Einträge von Michael Girke

Donnerstag, 12.03.2015

Ich beneide jeden, der Zeit hat, etwas wie ein Buch fertig zu machen, sagte André Breton

Hans Wollschläger (1935 – 2007), Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker; Autor auch für Petra und Uwe Nettelbecks »Die Republik«. Dieser Tage jährt sich sein Geburtstag zum 80sten Mal. Nicht unbedingt ein cinephiles Ereignis, des Erwähnens dennoch wert.
Typischer Wollschläger-Gedanke: »Es ist das ohnehin ein sehr weites Feld, die Frage, ob nicht die ganz schlichte Liebe zu einem Gegenstand ein außerordentlich wichtiges Erkenntnisinstrument ist, das ermöglicht, Dinge zu sehen, die der mehr mechanistischen Anwendung von vorgegebenen Interpretationsmustern verschlossen bleiben.«
»The dark and bloody grounds« – Titel einer grandios erzählten Amerikareise in Ws Karl-May-Biographie. Er wollte Mays (Spät-)Werk, welches er als Leser »schlicht liebte«, als das eines großen Schriftstellers rehabilitiert und etabliert wissen; gab deswegen etliche von dessen Texten erstmals vollständig heraus. Der notorisch gekürzte, verstümmelte oder auf Deutsches Wesen getrimmte May sollte endlich aus unseren Köpfen.
Monika Wollschläger, Ws Frau und Herausgeberin, sagt: Er lebte von seinen Übersetzungen ins Deutsche (James Joyce etc.). Eine Arbeit, die ihm, stets beklagt, Kraft und vor allem Zeit für Eigenes raubte (für das es kaum einmal ausreichend Geld gab). Eine Wunde, die sich nie schloss. Dafür ist dies Eigene aber ganz erstaunlich umfangreich und vielschichtig geraten.
Zumal auch angesichts Ws unausgesprochenem, jederzeit verwirklichten Credo: Jeder Satz, ob er nun Journalistischem, einer Rezension, einem Essay oder Roman zugedacht ist, verlangt den ganzen Schriftsteller, all seine Kunstfertigkeit und Passion. Eine literarische Hierarchie mit dem Roman in der Königsposition, wie sie heute (auch und gerade im sog. Literaturbetrieb) weithin gepflegt wird – für W unhaltbar, ein Treppenwitz. Von ihm verfasste Kritik (siehe »Von Sternen und Schnuppen«): nicht gewissen- und bewusstlos dahin geschluderter Service und Freizeit Tipp, schon gar keine sich selbst hochleben lassende Besserwisserei, sondern, ja, sowas gibt es: schöne Literatur, die sich erhellend neben andere schöne Literatur stellt.
Einige Abschnitte Ws, dachte ich vor langer Zeit beim allerersten Lesen, sind, na ja, ganz schön geschraubt. Zugleich ließ das Geschriebene nicht los. Und schließlich riss die Eleganz und Feinnervigkeit von Ws weitgespannten Satzperioden mich fort. Wo man ihn lesend anlangt? Nach dem Ausschreiten größerer Weltteile stets auch bei sich, bei eigenen Einstellungen, die, man vertue sich da ja nicht, die Gesellschaft mitformen, und die W radikal umzupflügen, durchzuarbeiten anregt (man lese etwa »Tiere sehen Dich an«).
Seine Kindheit und Jugend verbrachte W in Herford; verwandelte auch Etliches an diesem Ort (der auch meiner ist) Erlebtes in Poesie. Erinnerungen an W in Herford: keine, nirgends.

Mittwoch, 05.02.2014

Über den neuen Film von Bernd Schoch

Bernd Schochs neuen Film NATIONALPARK treibt Neugier an, Neugier darauf, was die alte, legenden- und emotionsumrankte Landschaft des Schwarzwaldes heute ausmacht. Eine Erkundung an deren Beginn sommerliche Stimmung und laubgrünes Leuchten stehen. Doch dabei bleibt es nicht. Bald brüllen Motoren, zeigt sich Militärisches. Nur: die Ursachen dieser Geschehnisse verbirgt jeweils das Dickicht. Wenn das Heimat ist, dann eine, die so recht keinen Halt bieten will, keinen Überblick zulässt.
Doch zeigt NATIONALPARK nicht einfach einen Wald, der Film weiß vielmehr auch dessen Reichtum an Tönen und Farben zu vergegenwärtigen. Man sieht, wie, kaum merklich, Licht auf Baumstämmen schimmert, oder ein von einem Windhauch gestreicheltes Spinnennetz. Am Wegrand gefundene Momente, unscheinbar, leise redend – Waldheimlichkeiten, die auf der Kinoleinwand zum eindrucksvollen Erlebnis werden. Später dann wird dieser Wald noch einmal im Winter durchmessen: ganz andere Farben, anders geht der Atem. Nichts ist jemals dasselbe.
Aus immer neuen assoziativen Gängen entwickelt Bernd Schoch eine eigene Poetik. Man erlebt, wie Faszination und Befremdung einander ins Gehege kommen, wohnt der Suche nach einer Sprache für eine so eigentümliche wie facettenreiche deutsche Landschaft bei. Der Wald als Labyrinth. »Alles, was unbegreiflich ist, lässt nicht ab, zu sein.«

Montag, 20.01.2014

Ein Bild, das mir nachgeht

Bielefeld im November. Grauer Tag, der das Miteinander färbt. Selbst die Grüppchen Jugendlicher, sonst oft Aufmerksamkeit heischend, schleichen still durch die Fußgängerzone. An Fassaden, Asphaltflächen, Kleidungsstücken, Gesichtern treten Züge zutage, die man nicht wahrhaben mag.
Den Rest des Tages in einem Buch zu schweben lockt mehr als dieser Aufenthalt in der Stadt, die eigentlich auch ein Buch ist.
Sofort nachdem meine Angelegenheiten erledigt sind zur Bahn, die mich nach Hause bringen soll, vorbei an dem öffentlichen Gebäude, dessen Form einem in starkem Seegang schwankenden Schiff nachempfunden ist. Und da geschieht es, in der Menge zeichnet sich eine Gestalt ab, Umrisse treten langsam aus der Unschärfe, sind schließlich identifizierbar. Jemand aus meiner Vergangenheit, ein ferner Bekannter. Wegkreuzungen hier und dort, in der Universität, auf Festen, in Küchen gemeinsamer Freunde. Viele ähnliche Interessen, ab und an Fragen. Worauf man aus sei, wo gerade stehe. Er voller Pläne, Bücher schreiben, Kultur machen. Ich erinnere mich an immer wilder anmutende Erzählungen: er arbeite einige Monate auf Großbaustellen in Afrika, um sich mit dem Verdienten Kulturprojekten widmen zu können. Dann lange nichts.
Und jetzt ein Schatten, das Auge glänzt nicht mehr, trägt Plastiktüte mit Dosenbier. Er sieht mich an und sieht mich nicht. Vielleicht doch. Nur: Woran anknüpfen und wozu? Um in Gräben zu blicken, die sich vor uns auftun? Verschwindet zwischen Häusern. Es kann kein Bleiben geben.
Die Begegnung ist nun ein Bild, das mich seither nicht loslässt, immer wieder steigt es auf, ängstigt. Warum? Vielleicht weil dieses Möglichkeiten aufzeigt, die weit weg scheinen, aber ganz nahe sind, vielleicht, weil Bilder nicht sofort erkennbare Spiegel oder verstoßene Einblicke sind.

Donnerstag, 16.01.2014

Eine Notiz zu Siegfried Kracauer

»Verzweiflung als Startposition« lautet die Überschrift zu einem Portrait von K. Und auch Christian Linder stellt in einem Radiofeature das Denken von K. in tiefe biografische Schatten. Es ist natürlich etwas dran. Wenn ich an K. denke, fällt mir häufig ein Wort ein, dessen Bedeutung mir erst spät aufging. Er schreibt es nach dem Besuch eines Zirkus. Von Clowns, von Artisten und Budenzauber ist die Rede.
K. verfasst diesen Text während der Inflationszeit 1923, in Deutschland verarmen Millionen Menschen, hungern elend. Auch K. erlebt harte Zeiten, bekommt dann aber nach langem Warten eine Stelle als Festangestellter bei der »Frankfurter Zeitung« angeboten. Aus dem Gröbsten raus, aber viel Pflichtarbeit eines Lokalredakteurs.
Er ist, als er über das Zirkus-Erlebnis schreibt, 34 Jahre alt, ein Erwachsener, der ein soll man sagen: kindliches Vermögen besitzt, sich von geringfügigsten Dingen ergreifen zu lassen, angerührt zu sein; diese Freude und Rührung führt das Schreibgerät und überträgt sich auf den Leser. Ich weiß nicht, ob es sich um ein Geschehen handelt, dass K. bewusst ist. Ihn selbst betreffende Äußerungen zu diesem Thema gibt es, soweit ich weiß, nicht von ihm. Aber da ist etwas, das ihn offenbar belebt oder sogar lebendig macht und daher immer wieder gesucht wird, etwa wenn er späterhin sehr bewegende Texte über den Clown Grock oder über Filme von Charlie Chaplin schreibt.
In dem weitgespannten Werk dieses beeindruckend intelligenten Mannes geht es, so denke ich, stets auch darum, solche vermeintlich kleinen menschlichen Dinge als etwas ebenso Wichtiges (eigentlich sogar als noch viel Wichtigeres) zu erkennen, wie es die imposanten Gedanken oder Denkgebäude sind, eine Achtung dafür zu bewahren. Mann soll, gerade in harten Zeiten, wenn wir leiden, sehr aufpassen, dieses Vermögen nicht zu verlieren. Es macht einen Menschen aus, ob er es bewahren kann oder nicht.

Mittwoch, 19.05.2004

Wenn man Stimmung nicht von Autobiographischem handeln lässt, ist es ein leerer Begriff

Ein Zitat:
„Es ist unsinnig, eine vorgeformte Mythologie, fertige Vorstellungen von den Dingen zu haben und das abzumalen statt der Wirklichkeit, Einbildungen statt dieser Erde.
Die falschen Maler sehen nicht diesen Baum, Ihr Gesicht, diesen Hund, sondern den Baum, das Gesicht, den Hund. Sie sehen nichts.
Nichts ist jemals dasselbe.
Ihnen schwebt immer ein eine Art feststehender, nebelhafter Typus, den sie einer den anderen weitergeben zwischen ihren Augen – haben sie denn Augen? – und ihrem Modell.
Es ist wie mit den Leuten, die sich für anständig halten, weil sie dem Gesetz gehorchen. Der anständige Mensch hat kein Gesetzbuch im Blut.“

PAUL CÉZANNE, „Gespräche mit Gasquet“.
Zitate entnommen aus „Cézanne“ von Jean Marie Straub/Danielle Huillet (1989).


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