Einträge von marxelinho

Dienstag, 21.02.2006

Tal der Gedärme

Interessant, wie der FAZ bei dem türkischen Film „Tal der Wölfe“ beim Schauen die Phantasie durchgeht. Heute schreibt Heinrich Wefing von „Gedärmen“, die ein jüdischer Arzt muslimischen Gefangenen „bei lebendigem Leib“ herausschneidet, und von sadistischen Christen, „die wahllos Kinder ermorden“. Das ist pure Rhetorik, der Film ist da in jeder Einstellung präziser, weil er tatsächlich ein Projekt hat – allerdings nicht das, die muslimischen Horden ideologisch aufzurüsten. Die entscheidende Differenz, die „Tal der Wölfe“ verhandelt, ist nicht die zwischen „uns“ und „denen“, sondern die zwischen Religion und Nation. Der türkische Nationalismus bricht sich am Islam eines Scheichs, und erst, nachdem der amerikanische Zivilist (!) Sam Marshall den gewaltlosen Prediger samt Minarett zusammenschießt, kommt der türkische Nationalagent zu seinem kruden Racheakt. „Tal der Wölfe“ bezieht sich in vielen Szenen überdeutlich auf faktische Situationen, versucht gleichzeitig aber, islamistische Gewalt ausdrücklich rückgängig zu machen (ein Stellvertreter von Daniel Pearl wird im letzten Moment gerettet), nur um dann als „ultima ratio“ die Tötung des Peinigers Sam Marshall durch einen türkischen Helden zuzulassen. Klar ist das kein globalökumenisches Manifest (dazu ist der Film aber auch zu konkret an den Faktizitäten des Irakkriegs und des „war on terror“ dran), aber man muss schon eine besondere Agenda beim Schauen haben, um nicht zu sehen, daß „Tal der Wölfe“ nicht nur eindimensional agitiert, sondern einige von den wesentlichen „orientalischen“ Positionen in der gegenwärtigen Geopolitik miteinander verhandelt. Die FAZ liest dies kontrafaktisch als Aufruf zum Religionskrieg, und spricht de facto von Überfremdungsängsten, weil ein kommerzielles Werk aus einer Kultur, aus der ein solches nicht vorgesehen ist, in einem Multiplexx in Neukölln läuft, in dem die Leute zu „Tal der Wölfe“ genauso Popcorn essen wie zu „Aeonflux“.

Sonntag, 27.03.2005

Demokratie der einfachen Herzen

Der lesenswerte amerikanische Kritiker und Essayist Dave Hickey (Air Guitar) fiel mir ein, als wir neulich ASPEN sahen. Frederick Wiseman filmt in dem Nobelskiort in Colorado eine Gruppe diskutierender, weißer, bürgerlicher Amerikaner, Männer und Frauen. Sie sind der materiellen Sorgen enthoben, kann man annehmen. Sie tragen Skipullover und groteske Brillen. Sie haben Zeit, sich mit einem Text von Flaubert zu beschäftigen, dessen Titel nicht ausdrücklich genannt wird – es handelt sich um UN COEUR SIMPLE. Sie fragen sich, was diese Erzählung von einer Bediensteten, die immer für andere da ist und einem Papagei namens LOULOU das Gegrüßet seist du Maria beibringt, für sie bedeuten könnte. Aber ihre Fragen bleiben akademisch, lesezirkelnd, unbeteiligt. Könnte Félicité, so der Name der Frau, auch ein Mann sein – ist also ihr Geschlecht nicht bestimmend für sie? Woran könnte man das ermessen, fragt ein Mann – man müßte wissen, was „a generic woman“ ist. Da müssen alle lachen. Sie fragen sich vor allem, ob Félicité auf eine bescheidene Weise glücklich ist – glücklich vielleicht wie ein Wurm, „that is stepped upon over and over again and dies lonely in bed“ – Lachen in der Gruppe, großes Lachen im Kino. Selten hat man im Kino die intellektuelle Armut einer bestimmten beflissenen, aber traditionslosen amerikanischen Klasse klarer gesehen. Hickey, für den UN COEUR SIMPLE eine kleine Offenbarung war, schreibt: „What Flaubert proposes (…) is just democracy: a society of the imperfect and incomplete, whose citizens routinely discuss, disdain, hire, vote for, and invest in a wide variety of parrots to represent their desires in various fields of discourse.“ Für die Bürger von Aspen ist der Text der Papagei – sie bringen ihn nicht zum Sprechen, sondern zum Schweigen. Erst Wiseman macht daraus eine Demokratie.

Marxelinho

Samstag, 26.02.2005

Buddy Move

Ein Leserbrief an den New Yorker, abgedruckt im Jubiläumsheft zum 80. Jahrestag der Gründung des Magazins (Ausgabe February 14 + 21, 2005): „I read David Denby’s piece on Ben Stiller with great interest (The Current Cinema, January 24th + 31st). Not because it was good or fair toward my friend but exactly because it wasn’t. I’ve acted in two hundred and thirty-seven buddy movies and, with the experience, I’ve developed an almost preternatural feel for the beats that any good buddy must have. And maybe the most crucial audience-rewarding beat is where one buddy comes to the aid of the other guy to defeat a villain. Or bully. Or jerk. Someone the audience can really root against. And in Denby I realized excitedly that I had hit the trifecta. How could an audience not be dying for a real ,Billy Jack‘ moment of reckoning for Denby after he dismisses or diminishes or just plain insults practically everything Stiller has ever worked on? And not letting it rest there, in true bully fashion Denby moves on to take some shots at the way Ben looks and even his Jewishness, describing him as the ,latest, and crudest, of the urban Jewish male on the make‘. The audience is practically howling for blood! I really wish I could deliver for them – but that’s Jackie Chan’s role. Owen Wilson Dallas, Texas.“

Marxelinho

Samstag, 05.02.2005

Objektwahl

Ein Lacher in einem Film von Raymond Depardon, das kommt nicht oft vor. In Profils paysans II nun diese Stelle: Die 87jährige Bäuerin geht spazieren. Ihre Hände zittern stark, sie macht kleine Schritte, die Kamera bleibt halbnah auf Distanz. Eine Nachbarin tritt ins Bild und begreift die Situation. „Filmen die mich?“ Bäuerin: „Oui.“ Nachbarin: „Mais pourquoi faire?“ Bäuerin: „Parceque vous êtes là.“ Vielleicht der beste Lumière-Witz, im Moment seiner Entstehung.

marxelinho


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