All these made audible music
Oberhausen 2012
Herzogs Grizzly Man (2005) hat, kaum überraschend, einige Memes hervorgebracht. Die Parodien heißen Chicken Man oder Crystal Man und zeigen junge Leute, die Timothy Treadwell und Herzogs dräuende deutsch akzentuierte Erzählstimme imitierend, ja, Hühner oder Kristalle vor wem auch immer beschützen.
In Herzogs fiktionalem Kurzfilm Maßnahmen gegen Fanatiker (1968) schützen verschiedene Personen „ohne Wissen der Rennleitung“ oder „auf höhere Anweisung“ die nervösen Pferde beziehungsweise nach Vertreibung von der Rennbahn Flamingos, vor Fanatikern, enthusiastischen Zuschauern oder Unwissenden. Schön improvisiert, einfach im Aufbau, in den Varianten der Szenen und Wiederholungen, mit Blackouts und Versprechern wirken diese Szenen wie Memes des 37 Jahre später entstandenen Grizzly Man und zugleich als Prophetie. Eine sich selbst bewahrheitende selbstverständlich.
Maßnahmen gegen Fanatiker wurde dieses Jahr im Oberhausener Thema „Mavericks, Mouvements, Manifestos“ gezeigt und verbreitete auf diese Weise ein angenehmes Vor und Zurück, ein Hin und Her in der Film- und Mediengeschichte auf einem Festival, das dieses Jahr „50 Jahre Oberhausener Manifest“ zu begehen hatte und so immer wieder Gebilde und Gespenster der historischen Imperative, der Generation und generation gaps, der Tradition und des Erbes parieren musste.
Das diesjährige Thema war zweigeteilt in „Mavericks, Mouvements, Manifestos“ und „Mavericks, Mouvements, Manifestos: Filme der Unterzeichner“. Während mir der Begriff der Unterzeichner in seiner ganzen Amtlichkeit im Lauf des Festivals immer unsympathischer wird – und am Ende werde ich auch keinen Film aus diesem Programm gesehen haben –, geschieht im ersten Programm eine Auflockerung über eine internationale Auffächerung und Kontextualisierung und somit eine Pluralisierung der Generationen durch internationale Wellen, Kooperativen und Zusammenschlüsse wie New American Cinema Group, dem Balász Béla Stúdió, der Eizō geijutsu no kai, des Svensk Experimentalfim Studio/Arbetsgruppen för film oder der Groupe des Trente.
Zwei Wasserfilme:
Robert Enricos La rivière du hibou (1962) ist eine Adaption von Ambrose Bierces Kurzgeschichte „An Occurence at Owl Creek Bridge“ von 1890.
Einer soll gehängt werden, an der Owl Creek Bridge, die als Galgen dient. Nach einem knappen Drittel des Films, kommt es zu der Szene, wo das Brett, auf dem der zu Hängende hoch über dem Fluss steht, gelöst wird und er stürzt. Aber er stürzt ins Wasser (d.h. der Strick ist gerissen), dumpf tönend blubbern Luftblasen an die Wasseroberfläche (d.h. er atmet noch). Tief im Wasser, geschützt von den Blicken der Soldaten, löst er seine Fesselung, zieht sich die schweren Stiefel aus, die ihn hinabsinken lassen. Als er auftaucht, um nach Luft zu schnappen, hört man erst einen Vogel, eine Gitarrensaite wird angeschlagen und zu „Living Man“ verliert sich La rivière du hibou eine Weile in den Blättern, im Dokumentarischen, im Gegenlicht, einem Spinnennetz: „I see each tree, I heed each vein, I hear each bug upon each leaf, the buzzing flies, the splashing fish, they moves around this living man.“
Dann beginnt die Flucht und der Fluss hilft dabei, Farquhar, so heißt er, taucht in ihm und versteckt sich so vor den suchenden Blicken der Soldaten, die ihn verfolgen, auch die Kugeln, die sie auf ihn abgefeuern, werden vom Wasser abgebremst. Flussabwärts lässt er sich von der stellenweise sehr heftigen Strömung treiben, nach einiger Zeit verläuft der Fluss in einer Schlucht, er hat sich ein Bett gegraben, das keine Uferwege zulässt und die Verfolger bleiben zurück. Das Wasser scheint ihm bei der Rettung beizustehen.
Bei Godards/Truffauts Une histoire d’eau (1958) hat der Fluss sein Bett verlassen. Gelegenheit zu diesem Kurzfilm gab eine Flutkatastrophe nahe Paris. Truffaut machte dort einige Aufnahmen, wusste oder wollte dann nicht weiter. Godard übernahm das Material, montierte es neu, fügte Erzählstimmen hinzu. Die Handlung ist einfach. Ein junges Mädchen (Caroline Dim) macht sich auf den Weg zur Universität nach Paris, ein junger Mann (Jean-Claude Brialy) nimmt sie mit dem Auto mit. Die Geschichte, une histoire d’eau, ist verfahrener.
Das Wasser dient hier kaum als Transportmittel. Es muss balancierend überbrückt werden. Das Auto wird von den Wassermassen verlangsamt, bleibt stecken, er schiebt, fährt rückwärts, das Paar muss aussteigen und laufen, Wege sind abgeschnitten, verändert, nicht mehr vorhanden, wo kein Wasser ist, ist Morast. Man fährt im Kreis, an dieser Stelle war man doch schon einmal, noch einmal anders von vorn. Sie hüpft, er trägt sie, beide tanzen. So verlieren sich die junge Frau und der junge Mann auch in Gedanken, machen Umwege, bilden Gedankenströme vielmehr Überflutungen von Balzac über Aragon zu Petrarca.
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Robert Enrico: La rivière du hibou (1962) 28′, 35mm, s/w, Ton
Jean-Luc Godard, François Truffaut: Une histoire d’eau (1958) 12′, 35mm, s/w, Ton
Werner Herzog: Maßnahmen gegen Fanatiker (1968) 12′, 35mm, Farbe, Ton
Programme des Themas sind auf Tour. Noch ausstehende Stationen:
22.-29. September 2012: DVD-Präsentation „Provokation der Wirklichkeit“ auf dem Message to Man Film Festival in St. Petersburg.
Vom 27. bis 30. September 2012 zeigt das Museum of Modern Art in New York vier Programme mit Filmen der Unterzeichner des Oberhausener Manifests.
Am 30. September Präsentation der DVD-Edition mit Filmen der Unterzeichner und am 2. Oktober 2012 Filmprogramm im Coolidge-Theatre in Boston.
Buch: Ralph Eue, Lars Henrik Gass (Hg.): Provokation der Wirklichkeit. Das Oberhausener Manifest und die Folgen, München 2012.
DVD: Provokation der Wirklichkeit. Die ›Oberhausener‹. 2012.