihm selbst angelegt zu sein. Es ist sein fester Glaube an eine funktionierende Gesellschaft, die sich berauben läßt und zu berauben ist, der ihn scheitern läßt. Zuvor aber wird er lange nicht gefaßt. Jesus würde ihm als armen Sünder verzeihen. Politiker nehmen ihn als Vollstrecker einer gerechten Verteilung gesellschaftlichen Reichtums zur Kenntnis, eventuell sogar als Wiedergutmacher. Nur Dirty Harry wartet mit dem Beil in der Hand hinter seiner Tür auf ihn.

Wir leben in reziproken Gesellschaften. Eine Gesellschaft, die auf Raub aufgebaut ist, schützt die Räuber – bewußt oder unbewußt. Der Staat bleibt bei Hinsehen oder Wegsehen von Natur aus kalt. Wie die Gesellschaft selbst kann der Verbrecher nicht über sie und sich hinausdenken. Als deren Parasit steckt ihm der Kapitalismus in den Genen, er ist bis in die Knochen reaktionär. Die Gesellschaft steht da wie ein Block, von dem man sich nähren kann. Wenn dieser Eisblock schmilzt, kann aus dem Verbrecher nur noch ein Autokrat werden, der sich selbst legitimiert. Er könnte eine Familie gründen, um dem Verfall der Gesellschaft entgegenzuwirken, einen Clan: Das wäre dann sein größtes Verbrechen. Die Trump Familie oder, für deutsche Verhältnisse, die Remmo oder Klatten Clans, sind dafür nur Beispiele.

Die Polizei kommt in Arslans Filmen nicht vor. Insbesondere nicht die erotisch angehauchten gleich- oder gemischtgeschlechtlichen Kommissars-Duos des deutschen Fernsehens, die in der Provinz an jedem Vorabend soviel Morde aufzuklären haben, daß man um den Bestand der Bevölkerung fürchten muß. Bei Arslan fährt die Polizei nur in Autos vorbei. Am Verhalten dieser Autos zeigt sich das Scheitern der Polizei. Wenn es hochkommt, sind die Vertreter einer staatlichen Exekutive bei ihm Hehler oder Anwälte, die wiederum in die Verbrechen verstrickt sind. Wir bekommen vorübergehend ein angenehmes Gefühl und ansatzweise eine Sympathie für ein Leben im Gegensatz zum Staat. Wenn der Coup gelingt, befriedigt das wie eine gewonnene Schachpartie. Ein Gefühl, das uns gleichwohl in die Irre führt. Die Parallelgesellschaft funktioniert nur so lange, wie der Staat funktioniert, und dessen Funktionieren sei dahingestellt. Nach dem Verwesen der realen Zustände und Verläufe bleibt unsere Sinnsuche ohne Happy End.

Die Undurchsichtigkeit des Verbrechers wird durch sein Verhalten transparent. Er muß das Angebot, eine Familie zu gründen, wegen der Gefährdung seiner persönlichen Sicherheit ablehnen, und damit auch den Urgrund jedes Verbrechens: die Familie. In diesem Widerspruch geht er als einsamer Wolf zugrunde. Seine Asexualität ist intendiert, Sex ist in Verbindung mit ihm witzlos. Wie die Prinzessin auf der Erbse bricht er sich einen ab. Die Familie, die sich zu weltweiten Versicherungskonzernen entwickeln konnte, die das Schwarzgeld zur gängigen Währung umformatierte, die ihre Moral jedem Individuum aufschwatzt und als Staat aus diesem Akt Steuern bezieht, gewährt seiner Existenz keine Sicherheit mehr. Ihre Verbrechen übersteigen sein Begriffsvermögen. Alleingelassen steht er da und versucht nach jedem Einbruch, seine Spuren zu verwischen, während der Staat auf seine Verbrechen stolz ist und sich feiern läßt. Du mußt dein Leben ändern, sagt sich der Verbrecher als jammernder Philosoph. Und ebenso wie jener Philosoph scheitert er an sich selbst. Was bleibt, ist die Rache, ohne sie funktioniert gar nichts mehr, eine militärische Logik bricht sich Bahn, die Zukunft gehört der Blutrache. Der Verbrecher erzeugt den Dirty Harry, beide nehmen die Rache todernst.

Die Welt des Verbrechens ist das Spiegelbild der Gesellschaft. Man spiegelt sich, durchaus lakonisch, gegenseitig zu Tode. In diesem Dilemma finden wir den einsamen Wolf, der seinen Ausweg noch nicht in der Politik gefunden hat. Er lebt je nach Einkommenslage in immer schäbigeren Hotels, fährt höchstens noch in einer teuren Limousine von Stadt zu Stadt. Den Hotelangestellten fällt sein geringes Gepäck so nicht auf. Er muß den Geschäftsmann auf Reisen mimen, der er bis in die letzte Gewalttat hinein auch ist. Ihn umgibt die Aura des Profis. Er ist Realist in dieser Welt, die seine Universität ist. Wird ein Mittäter angeschossen, muß er den Verblutenden zurücklassen. Er selbst darf nicht krank werden, weil er keine Versicherungskarte besitzt und im Gegensatz zum Nationalsozialistischen Untergrund nicht mit einer Unterstützerszene rechnen kann. Würde er selbst angeschossen werden, würde er sich wie ein Tier zum Sterben in ein Gebüsch verkriechen. Während wir ihm zusehen, denken wir, wie kann man nur so dumm sein.

Der Verbrecher muß Haken schlagen, wenn er erfolgreich sein will. Er durchdenkt fortlaufend seine Rollen und die seiner Mittäter, Rollenwechsel sind programmiert. Auch der Einsatz von Folter wird erwogen, denn er ist ein Streber. Die reziproken Handgriffe der Revolte werden erledigt. Daß Revolutionen ihre Kinder fressen, ist eine bekannte Tatsache. Daß sie trotzdem bewundernswerte Ergebnisse zeitigen, ist dagegen ein Märchen. Die Welt dreht sich auch ohne menschliches Zutun. Wir sind Staffage. Für den Verbrecher, wie für den Diktator, ist diese Einsicht schwer zu fassen und noch weniger zu ertragen. Der autokratische Erlöser will uns aus diesem trostlosen Dasein in das Reich einer aufregenden Gewalt entführen.

Der Einbrecher kundschaftet aus, wann du zuhause bist und wann nicht. Er klärt deine Alarmanlagen ab, knackt deine Schlösser, kappt dein Internet samt den möglichen Kameras, weiß, ob sich deine Nachbarn regen, kennt alle deine Verstecke, verwüstet deine Wohnung beim Aufspüren derselben, trägt Handschuhe und hinterläßt keine Spuren. Und dann Du:
Du beobachtest, ob jemand Dein Haus beobachtet und wenn ja, machst Du nachts kein Licht an. Du wartest hinter der Tür, mit einer Axt bewaffnet oder einem großen, afrikanischen Stampflöffel aus schwerem Holz. Du hörst, wie sich jemand vergeblich an dem neuen Schloß zu schaffen macht und wie jemand das dünne Holz aus der alten Eingangstür herausbricht. Dann siehst Du, wie sich ein dünner Mensch durch die schmale Öffnung in die Wohnung zwängt. Du zertrümmerst mit dem Stampfholz seinen Schädel oder hackst mit dem Beil seine Hände ab – oder gleich seinen Kopf. Sein Schreien rührt Dich nicht. Du bist gnadenlos wie gegenüber einer Motte. Und Dein Haß trägt die Geschichte weiter. Den flüchtenden Mittäter erledigst Du vor der Haustür mit einem gezielten Wurf einer Bronzeskulptur aus dem dritten Stock. Im Flur läßt Du das Blut des Toten eintrocknen und rufst die Polizei. Du bist befriedigt. Du bist Dirty Harry!

In Wirklichkeit werden die Verbrechen und Verbrecher und deren Opfer verdrängt. Das Gesellschaftsmodell, das sich im Verhältnis von Tat, Täter und Opfer widerspiegelt, wäre sonst schwer zu ertragen. Wir erleben Apathie in Aktion. Wenn der Täter den Tatort verwüstet und eben nicht zu ihm zurückkehrt, sondern nur Zeichen dafür hinterläßt, daß er einmal dort gewesen ist, so sind diese Zeichen Kennzeichen von Bewußtlosigkeit, eine naive Markierung seines Aufstands gegen das achte Gebot – oder das vierte. Der Täter erkennt sich nicht, er ist zum Spiegeldasein verdammt. Der Tatort wird abgeschirmt wie ein Kunstwerk, arte povera, nichts darf berührt werden. Alle stellen sich tot und bilden ein hyperrealistisches Ensemble. Der Erkennungsdienst ist Sache der Kriminalpolizei. Dem Opfer bleibt der existentielle Zweifel, am Staat und seinen Teilnehmern – samt seiner selbst.

Zum Glück befinden wir uns in einem Film, der seine Erkenntnisse kalt zur Schau stellt. Man wird nicht gezwungen, sich über das Verbrennen eines stupiden Gemäldes von Caspar David Friedrich zu entrüsten. Es kann einem egal bleiben, ob das Geld zwischen den überlebenden Gangstern aufgeteilt wird oder nicht. Das Weiterleben wird immer abstrakter, und das Abheben des Verbrechers zum Politiker ist zumindest imaginär unvermeidlich. In welcher Rolle befindet sich in dieser Situation der Schauspieler, der ihn nur spielt? Er könnte den Politiker wie den Verbrecher, aber auch Dirty Harry spielen, und doch auch er spürt, daß es mit seiner Aura vorbei ist. Schon als Star ist er ein Has Been, der auf der Bühne flennt, weil er einen Preis gewonnen hat. Er wird depressiv und könnte die Autobiografie seiner Blitzkarriere und seines rasanten Falls veröffentlichen. Musiker, Rennfahrer oder Fußballspieler könnten seine staatstragenden Rollen übernehmen, repräsentieren sie doch jetzt schon den größtmöglichen gesellschaftlichen Nenner gediegener Parallelgesellschaften. Wir werden sehen. Es soll bei Arslan eine Fortsetzung geben.

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