Einträge von Rainer Knepperges

Dienstag, 06.12.2022

Vierundzwanzig (6)


Hollywood Story (1951 William Castle)

O du wunderbarer William Castle!


Hollywood Story (1951 William Castle)

Ohne Frage ist diese Rekonstruktion eines Mordschauplatzes inspiriert vom Lebenswerk der Frances Glessner Lee. Ihre lehrreichen Puppenstuben zum Studium unerklärter Tode sind zu bestaunen auf flashbaK.


Hollywood Story (1951 William Castle)

Der Drehbuchautor Vincent St. Clair (Henry Hull) ist der Meinung, eine gute Zeichnung mache das geschriebene Wort überflüssig.

Montag, 05.12.2022

Vierundzwanzig (5)


Assignment Paris (1952 Robert Parrish)

Gesichter werden gerahmt von Haaren, Halsketten, Helmen und Hüten, von Kappen, Kapuzen, Krägen und Kränzen, von Schals, Schirmen, Schleiern und Sombreros.

Runde Rahmen vereinfachen, sie betonen die Bedeutung des Umrahmten. Als Medaillon wird es am Herz getragen, es steht auf dem Kaminsims oder Schreibtisch. Von ihm geht etwas Heiliges und „eine gewisse Süße“ aus. (Klaus Wyborny: „The Night of the Hunter – Hochzeitsnacht“) ***


Canaris (1954 Alfred Weidenmann), Barbara Rütting

Wenn aber die Aufmerksamkeit, die einem Menschen gewidmet wird, ganz besonders groß ist, dann ist zu fürchten, dass sein Wohl nicht im Mittelpunkt des Interesses steht.

Scheinbar handfest, wie eine hübsche Münze, die oben auf dem Papiergeld liegt, so hebt sich das runde Bild vom Rechteck ab. Wyborny stellt die Frage, warum „das leicht herstellbare Papiergeld die Rechteckform erhalten hat und große Geldbeträge beschreibt. Warum werden nicht die großen Beträge durch Münzen repräsentiert?
Das Rechteck – der Schein der Vernunft – stiftet Vertrauen.
Das Rundbild – der Anschein von Zuneigung – gefällt.



Es geschah am hellichten Tag (1958 Ladislao Vajda)

Der weiße Kreis um ihren Kopf ähnelt einem Heiligenschein. Das Mädchen wurde ermordet. Um den Mörder zu fangen, soll ein ähnliches Mädchen als Köder verwendet werden. Indem er so vorgeht, wird der Kommissar (Heinz Rühmann) sogar sich selbst unheimlich.


Arabesque (1966 Stanley Donen)

Kamera: Christopher Challis. Die Verbindungslinie von Powell & Pressburger zu Stanley Donen. (Von Gone to Earth zu Two For the Road) Und von dort zu Top Secret und den Zucker-Brüdern.


The Quiller Memorandum (1966 Michael Anderson)

Michael Andersons Kameramann war Erwin Hillier, dessen Filmografie von Powell & Pressburger zu Ray Harryhausen führt (Von Canterbury Tale und I Know Where I’m Going zu The Valley of Gwangi), auch von Lance Comforts Great Day zu Mackendricks Sammy Going South, und von Bakers October Man zu Endfields Sands of the Kalahari.

Es gibt auch eine Verbindung zwischen Arabesque und Quiller Memorandum, beide Filme haben den selben Cutter, Frederick Wilson. Wer also mit Verstand auf diese vielen Linien schaut, wird eines ganz gewiss nicht übersehen können: Alles zusammen ist – ein Knäuel. Kein Muster, kein Plan. Die Filmgeschichte ist ein Knäuel. Das Universum, sagt man, sei auch eins. Oder war es ein Korb? Wo säßen dann unsere Götter? Wo wir?

„Wir sind alle so eitel, dass wir entweder bewundert oder verachtet werden wollen. Dabei vergessen wir, dass das verbreitetste Gefühl das Desinteresse ist.“ (La Terrazza / 1980 Ettore Scola)

Sonntag, 04.12.2022

Vierundzwanzig (4)

Jules Renard: „Es muß gesagt werden: Die Arbeit hinterläßt eine etwas trügerische Zufriedenheit. Mit der Faulheit verbindet sich ein gewisses Beunruhigtsein, das nicht gewöhnlich ist und dem der Geist womöglich seine erlesensten Einfälle verdankt.“

Agatha Christie: „Ich glaube nicht, daß Not erfinderisch macht – meiner Meinung nach gehen Erfindungen aus dem Müßiggang hervor, wenn nicht sogar aus großer Faulheit. Das Bestreben, sich Arbeit zu ersparen – das ist das große Geheimnis.“

Samstag, 03.12.2022

Vierundzwanzig (3)


Tokyo Drifter (1966 Seijun Suzuki)

„Krimis sind Märchen zum Einschlafen. Es ist interessant, dass jeder einen Mord erzählt bekommen will, bevor er schlafen geht.“ (Zbynek Brynych)

„Da im Traume die Reflexerregbarkeit sehr gesteigert, das Gewissen aber wegen der trägen Assoziation sehr geschwächt ist, so ist der Träumende fast eines jeden Verbrechens fähig, und kann im Stadium des Erwachens die ärgsten Qualen durchkosten. Wer solche Erlebnisse auf sich wirken lässt, wird…” – – – ja, der wird wohl nicht unbedingt darauf kommen, welche Haltung Ernst Mach damit begründet: Die Ablehnung der Todesstrafe
(In: “Die Analyse der Empfindungen “, 1900).

Freitag, 02.12.2022

Vierundzwanzig (2)


Odd Man Out (1947 Carol Reed)

Alles ist Wasser, sagte schon Thales. Das war der erste Schritt in Richtung gleicher Rechte aller Menschen, sagt Fritz Siemsen. Weil alle aus Wasser bestehen.

Die menschliche Natur ist überall dieselbe, sagt Miss Marple, in „Das Geheimnis der Goldmine“.

„From Francis of Assisi
to the fans of AC/DC
We all shall live again,“
sangen die Felice Brothers im Kölner Luxor im Frühling.

Donnerstag, 01.12.2022

Vierundzwanzig (1)


Les croix de bois (1931 Raymond Bernard)

Das Kino mag Uhren und Riesenräder,
es liebt das Roulette und das Karussell.

„And the Earth — they tell me —
On it’s axis turned!
Wonderful Rotation!
By but twelve performed!“
(Emily Dickinson: „Frequently the woods are pink“, 1858)

Mit den Monden will der Kalender nicht glatt aufgehen, aber zwölf Monate sind ein Jahr. Mit 12 Halbtönen kommen Musiker zurecht. Zwei Dutzend Stunden sind ein Tag. Dass 24 Bilder pro Sekunde durch den Projektor sausen, erschien deshalb als wär’s naturgegeben, das Gegenteil von Zufall. Hat der Adventskalender doch genau so viele Türchen.


Johnny Doesn’t Live Here Anymore (1944 Joe May)

Ein Gremlin will die Uhr daran hindern, Mitternacht zu schlagen – im letzten Film von Joe May.
Der große produktive Unbekannte hat 1914 (im gleichen Jahr wie Walsh und DeMille) mit dem Filmemachen begonnen. Sein House of the Seven Gables (1940), eine schmerzliche Skizze des Alterns, vermittelt den Schock, wie schnell die Lebenszeit vergeht. Vollkommen anders, wild und ausgelassen ist Mays Film Nr.70: Und das ist die Hauptsache!? (1931) Ein Karnevalsfilm, der den Karneval versteht. Ursula Grabley singt darin: „Nur meine Leidenschaft, die macht mich so beliebt!“


Isle of the Dead (1945 Mark Robson)

Die Toteninsel. Zu weit entfernt von jeder Gewissheit. Es werden nicht die Augen, sondern der Atem um Auskunft ersucht. Keine Antwort ist auch eine Antwort, so heißt es. Aber das stimmt nicht.
Isle of the Dead ist ein Kriegsfilm, zuerst, dann ein Kunstfilm: mit einer Kahnfahrt hinein in Böcklins Gemälde. Von da an ein Seuchenfilm, ein komplizierter Film übers Händewaschen, über Ordnung und Aberglauben und den Wind, der mit dem Wetterwechsel kommt. Eine Val-Lewton-Produktion und, zuletzt, eine Lektion, wie unbeherrscht die Furcht der Menschen voreinander ist.
Erst beim dritten Sehen überfiel mich die besondere Angst dieses Films, in einem kurzen finsteren Felsengang, dieses fürchterliche Innehalten: Was, wenn der Tod seine Arbeit nur halb erledigt?


Black Castle (1952 Nathan Juran)

Der Scheintod dient als Fluchtweg aus der Gefangenschaft, in Black Castle. Doch die Absicht bleibt nicht lang verborgen. Der Schein droht wahr zu werden.

Bei Scarfolk findet man unter (gefälschten) Logos, Plakaten und Produkten der 70er Jahre auch ein Spielzeug für neugierige Kinder. Mit kleinen Spiegeln sollen sie leicht feststellen können, ob die Eltern noch atmen. Scarfolk ist makabre Hauntology, also „nostalgia for lost futures“ (Derrida).


Smultronstället (1957 Ingmar Bergman)

Der berühmte Traum aus Bergmans Wilden Erdbeeren. Zuerst der Uhrenvergleich. Beide ohne Zeiger! Dann der sich öffnende Sarg und das Erschrecken vor dem Untoten, dem Doppelgänger des Träumenden.


Smultronstället (1957 Ingmar Bergman)

Und später im Film gibt es dann wirklich diese Uhr ohne Zeiger.

Bergman! Ein Ausrufezeichen gebührt seinem Namen. Ein prächtiges Fragezeichen ziert sein Schaffen: Wie hat er diese Cocktails gemixt – Selbstgeißelung mit Frühlingsgefühlen gemischt – WIE zum Teufel?


Le Chien (1955 Georges Franju)

Eine Iris-Aufblende auf weißem Grund!

Es heißt, der Tod sei Teil des Lebens. Zwar mag das eigene Ende als Gedanke inspirieren. Was der Existenzialismus aber übersieht: Die Hölle, das ist das Sterben der anderen.


Slightly Scarlet (1956 Alan Dwan)

„Der Intellekt schläft oft nur teilweise. Man spricht im Traume sehr vernünftig mit längst verstorbenen Personen, erinnert sich aber nicht ihres Todes. (…)
Mir träumte sehr lebhaft von einer Mühle. Das Wasser floss in einem geneigten Kanal von einer Mühle herab und hart daneben in einem eben solchen Kanal zur Mühle hinauf. Ich war dadurch gar nicht beunruhigt.“
(Ernst Mach: “Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen“, 1900)

Was hinabfließt und auch herauf, das ist das Blut.
Was nur eine Richtung kennt, das nennt man Zeit.


Vynález zkázy – Invention for Destruction (1958 – Karel Zeman)

Irmgard Keun (in ihrem eher unbeachteten, aber wunderbaren „Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen“), 1950: „Auf die Ruinen war ich seit langem vorbereitet gewesen. Ihr Anblick hatte mich nicht so erschüttert, wie von mir verlangt wurde. Mein Gefühl war betäubt, und ich lebte wie im Traum.
Ich hatte den Eindruck, als seien die Damen stolz auf die Ruinen. So, wie manche Frauen stolz sind, wenn sie eine lebensgefährliche Operation durchgemacht haben. Sie mögen es nicht, wenn ihnen eine Rivalin des Leidens von einer noch gefährlicheren Operation erzählt. Einer ihrer markantesten Trümpfe besteht in den Worten: ‘Die Ärzte hatten mich bereits aufgegeben.’ So legen die Einwohner verschiedener deutscher Städte Wert darauf, daß ihre Stadt als die am meisten zerstörte gilt.“


Smyk (1960 Zbynek Brynych)

Eine Uhr, deren Minutenzeiger von 11:00 zu 11:01 die volle Stunde unumkehrbar überschreitet.

Brynych montiert daran einen…

… Rummelplatz-Fallschirm, der sich unter einem Feuerwerkshimmel langsam herabsenkt.

Wahrzunehmen, dass etwas nicht aufzuhalten ist, und der Schauder, der die Unaufhaltsamkeit begleitet, das sind elementarste Reize des Kinodramas.


Smyk (1960 Zbynek Brynych)

In einer anderen Bar in Smyk sind mit einem groben Strick die Zeiger einer Uhr aneinander gefesselt und ganz so, als ob dieser Zaubertrick gelänge, steht in den Blicken der Nachtclubgäste die Zeit tatsächlich still. Die Welt verharrt.


The Innocents (1961 Jack Clayton)

In den tausend rund-gerahmten Gesichtern, die durch die Filmgeschichte geistern, ist das Unaufhaltsame nur vorläufig gefangen, nur halbwegs aufgehalten. Oft hat das Glas schon einen Sprung.


L’orribile segreto del Dr. Hichcock (1962 Riccardo Freda)

Möglich: Das pietätvolle Schweigen, mit dem professionelle Filmbetrachter auf den direkten Blick (nicht) reagieren, hat seine Gründe in der elementaren Angst vor dem, was tot ist und wieder lebendig wird.


The Tomb of Ligeia (1964 Roger Corman)

„Die Regisseure haben tierische Angst vor Schauspielern: Es könnte irgendwas lebendig sein in ihren Filmen.“ (Klaus Lemke, 2014)

„Lemke hat mir alles beigebracht, was er über das Kino wusste. Und das war eine ganze Menge – und nichts. Denn das war so schön an ihm: Er sagte, dass wir alle immer die gleichen Idioten bleiben, die wieder und wieder von vorne anfangen müssen. Wir alle sind Spieler. Fake it till you make it. Und von allem, was man über uns sagen kann, stimmt immer auch das Gegenteil. Auch bei Klaus.” (Saralisa Volm)


The First Men in the Moon (1964 Nathan Juran)

Mondbewohner, erdacht und erschaffen vom großen Ray Harryhausen.
Dessen Filme sind von bleibend rätselhafter Schönheit und voll von dem, was Kinder tun: in die Dinge hinein Lebendigkeit praktizieren, das Monumentale in der Miniatur wahrnehmen, und das Prähistorische in sich selbst. Das Monströse zum Spielzeug machen, und umgekehrt. Denn die Natur ist der Elefant im Porzellanladen.

Einen anderen Harryhausen-Film, Jason and the Argonauts, nahm John Landis (in Bologna vor Publkum) zum Anlass, die Antike zu loben – mit ihren vielen Göttern. Wie plausibel das Bild einer Welt ist, die vom Olymp herab von zerstrittenen Gangstern regiert wird. Wie unsinnig daneben der Monotheismus: Auf einem sinkenden Schiff ein Gebet just an den Einen zu richten, der gerade das Schiff versenkt!


Operation Crossbow (1965 Michael Anderson), Barbara Rütting

In irgendeinem Sommerloch meldete der Kölner „Express“ mal auf der Titelseite: „Helmut Schmidt bunkert 38.000 Zigaretten“. Er tat dies, weil seine Lieblingsmarke von der EU verboten wurde. In einem Festivalprogramm war ich zuvor über eine schräge Formulierung gestolpert: Ein chinesisches Fernseh-Portrait des „China-Visionärs“ Schmidt sei interessant „auch für Freunde der deutschen Geschichte“. Den Slogan kannte ich noch nicht: Für Freunde der deutschen Geschichte!


5 Tombe per un Medium (1965 Massimo Pupillo)

Auf ein Zifferblatt gemalt: ein sich öffnender Sarg

Wer kennt das “Manifest der 93”? Wer weiß, was im belgischen Leuven geschah, im August 1914. Es bleibt unfassbar, wie sich das “Kulturvolk” dort definierte: Stets vom Schwachen bedroht, dauernd beleidigt und durchdacht barbarisch.


The Psychopath (1966 Freddie Francis)

Irmgard Keun (in „Ferdinand“, 1950): „Deutschland soll umerzogen werden zur Demokratie. Wann hätte je Erziehung ein gewünschtes Resultat gehabt?“
Und:
„Vorübergehend grübelte ich darüber nach, wieweit sich das nationale Heimatgefühl eines deutschen Großstädters aufrechterhalten ließe, wenn man ihn in einen novemberlich verregneten und weit und breit ländlichen Rübenacker setzte. Nichts gegen die „Liebe zur Scholle“, aber auch sie dürfte ihre Grenzen haben, selbst wenn sie eingebildet ist. Die eingebildete Liebe ist allerdings hartnäckiger als die echte Liebe, denn sie entspringt einem irregeleiteten, als Idealismus proklamierten Selbstgefühl. Die meisten Menschen verfallen ihrem Irrtum restlos und werden ihm hörig, sobald sie die Unbefangenheit ihrem Irrtum gegenüber verlieren und ihn als Irrtum erkennen. Harmlose Gläubige werden meistens erst dann zu Fanatikern, wenn sie nicht mehr fähig sind, an das zu glauben, was sie für ihre gute Sache hielten. Wer wider eigenes besseres Wissen die Überzeugung behalten will, muß Gewalt und Leidenschaft des Boshaftigen anwenden. Er muß andere überzeugen, um wenigstens Bruchteile der eigenen Illusion zu wahren. Je weniger ihm das gelingt, um so tobsüchtiger wird er.“


Targets (1968 Peter Bogdanovich), Boris Karloff

“Once upon a time, many many years ago…
… in Samarra.”

Das Schwierige an der Historie: Dass alles immer schon viel früher anfing und viel länger noch dauert.
Schauen Freunde der deutschen Geschichte auf 1968, übersehen sie meist den Verjährungsskandal. Denn mit Blick auf das „Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten“, das die Mordtaten der Nazis mit einbezog, wird aus 68, dem „Jahr der Revolte“, (ganz nüchtern: auch) das Jahr der Nazi-Amnestie. *


Schweigend steht der Wald (2022 Saralisa Volm)

Zum Glück empfahl mir Martin Müller diesen Film, der deutsche Geschichte entschlossen unfreundlich anschaut und dabei ungewohnt spannend zu erzählen versteht. Besser noch: Dass er im Erzählen zu dieser Unfreundlichkeit vorstößt. Immer weiter, wie von selbst. Ökonomisch, elegant, aber ruppig im Körperlichen, Als hätte sich Sam Fuller mit dem Elan von Verboten! über Silence of the Lambs gebeugt. Und der Titelheld, der Wald bewegt sich still im Cat-People-Hallenbad! Wie in Trance und in Alarm zugleich. Ein wirklich starker Debütfilm. Eine Kampfansage: Kino versus Vertuschungskultur. Eine Lichtung.


Schänke Dezernat 90

Hinter dem Kölner Hauptbahnhof, direkt am ehemaligen Busbahnhof gibt es eine Kneipe mit Kirchenfenstern aus einbruchsicherem Glas. Und es gibt die schöne Vermutung, dargestellt seien die allerersten Stammgäste.
Oder: Ist das vielleicht Irmgard Keun?
(Vielleicht sogar “Und:” statt “Oder:”?)

Freitag, 21.01.2022

Weltenbummler

In einer seiner Fernsehsendungen überquert Hardy Krüger auf dem Weg zu einer kultischen Stätte einen leeren Platz und anstatt dieses Nicht-Ereignis mit ein paar kommentierenden Sätzen zu überdecken, sagt er: „Augenblick mal.“ Und setzt sein Reden aus dem Off erst fort, wenn er im Bild den Platz überquert hat und wieder was passiert. (Eine Opfergabe der Einheimischen.) Diese Sprechpause kommt völlig unerwartet, auf seltsame Weise knüpft sie zwischen Reden und Zeigen eine gestische Verbindung.

Ein Bild aus Hartmut Bitomskys schönem Film REICHSAUTOBAHN: Unter einer Brücke sitzt er da und blättert in einem Buch mit Fotografien der alten Autobahn. Der Weltenbummler seinerseits bedient sich am Abend im Hotelzimmer eines Fotobandes, um seinen und unseren ersten Eindruck vom exotischen Ort zu vertiefen. Wie Bitomsky zeigt auch Krüger gerne den Daumen, der ein Foto in die Kamera hält. Eine Mitfahrerin gibt ihm, während er fährt, ein kleines Plastik-Album mit Familienfotos. Er hält es aufgeschlagen ans Lenkrad gepreßt. Der Kamerablick, der zuvor noch auf die Straße gerichtet war, senkt und verengt sich auf die Fotos. Aufmerksamkeit ist Aktion.

Zu all dem gehört auch die erheiternde Illusion, Hardy Krüger wäre allein ohne Kamera und Tonleute unterwegs. Angeblich erste Begegnungen sind inszeniert: die Kamera erwartet aus der Distanz das „unerwartete Zusammentreffen“ oder befindet sich bereits im Raum, den er zum ersten mal betritt. Daß dies nicht total bescheuert wirkt, liegt an der ohnehin durch den Kommentar bewußt zerstörten Trennungslinie zwischen der Gegenwart des Sprechens und der Vergangenheit des Gefilmten.

So zieht er auch beim Erzählen dem erinnernden Perfekt stets das dramatisierende Präsens vor, und benutzt dabei die Worte: „Dann“ und „Da“ und „Jetzt“. Ganz so als zähle eben nicht das Gesehen-und-erlebt-haben sondern viel mehr der Moment des Kennenlernens, die frische unvermittelte Erfahrung. So zurren die vielfältigen bunten Eindrücke seiner Reisen zusammen auf die eine sympathische Propagierung von Sinn und Zweck der Wanderschaft: persönlich Bekanntschaft zu machen.

Am Ostermontag, an Krügers 65. Geburtstag, zeigte der Filmclub 813 Robert Aldrichs THE FLIGHT OF THE PHOENIX und noch im selben Monat eine umfassende Werkschau Hartmut Bitomsky.

(Text von 1993)

Mittwoch, 23.12.2020

Auge und Umkreis (IX)


Johnny Reno (1966 R.G. Springsteen)

„Sun‘s going down. That‘ll be a long night,“ sagt einer, der aus dem Gefängnisfenster auf diesen Abendhimmel schaut.

Wir waren im Sommer nach Deauville geraten. Der neue Film von Claude Lelouch hatte uns dort hin getragen. Vom Balkon konnten wir nachts die Fischerbote aufs Meer fahren sehen, und nah bei den Hafenlichtern von Trouville war das Casino mit seiner Leuchtschrift.


Charade (1963 Stanley Donen)

In Le Havre, im „Studio“, in einer Nachmittagsvorstellung sahen wir dann wieder einmal Charade, dieses dunkle rätselhafte Filmgedicht. Über die Ungewissheit, die dauernde. Und über die Kurzfristigkeit – und ihren Triumph.
„For a few minutes they were mine. That is enough.“


Mädchen am Kreuz (1929 Jacob und Luise Fleck)

Gerne sähe ich mehr von der Regisseurin Luise Fleck und ihrer Produzentin Liddy Hegewald. Die „Hegewaldfime“ waren Exploitation-Kino, kostengünstige „Problemfilme“, von der Kritik verspottet. Aber was die Filme erfolgreich machte, wirkt heute noch. Ein klarer Blick auf die Schräglage, die das Leben früher oder später aus dem Gleis geraten lässt. Die Unwucht der Ordnung.


Maman Colibri (1929 Julien Duvivier)

Der Vater kommt zur Tür herein, während Mutter und Sohn miteinander tanzen. Als würden sie von ihm erwischt, so rahmt der Spiegel sie als Paar und ihn allein.

Die Einsamkeit ist überall im unerschöpflich reichen Werk von Duvivier. Genau betrachtet war auch Don Camillo einsam.


Darling, How Could You! (1951 Mitchell Leisen)

Eine Komödie des Peter-Pan-Autors J.M. Barrie, in dessen Welt sich die Lebenszeit um ein Schwerkraftzentrum krümmt: um die Eltern herum. Da ist ein Ort – „where we never grow old,“ sang Aretha Franklin (in Sydney Pollacks Doku) in Griffweite des Vaters, schrie sie gleichsam aus dem Abgrund der Familie heraus.


A Walk In The Spring Rain (1970 Guy Green)

Ich sah wieder Guy Greens Light in the Piazza und war wieder begeistert, beglückt. Wie damals in Wien.


St.Ives (1975 J. Lee Thompson)

In den 1860er Jahren wohnten Arthur Schnitzlers Großeltern im Carltheatergebäude. Die Operetten Offenbachs und der Komiker Knaack befeuerten die Nachahmungsfreude des kleinen Jungen. Also, erinnert er sich, „unternahm ich es einmal, mit dem undisziplinierten Ehrgeiz meiner sechs oder sieben Jahre, das Couplet ‘Als ich noch Prinz war von Arkadien‘ ganz in Knaack‘scher Manier, mit einem Kehrbesen manövrierend, im Beisein einer mir völlig unbekannten Dame vorzutragen, die eben bei meiner Mama zu Besuch anwesend war. Noch heute ist mir der ungerührte, kalte, geradezu vernichtende Blick gegenwärtig, mit dem mich die Dame nach geendeter Produktion von oben herab maß.“


Orphée (1950 Jean Cocteau)

„Was ich im Theater immer am schönsten fand, in meiner Kindheit und auch heute noch, das war der Kronleuchter – ein schöner, leuchtender, kristallener, reichverzierter, kreisförmiger und regelmäßiger Gegenstand.“ (Baudelaire: „Mein entblößtes Herz“)


Frédérique Franchini in Noviciat (1965 Noël Burch)

Eine Komödie frei nach Sacher-Masoch. Ein Mann, der nur schauen will, wird im Nahkampf zum Gefangenen, dann zum Diener und zuletzt zur Ware, wechselt gegen seinen Wunsch seine Besitzerin.


Gloria Swanson in Stage Struck (1925 Allan Dwan)

Gloria Swanson wechselte unbeschwert von ernsten zu komischen Rollen, hin und her, wie es ihr gefiel.
Curtis Harrington, mit dem sie beim Dreh von Killer Bees (1974) Freundschaft schloss, betonte (in: Video Watchdog, Nov/Dez 1992), dass Norma Desmond in Sunset Boulevard und Gloria Swanson von einander so verschieden waren, wie man nur sein kann.


Baron Eugen Ransonnet-Villez, erster Unterwasserzeichner, Selbstportrait mit Taucherglocke, 1867


Journey To The Center Of The Earth (1959 Henry Levin)

In einem ungewöhnlich schweren Brocken Lava ist ein Senkblei verborgen. Darauf ist etwas geschrieben, mit Blut.

Agatha Christie mochte Jules Vernes Bücher. Besonders Die Reise zum Mittelpunkt der Erde. „Mir gefiel der Gegensatz zwischen dem besonnenen Neffen und dem übertrieben selbstsicheren Onkel.”

„Als Kind schon spürte ich in meinem Herzen zwei sich widerstreitende Empfindungen: Lebensangst und Lebensüberschwang. Dies entspricht durchaus dem Charakter eines nervösen Faulenzers.” (Baudelaire: „Mein entblößtes Herz“)


The Unholy Wife (1957 John Farrow)

Der Junge wird gefragt, ob er „manchmal einsam“ sei. „Immer!“ antwortet er zornig. Darauf bekommt er, zur Beschwichtigung, eine Muschel geschenkt, aus der jederzeit die See zu ihm spräche.
Wir kennen die simple Erklärung: Man höre das eigene Blut rauschen. Nein, wir sind der Ozean, sagt John Cage.


Saraband For Dead Lovers (1948 Basil Dearden)

„Vertrauen wir dreist allen Zeugnissen der Sinne. Da ist nichts Falsches vom Echten zu sondern. (…) Wenn bei erregtem Blute oder äußerlichem Drucke das Auge zuckende Blitze oder leuchtende Kreise sieht, sind das sowenig Irrtümer, als wenn es irgendandere Erscheinungen der Außenwelt wahrnimmt. (…) Die Welt des Geistes oder der Wissenschaft findet in der Sinnlichkeit ihr Material, ihre Voraussetzung, ihre Begründung, ihren Anfang, ihre Grenze.“(Josef Dietzgen: „Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit. Dargestellt von einem Handarbeiter“, 1869)


The Unvisible Man Returns (1940 Joe May)

Was glaubt der Unsichtbare, im Spiegel sehen zu können?
Von seiner Liebsten wird er dabei erwischt, wie er sich entpackt. Ihr Entsetzen ist das vor der Hohlheit, vor dem fehlenden Inneren, ein Schrecken, den der Film mit vorzüglichen Tricks zelebriert.


3 Women (1977 Robert Altman)

„Manchmal stand sie mitten in der Nacht auf, um sich Notizen zu machen,“
(Anne Hart: „Live and Times of Miss Jane Marple“)


Maskerade (1934 Willi Forst)

Sie kommt nachts besoffen heim, singt im Treppenhaus, weckt den Hausmeister, und erzählt ihm, sie habe eine Eroberung gemacht. Paula Wessely schwankt nur ganz sanft, artikuliert dabei feinstens. Und Hans Moser, aus dem Schlaf gerissen, total verhuscht, begreift nichts. Seine Nüchternheit ist hilfloser als ihre süße Betrunkenheit. Das gibt ein hübsches Bild dafür, wie klar man sieht, wenn man betrunken ist, denn ohne die Wirkung des Schaumweins glaubt sie die Wahrheit nicht, dass ein schöner Mann sie lieben könnte.


Moonstruck (1987 Norman Jewison)

„The past and the future are a joke for me now. I see that they are nothing. I see that they ain‘t here. The only thing that‘s here is you… and me“, sagt Nicolas Cage zu Cher, in Moonstruck. Und: „Love don‘t make things nice, it ruins everything. It breaks your heart. It makes things a mess. We aren‘t here to make things perfect. Snowflakes are perfect, stars are perfect, not us. We are here to ruin ourselves. And break our hearts. And love the wrong people. And die!“


Romanze in Moll (1943 Helmut Käutner)

„Die größte Torheit ist, anzunehmen, dass wir auf festem Grund gehen.“ (E.M. Cioran: Ansätze zum Taumel)


Jigsaw (1963 Val Guest)

Der Spiegel als Werkzeug der Selbstverachtung. Weil das eine Rückblende ist, ist ihr Tod schon gewiss, ihre Leiche liegt schon zerstückelt im Keller.

Jean Cocteau: „Ich verrate Ihnen das Geheimnis aller Geheimnisse. Spiegel sind die Türen, durch die der Tod kommt und geht. Wenn Sie sich selbst ihr Leben lang im Spiegel anschauen, sehen sie den Tod bei der Arbeit. Wie Bienen in einer gläsernen Bienenwabe.“


Games (1968 Curtis Harrington)

„Die Nautilus war in eine Strömung von phosphoreszierenden Infusorien geraten, sie schwamm inmitten von Myriaden leuchtender Tierchen, deren glänzender Funke noch stärker aufglühte, wenn sie mit dem Rumpf der Nautilus in Berührung kamen. Dieser leuchtende Strom blendete zuerst wie Bleiguss im Schmelzofen oder weißglühendes Metall beim Abstich. Aber nach und nach konnte ich in dieser Lichtquelle noch verschiedene Helligkeiten und Schattenbildungen unterscheiden, die sich unaufhörlich gegeneinander verschoben: lebendiges Licht.“ (Jules Verne: 20.000 Meilen unter den Meeren, 1869-1870)

Sie ist „die verschwindende Meerjungfrau“, Entfesselungskünstlerin auf der kleinen Kirmesbühne einer Hafenstadt. Vor dem Spiegel verwandelt sich die falsche Prinzessin in die Fischerstochter, die sie wirklich ist.


Simone Simon in Temptation Harbor (1947 Lance Comfort)

Lance Comfort hat dunkle und finstere und grimmige und rabenschwarze Filme gemacht. Geschichten, in denen alles schief läuft. Hatter’s Castle (1942), Great Day (1945), Bedelia (1946), Temptation Harbour (1947), Daughter of Darkness (1948), Silent Dust (1949). Ein halbes Dutzend grandioser Filme, alle in den 40ern. Und danach noch: Tomorrow at Ten (1962).


Night Tide (1961 Curtis Harrington)

„In meiner frühesten Jugend erschienen mir alle Schatten und Lichter auf Bildern als unmotivierte Flecke. Als ich in früher Jugend zu zeichnen begann, hielt ich das Schattieren für eine bloße Manier. Ich porträtierte einmal den Herrn Pfarrer, einen Freund des Hauses, und schraffierte nicht aus Bedürfnis, sondern weil ich es an anderen Bildern so gesehen hatte, die Hälfte seines Gesichts ganz schwarz. Darob hatte ich eine harte Kritik von meiner Mutter zu bestehen, und mein tief verletzter Künstlerstolz ist wohl der Grund, dass mir diese Tatsachen so im Gedächtnis geblieben sind.“
(Ernst Mach: „Wozu hat der Mensch zwei Augen“, 1867)


Vynález zkázy (Die Erfindung des Verderbens 1957 Karel Zeman)

An Projektilen erforschte Ernst Mach den Überschallknall. Er tat dies mit Hilfe von Fotografien.
Für Egon Friedell war Mach “der klassische Philosoph des Impressionismus”. Sein Name ist vielfach verewigt, auch in der Zahl zur Benennung von Fluggeschwindigkeiten, die allerdings seit der Epoche der (abstürzenden) Starfighter hörbar aus der Mode gekommen sind.

„Ein Düsenflugzeug durchbrach einmal die Schallmauer und zerstörte gleich zwei Scheiben von Miss Marples Gewächshaus.“ (Anne Hart: „The Life and Times of Miss Jane Marple“)


Wing and a Prayer (1944 Henry Hathaway)

„Boy, I got to knock that moon right out of the sky.“
„Leave it alone. I‘ll need that moon, when I get home.“

In Jules Vernes “Von der Erde zum Mond” lobt ein Ballistiker die Projektile: “In meinen Augen nämlich ist die Kugel die hervorragende Offenbarung menschlicher Macht. Gott hat das All, die Gestirne und Planeten geschaffen: was sind sie denn anderes als Geschosse. Gott gehört die Geschwindigkeit der Elektrizität, des Lichts, der Sterne und Kometen, sein ist die Geschwindigkeit des Schalls und der Winde. Dem Menschen aber gehört die Geschwindigkeit der Kugel.”


The Sound Barrier (1952 David Lean)

Ernst Mach (1838 – 1916) und Jules Verne (1828 – 1905) waren Zeitgenossen von Josef Dietzgen (1828 – 1888), Sir William Crookes (1834 – 1919) und Sacher-Masoch (1836 – 1895). Dass auch eine Peitsche den Überschallknall erzeugt, war mir gar nicht klar. Wie so manches.


The Net (1953 Anthony Asquith)

Werfen wir mal einen Blick auf die 60er Jahre des vorletzten Jahrhunderts.
1860: Die Erfindung der Rotationsschnellpresse; Wilkie Collins: „Die Frau in Weiß“.
1861: der amerikanische Bürgerkrieg; William H. Mumler erfindet die Geisterfotografie; Reis: das Telefon; Dickens: „Große Erwartungen“,
1862: Eastman Johnson: „A Ride for Liberty“; Victor Hugo: „Die Elenden“.
1863: Lincoln: „The Gettysburg Adress“; Manet: „Das Frühstück im Grünen“; die Farbenfabrik Bayer in Barmen.
1864: Jacques Offenbach: Barcarole; Jules Verne: „Reise zum Mittelpunkt der Erde“; Richard Dadd „The Fairy Feller’s Master-Stroke“.
1865: Lewis Carroll: „Alice im Wunderland“; Wilhelm Busch: „Max und Moritz“; Wagner: „Liebestod“.


Busch: Max und Moritz

Erfunden wurde also damals neben vielem auch der Detektivroman. Fotografiert wurden Geister, gemalt das Licht.


During One Night (1960 Sidney J. Furie)

Schaut man von oben auf die Wolken und sieht den Schatten des Flugzeugs, in dem man sitzt, dann kann man um den Flugzeugschatten herum einen kleinen Regenbogen entdecken, vollständig kreisrund. Das ist die Glorie.


During One Night (1960 Sidney J. Furie)

Ein Kriegsfilm, der den ersten Sex eines amerikanischen Piloten und einer englischen Kellnerin zum bedeutendsten Ereignis macht.

“Eine Katastrophe lässt sich nicht denken, ohne dass man gleichzeitig an ein höchst unbedeutendes Ereignis denkt.”
(Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang)


Harun Farocki zeichnet hier ein Kriegsszenario plus Dame mit Perlenkette. Bei der Gelegenheit erinnert er sich, dass es Storyboard-Vordrucke beim WDR gab, mit hässlichen runden Ecken.


Wesley Willis: Artist of the Streets (1988 Carl Hart)

Wesley Willis war ein virtuoser Meister im Wechsel zwischen Linealzeichnung und beherzter Schraffur. Er zeichnete die Häuser, Autos und Straßen seiner Stadt mit Kugelschreiber auf große Bögen und verkaufte diese an Passanten.
Auch die tristesten Gegenden von Chicago vermitteln dem, der vor Augen hat, wie Willis sie gemalt hat, die Halluzination lebendiger Schönheit.


Frederic Edwin Church: Aurora Borealis, 1865

Der amerikanische Maler Frederic Edwin Church (1826 – 1900) zeigte seine monumentalen Landschaftsgemälde gegen Eintritt, in verdunkelten Sälen. Es gab Stuhlreihen. Ferngläser wurden verteilt. Dem Publikum fiel es 1865 nicht schwer, „Aurora Borealis”, ein Panorama mit Expeditionsschiff, Eismeer und Polarlicht, zu interpretieren: als Parteinahme im Bürgerkrieg.

Im Wallraf-Richartz-Museum in Köln hing im vorigen Jahr eine Landschaft von Church neben einer Orchidee von Martin Johnson Heade (1819 – 1904). 1865 beginnt dieser seine „Gremlins in the Studio“ zu malen.
Im gleichen Jahr malt Gustave Courbet den Strand von Trouville.


Heisser Sand (2020 Bruno Sukrow) ****

„Wenn wir uns in einem Boot auf dem Fluss treiben lassen, wie lange brauchen wir dann ans Meer?“ fragt die Heldin in Bruno Sukrows neuestem Kunststück Heisser Sand. Sie will in ein anderes Land. „Einfach nur raus aus meinem Elternhaus.“


Hibernatus (1969 Eduard Molinaro)

Ein im Polareis eingefrorener junger Mann wird nach 65 Jahren gefunden und aufgetaut. Er lebt, zur Freude der Wissenschaft, und er hält seine längst erwachsene Enkeltochter für seine Mutter. Ihr (Claude Gensac) gefällt‘s, bis ihrem Mann (Louis de Funes) der Kragen platzt, er spricht aufgeregt von Überschall- und Mondflug, und verfällt dabei in Raserei.

Setzen wir von dort aus unseren kleinen Rückblick auf die 1860er Jahre fort.

1866: Louise Otto-Peters „Das Recht der Frau auf Erwerb“; das Telegraphenkabel England-USA; Courbet malt den „Ursprung der Welt“.
1867: Strauss: “An der schönen blauen Donau”, Jules Verne: „Die Kinder des Kapitäns Grant“,
Dostojewski: „Schuld und Sühne“, Marx: „Das Kapital“, Nobel: Dynamit, und in Luckenwalde wird der Pappteller erfunden.


Eugen Ransonnet-Villez: „Gruppe von Alcyonien“, 1867

1868: Collins: „Der Monddiamant“.
1869: Flaubert: „Die Erziehung des Herzens“, Tolstoi: „Krieg und Frieden“, Sacher-Masoch: „Venus im Pelz“, Eröffnung des Suezkanals, Union Pacific trifft Central Pacific, Fahrrad mit Hinterradantrieb, Gründung der SPD.


The China Syndrome (1979 James Bridges)

„Was war das damals für eine anständige und tapfere Partei! Was für eine weitsichtige auch!“ (Sebastian Haffner meint den Protest der Sozialdemokraten im Norddeutschen Reichstag 1870 gegen die Annektion Elsaß-Lothringens, und dass sie stattdessen eine Volksabstimmung in Elsaß und Lothringen verlangten.)

Die Tänze damals waren Walzer, Galopp und Cancan, „der Wahnsinn der Beine“ (Rigolboche). Es ist das Zeitalter von Jacques Offenbach.

Siegfried Kracauer spricht (in: “Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit”) von einem dionysischen Taumel. “Geweckt wird dieser Rausch, der keinem vergangenen gleicht, durch die Geburt der Demokratie, Paris bringt ihn hervor, das große kosmopolitische Paris, in dem sich bereits die Umrisse der kommenden Gesellschaft enthüllen.”
Die Frauen zeigen Dessous und tiefste Dekolletés. Die Männer tragen Voll- und Knebelbärte, dazu neuartige Hüte, sogenannte „Melonen“.


Quatermass 2 (1957 Val Guest)

Klaus Wyborny: „Wenn in unseren Zivilisationen Großbauten entstehen, deren Grundform nicht das Rechteck ist, heißt das häufig, daß hier etwas umhüllt wird, das den Menschen physisch gefährlich ist, und dessen Verhalten sich nicht einmal approximativ zuverlässig vorhersehen läßt. Das gilt für Gasomenter und Kernreaktoren, für Beschleuniger und Fußballstadien (in denen die Angst vor der physischen Energie der Zuschauer mit der Rundform zu beschwichtigen versucht wird).“
(„Neues vom Rechteck“, 1979/80)


The Naked Gun (1988 David Zucker)

„Everywhere I look, something reminds me of her.”


Little Big Horn (1951 Charles Marquis Warren)

Marie Windsor, von Lloyd Bridges betrachtet

Wenn im Kino kleine Portraits zu sehen sind, deren Rahmung nicht rechteckig ist, heißt das häufig, dass hier eine Erinnerung eingefasst wird, die dem Helden physisch gefährlich werden kann, und deren Auswirkungen sich nicht vorhersehen lassen. Das gilt für Amulette und Taschenuhrdeckel, für Bilder von Frauen und Kindern, insbesondere von Müttern, Töchtern, Ehefrauen (deren Tod / Vergewaltigung / Untreue aus dem Helden einen Ruhelosen macht).


Dreamscape (1984 Joseph Ruben)

Die oben erwähnte Glorie (um den Flugzeugschatten herum) ist verwandt mit einem anderen optischen Effekt. Einem Schockeffekt, der Bergsteigern begegnet. Schon Goethe hat sich erschreckt vor seinem eigenen Brockengespenst


The Good Bad Man (1916 Allan Dwan)

Der Outlaw zeigt der Liebsten das Bild seiner Mutter. Er meint, er tauge nichts. Weil er seinen Vater nicht kennt.

„Der Vaterlose fühlt sich immer im Blickpunkt, sowohl im Guten wie im Bösen.“ (Peter Handke: „Vor der Baumschattenwand nachts“)

Der Wunsch der Mutter war: Der Sohn solle nicht in Gefahr geraten bei dem Versuch, den Vater zu rächen. Doch sie macht ihn zum Boten ihrer Wünsche. Doublebind en miniature.

Ein Rachedrama, aber trotzdem (weil von Dwan): ein springlebendiger Film, locker aufgebaut, nur lose gestapelt, aus beweglichen Dreiecken. Mittendrin nicht greifbar, just „Passin‘ Through“, Ödipus Fairbanks.


The Good Bad Man (1916 Allan Dwan)

Das Amulett hat die tödliche Kugel aufgefangen.


They Died With Their Boots On (1941 Raoul Walsh)

In The Adventures of Errol Flynn (2005 David Heeley) erzählt Olivia de Havilland von den Dreharbeiten zu The Adventures of Robin Hood (1939 Michael Curtiz). Von ihrem Vergnügen an den sechs, sieben, acht mal wiederholten Takes einer großen Kuss-Szene. Die vielen, vielen Küsse brachten Errol Flynn in Bedrängnis. „He had – if I may say so – a little trouble with his tights.“


King Of The Khyber Rifles (1953 Henry King)

Die Liebe vor dem Hintergrund nicht endender Kriege. In vielen Abenteuerfilmen und Western der 50er Jahre ist „Rassenmischung“ eine große, letzte Hoffnung.

Eigentlich gibt es „Rassen“ überhaupt nur in der Haus- und Nutztierzucht.


Showdown at Abilene (1956 Charles Haas)

Der deutsche Titel: Schüsse peitschen durch die Nacht

“Es versetzt in Erstaunen, dass man selbst als Cinephiler beim Betrachten dieser vielen wieder zugänglichen Filme erkennen muss, dass der gute alte amerikanische Western tatsächlich ein terrain vague ist, eine geradezu unbekannte filmische Gattung.” (Hans Schifferle)

“Das Erstaunliche ist, dass man, wenn man weiß, was die Worte wert sind, sich bemüht, was auch immer zu formulieren, und dass es einem gelingt. Es bedarf dazu freilich einer übernatürlichen Unverfrorenheit.” (E.M. Cioran)

Ich denke, ein Bild könnte die Arbeit mit den Worten überflüssig machen. Das ist natürlich Faulheit.


The Bravados (1958 Henry King)

Guy Endore stellte fest, dass es sicherlich kein bloßer Zufall ist, wenn wir das Wort „Augapfel“ auch gebrauchen, um das Kostbarste zu bezeichnen, das wir besitzen. Im Chinesischen bedeutet das Ideogramm für „Pupille“- „t’ung“ – zugleich „Baby“ oder „Puppe“.


Damals (1943 Rolf Hansen)

Im Griechischen bedeutet das Wort „kore“, das vielleicht in unserem „Kern“ fortlebt, sowohl „Augapfel“ wie „kleines Mädchen“. Warum? Mag es nicht darin liegen, daß ein Kind in dem kleinen Rundspiegel des müttelichen Auges zuerst zur Schule geht, zuerst die Antwort abliest auf seine erste und schrecklichste Frage: Wer bin ich?


Gražuolė (1969 Arūnas Žebriūnas)

Und die tröstliche Antwort, die aus diesem Spiegel widerstrahlt, lautet: „Du bist mein Augapfel. Du bist Mamas kleiner Liebling.“
Warum bedeutet im Hebräischen das Wort für „Pupille“ auch „kleiner Mensch“? Warum haben wir im Lateinischen das Wort pupilla, von dem sowohl das Wort „Pupille“ wie das englische „pupil“ = „Schüler“, „kleiner Gelehrter“ abgeleitet sind?
(Guy Endore, in: „Umweg bei Nacht“, 1958)


Harvey (1950 Henry Koster)

Ende

Montag, 20.04.2020

Auge und Umkreis (VIII)


The Whispering Chorus (1918 Cecil B. DeMille)

„Es ist so schwer den Anfang zu finden. Oder besser: Es ist schwer, am Anfang anzufangen. Und nicht zu versuchen, weiter zurückzugehen.“
(Ludwig Wittgenstein, 1948, Vermischte Bemerkungen)


The Affairs of Anatol (1921 Cecil B. DeMille)

Mit DeMille beginnen, heißt dem Irrtum entgehen, Anfänge wären unschuldig oder harmlos… es gäbe da in der Kindheit des Kinos noch keine Zerstörungswut. Archaisch, auch kindlich ist Aggression, die sich gegen das Abbild richtet.


La dame masqueé (1924 Victor Tourjansky)

Der Spiegel hat zwei Seiten. Die eine rückt zu nah heran, betont das Teilstückhafte, löst dadurch Angst aus. Die andere erst gibt Kontur und bietet das Ich zur Betrachtung an – – – mit den Augen der anderen.


Chicago (1927 Frank Urson)

Dali & Dr. Lacan waren fasziniert von den Schwestern Papin, die als Dienerschaft in Le Mans 1933 ihre Herrschaft, Mutter und Tochter, mit grobem Werkzeug ermordeten und ihnen (zuvor!) die Augen aus den Köpfen rissen.


Three on a Match (1932 Mervyn Leroy)

Der Gangster, der sich in Anwesenheit seiner Schergen die Haare aus der Nase zupft, ist nur eine (besonders böse) Nebenfigur in einem Frauenfilm von Mervyn LeRoy.


The Kiss Before the Mirror (1933 James Whale)

A Universal Picture. Ihr Blick in den Spiegel, ihr fest entschlossenes Schönseinwollen (für wen?) erweckt seine Eifersucht. Aber vollends vernichtet den Mann, dass sie durch den Spiegel auf ihn mit Verachtung schaut.
Mit seinem Wahnsinn impft er, zum Mörder geworden, seinen Anwalt. Oder steckt er ihn an?
Tragödie im Plural. Das Remake hieß Wives Under Suspicion


Strictly Dynamite (1934 Elliott Nugent), an RKO Radio Picture.

Der junge Autor (Norman Foster) betrachtet sich im Spiegel. Im Nacken sitzt ihm der Misserfolg. Es wurde ihm geraten, sich selbst anzupreisen – als regelrechter Sprengstoff.

Salvador Dali schreibt 1934 an André Breton: “I’m in Hollywood where I’ve made contact with the three American Surrealists, Harpo Marx, Walt Disney, and Cecil B. DeMille. I believe I’ve intoxicated them suitably and hope that the possibilities for Surrealism here will become a reality.”


Becky Sharp (1935 Rouben Mamoulian)

Nur eine Pose. Gerade noch hat sie (Miriam Hopkins) getanzt vor dem Spiegel.

„Das Gesicht ist ein Zeichen für die anderen, das ich selbst gar nicht entziffern kann – zumeist nicht einmal vor dem Spiegel, der mir stets verbirgt, was meine Geliebte, mein Feind, mein Kind oder mein Nachbar in meinen Gesichtszügen zu lesen glauben.“ (Thomas Macho: Wittgenstein und die Photographie, 2008)

„Aber es ist doch ein Jammer, dass jemand ganz allein für sich oft am schönsten ist.“ (Irmgard Keun: Nach Mitternacht, 1937)


The Plainsman (1936 Cecil B. DeMille)

Salvador Dali: “Die Wirklichkeit ist eine Begleiterscheinung des Denkens – eine Folge des Nichtdenkens, eine durch Gedächtnisschwund hervorgerufene Erscheinung.“

„Wenn du dich benimmst, werde ich dich ihm vorstellen“, sagte George Antheil zu Dali. Der küsste wenig später die Hände von Cecil B. DeMille und nannte ihn „den größten Surrealisten auf Erden“. DeMille hatte nichts dagegen, dass der Unbekannte ihm die Hände küsste, und ließ sich erklären, was das sei: ein Surrealist?


Go West Young Man (1936 Henry Hathaway)

Mae West. Komödiantin, Sexsymbol, Drehbuchautorin.
Dali porträtierte sie, machte aus ihrem Gesicht ein Appartement.


Go West Young Man (1936 Hathaway) – via

Angesichts der Gestaltung dieser Mahlzeit wird eine Beschwerde laut: Es sieht mich an! „Es sieht mich an!“ ruft ein alter Mann.

Dali erfand die „paranoisch-kritische Methode“ zur Herstellung von Doppel- oder Vexierbildern, zur Stimulation und Simulation von Halluzinationen.

“Dieses Laster, genannt Surrealismus, besteht in dem unmäßigen und leidenschaftlichen Gebrauch des Rauschgiftes Bild,“ sagt Louis Aragon.


Danger – Love at Work (1937 Otto Preminger)

„Im Film, wie auf der Photographie, sehen Gesicht und Haare nicht grau aus, sie machen einen ganz natürlichen Eindruck; Speisen in einer Schüssel dagegen sehen im Film oft grau und darum unappetitlich aus.“
(Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Farben)


The Sisters (1938 Anatole Litvak)

Ein Kapitel in John Dickson Carrs „Tod im Hexenwinkel“ (1933) ist einem Butler gewidmet, der gern ins Kino geht. Es wird da beschrieben, was Abenteuerfilme mit ihm machen: „Seine Seele wurde zu einem Ballon, einem Fesselballon zwar, aber immerhin einem Ballon.“

Es gefällt mir, wenn in einer handlungsreichen Erzählung plötzlich jemand Selbstgenügsamkeit an den Tag legt.

„Kaum konnte er lesen, hatte er auch die Geschichten der großen Entdeckungen verschlungen. Aber er nahm die Schilderungen nicht etwa kritiklos hin. Wenn er Robinson Crusoe gewesen wäre, hätte er vieles anders angepackt, vor allem aber die Insel niemals wieder verlassen.“
(Jules Verne: „Fünf Wochen im Ballon“)


The Buccaneer (1938 Cecil B. DeMille)

“Das menschliche Auge sehen wir nicht als Empfänger, es scheint nicht etwas einzulassen, sondern auszusenden. Das Ohr empfängt; das Auge blickt. (Es wirft Blicke, es blitzt, strahlt leuchtet.) Mit dem Auge kann man schrecken, nicht mit dem Ohr, der Nase. Wenn du das Auge siehst, so siehst du etwas von ihm ausgehen. Du siehst den Blick des Auges.” (Wittgenstein: Zettel)


Destry Rides Again (1939 George Marshall)

Sie (Marlene Dietrich) solle sich schämen, meint der Titelheld (James Stewart). Slut-shaming! Fast ein Grund, den Film nicht zu mögen. Aber das ist unmöglich – dank der Lieder (von Friedrich Hollaender), die sie singt.

„Da ist das berühmte von den boys in the backroom. Es ist eine Art von Vermächtnis einer Salon-Diva, die allen ihren boys zugetan ist – zweideutig und gutmütig zugleich -, und es läuft (soviel ich verstanden habe) darauf hinaus, dass sie sich auch über den Tod hinweg bei diesen Jungens noch ein herzhaft gutes Andenken bewahren will.“
(Dolf Sternberger, 1960)


The Letter (1940 William Wyler)

Sie (Bette Davis), die sich im Spiegel anschaut, sieht nicht, was wir sehen: die Tür zur Veranda, in den nächtlichen Garten hinaus, ins Mondlicht hinein, wohin es sie ziehen wird, auf der Suche nach irgendeinem Weg zu sterben.


The Little Foxes (1941 William Wyler)

Der Spiegel ist so positioniert, dass sie (Bette Davis) auf sich selbst herabblickt.
Wie es ist, sich zu vergleichen.

Es ergab sich so. Vom Geborgensein in der Katastrophe (Jules Verne) und vom “unrettbaren” Ich (Ernst Mach) führte eine Fährte hin zu Wassertropfen, Himmelskörpern, rundgerahmten Portraits und Spiegeln. Viele Monde vergingen, bis mir – im vorigen Kapitel – Exzesse des Argwohns (Agatha Christie und Wittgenstein) bei der Klärung halfen, was es werden soll, wenn es fertig ist: Eine Morphologie der Unsicherheit.


Cottage To Let (1941 Anthony Asquith)

In Austin Freemans „Auge des Osiris“ (1911) lobt der Detektiv den Erzähler, er habe Talent zum Ermittler: So selten zu finden sind diejenigen, die etwas notieren, was sie für unwichtig und irrelevant halten; wer nur das notiert, was ihm bedeutsam erscheint, macht alles falsch. „Denn er beraubt sich des Materials, über das er nachdenken könnte.“


Flying Fortress (1942 Walter Forde).

Genaugenommen ist niemand lange identisch. „Lippen und Zunge werden alle zwei Wochen erneuert. Die eigene Haut alle vier Wochen. Der allergrößte Teil des eigenen Körpers wird ständig neu synthetisiert. Man hat alle fünf Tage neue weiße und alle drei Monate neue rote Blutkörperchen. Die Zellen der Blutgefäße und des Darms werden alle fünf bis sieben Tage komplett ausgetauscht, sonst wäre man längst tot; die Oberfläche der Lunge alle acht Tage, die Knochen alle zehn Jahre. Die meisten der inneren Organe innerhalb von zwei bis drei Monaten (…) Nur der Zahnschmelz bleibt (wenn auch mit Löchern). Die Linse im Auge; und das Hirn.“ (Valentin Groebner in einem Radio-Essay, 2020)


Went the Day Well? (1942 Alberto Cavalcanti)

„Damals gehörten die Hoden für mich noch nicht zu der Assoziation Auge und Ei. Mein Freund wies mich auf meinen Irrtum hin. Wir schlugen in einem Lehrbuch der Anatomie nach, wo ich sehen konnte, dass die Hoden von Tieren und Menschen eiförmig sind und Aussehen und Farbe des Augapfels haben.“ (Georges Bataille: „Die Geschichte des Auges“)

Dali war der Ansicht, alle Kreativität hätte ihren Ursprung in den Hoden. Deshalb könnten Frauen keine Künstler sein. Das Schönste, was von Dali bleiben wird, ist das Buch, das Amanda Lear über ihn schrieb.


On Approval (1944 Clive Brook)

Diese britische Sexkomödie beginnt mit der Frage: Schon wieder ein Kriegsfilm? Nein, nein.

In der britischen Kinderkomödie Miss Robin Hood (1952 John Guillermin) brüllen wütende Kinder den Slogan “Down with Dali!” Der Grund dafür: Ihr Lieblingscomic hat plötzlich einen neuen Autor, der überhaupt nicht spannend erzählen kann, sich stattdessen in Kunsthistorie verzettelt.


Bluebeard (1944 Edgar Ulmer)

Der Maler (John Carradine) ist auch Puppenspieler und Mörder. Die Mordlust kommt beim Malen. Auf dem Umweg durch den Spiegel sollen sich Blick und Anblick verharmlosen.


Paris Underground / Madam Pimpernel (1945 Gregory Ratoff)

Ein Ehestreit. Es geht um Politik. Deshalb die Trennung. So fängt diese Geschichte an. Sie handelt von Freundschaft, Liebe, Widerstand. Ein Propagandafilm. Geringgeschätzte, hohe Kunstform. Hauptdarstellerin Constance Bennett war auch die Produzentin.


Spellbound (1945 Alfred Hitchcock)

Das Schuldgefühl, Überlebender zu sein.
An der Stelle des toten Bruders zu stehen, totenstarr.

Dalis Eltern erzählten ihm von klein auf, er sei die Wiedergeburt seines Bruders, der den gleichen Namen trug, und dessen Grab sie häufig besuchten – zusammen mit ihm, der dort Blumen auf einen Grabstein mit seinem eigenen Namen legte.
Dali meinte, dass er und sein Bruder „wie zwei Tropfen Wasser einander ähnelten, aber wir hatten unterschiedliche Reflexionen.“

Lacan meinte: Noch bevor wir zwei Jahre alt werden, erkennen wir uns im Spiegel. Zwischen den Geburtsjahren von Lacan (1901) und Dali (1904) liegen die Lebensdaten ihrer Brüder: 1901, im selben Jahr wie Lacan, wurde Dalis Bruder geboren. Er starb 1903. Lacans Bruder wurde 1902 geboren und starb 1904, in Dalis Geburtsjahr.


Spellbound (1945 Alfred Hitchcock)

Seinem „systematisierten Delirieren“ entsprach die Art, wie Dali sprach, eine unaufhörliche Attacke auf die korrekte Aussprache, mit der Ausdauer eines Kindes.

Dali und Lacan importierten Freud nach Frankreich. Philosophie aus Österreich gibt dem Gesprochenen den Vorrang vor der Schrift. Worüber man nicht schreiben kann, davon soll die Rede sein.


Dali & Dr. Lacan und Wittgensteins Hasen-Entenkopf

Jastrows berühmter „Hasen-Entenkopf“ beschäftigte Wittgenstein so sehr, dass er den Gesichtsausdruck und den Charakter des Hasen kritisch besprach.

Als Dali und Lacan, von gegenseitigem Respekt und gleichen Interessen erfüllt, einander in Paris zum ersten Austausch von Ideen trafen, da hatte der Maler etwas im Gesicht, etwas, das der Psychiater nicht ansprach: An Dalis Nasenspitze klebte ein Stück Zigarettenpapier. Das hatte beim Malen störende Reflexe auf einer Kupferplatte vermindern sollen, und war, wenn man Dali glaubt, ganz unabsichtlich an seiner Nase verblieben, ganz einfach vergessen worden. Erst anschließend, wieder allein, beim Blick in den Spiegel fiel es ihm auf. Aha, dachte Dali, war DAS also der Grund für die seltsame Art, wie Lacan ihn während des zweistündigen Gesprächs immer wieder angeschaut hatte?
„Aber warum haben Sie denn damals nichts gesagt?“ fragte Dali vier Jahrzehnte später beim Wiedersehen in New York…
Lacan war der Ansicht gewesen, Dali habe mit dem Papier auf der Nasenspitze eine irritierte Reaktion auslösen wollen, und deshalb hatte Lacan mit keiner Wimper gezuckt.


The Chase (1946 Arthur Ripley)

Der Gangster (Steve Cochran) ist auch Kind und Sadist.
In Bologna sah ich Steve Cochran in Tomorrow is another Day (1951 Felix Feist). Da spielte er einen, der mit 13 wegen Mordes ins Gefängnis kam und achtzehn Jahre später, wieder auf freiem Fuß, nichts über das Leben oder die Liebe weiß. Doch schlimmer als seine Unerfahrenheit ist die dunkle Ahnung, dass sich im Leben alles endlos wiederholt.


Jules Verne: „Fünf Wochen im Ballon“, 1863

„Ich werd‘ verrückt: da drüben fliegt noch ein Ballon… gib Zeichen mit der Fahne… tatsächlich sie erwidern… eine englische Fahne, genau wie unsere… “

Nachdem die Täuschung erkannt und auf Luftschichten verschiedener Dichte zurückgeführt ist, sagt einer der drei Reisenden: „Ich finde, wir sehen in diesem Luftspiegel recht imponierend aus.“


Bedelia (1946 Lance Comfort)

Eine schwarze Perle. So wertvoll, dass Bedelia (Margaret Lockwood) ihren Besitz als Fälschung ausgeben muss, um sich damit schmücken zu dürfen.
Sie will sich auch nicht fotografieren lassen. Aber in ihrem Schlafzimmer sind vier Spiegel.
Der Film enthüllt und feiert ihr Geheimnis, „the deepest of human mysteries – a problem that no detective, physician nor psychologist has ever solved.“


That Brennan Girl (1946 Alfred Santell)

Das Mädchen lernt den Gebrauch des Lippenstifts. Dem Film geht es darum, dass die Tochter anders werde als die Mutter, mütterlicher.

Von einigen der Filme, die von Republic produziert wurden, geht jene Faszination aus, die nur der Redner ausübt, der sich selber gründlich widerspricht.


The Secret Beyond the Door (1947 Fritz Lang),

A Universal Picture.
Verheiratet mit einem Mörder? Der Plot der 40er.
Ihr Mann sammelt Innenarchitektur – die Einrichtung von Räumen, in denen ein Mord geschah.

„Ich habe oft aus einem dummen amerikanischen Film eine Lehre gezogen.“ (Wittgenstein, 1947, Vermischte Bemerkungen)


Take My Life (1947 Ronald Neame)

Ein Mordfall. Das Medaillon führt auf eine Fährte. Die falsche. An die Unschuld des Angeklagten glaubt einzig seine Frau (Greta Gynt). Die folgt im Alleingang einer anderen Spur. Den Noten einer Partitur. Der deutsche Verleihtitel: Das Rettende Lied


The Paradine Case (1947 Alfred Hitchcock)

„Das Bewusstsein in des Andern Gesicht. Schau ins Gesicht des Andern und sieh das Bewusstsein in ihm und einen bestimmten Bewusstseinston. Du siehst auf ihm, in ihm, Freude, Gleichgültigkeit, Interesse, Rührung, Dumpfheit, usf. Das Licht im Gesicht des Andern.“ (Wittgenstein: Zettel)


The Amazing Mr. X (1948 Bernard Vorhaus)

Zwei Schwestern vor dem Spiegel. Es geht um die Quantität von Lippenstift und die Frage: Wer ist die Vernünftigere? Die Witwe hört nachts in ihrem zu großen Haus an der Steilküste eine Totenstimme. Die jüngere Schwester verliebt sich in einen Spiritisten. (Der wird gespielt vom erstaunlichen Turhan Bey.) Licht ins Dunkel bringt ein Detektiv, der einst Zauberkünstler war. Dunkel ins Licht bringt der Kamera-Magier John Alton.
Der Regisseur Bernard Vorhaus (schön ist auch sein Crime on the Hill von 1933) kam, vom FBI als verdächtig “vorzeitiger Antifaschist” klassifiziert, auf Hollywoods schwarze Liste und wurde in den 50ern in Italien unter Pseudonym Second-Unit-Regisseur von Wyler und Vidor.


The Weaker Sex (1948 Roy Ward Baker )

Ein Film gegen die Depression, die nach dem Krieg auf England lag.

„Ich stelle mir ein kleines Zimmer vor, das – an einen Fesselballon geknüpft – hoch oben in den Wolken hängt. Mein Schwebezimmer besteht aus einem Bett, in dem ich liege. Neben mir habe ich die notwendigsten Getränke, Rauchwaren und Nahrung. Niemand kann zu mir. Um mich sind nur Wolken. Ich habe Zeit. Ich könnte anfangen, mal Ordnung in mir zu schaffen. Wie eine alte Kommodenschublade kommt mein Hirn mir manchmal vor, vollgestopft mit Überflüssigem. Vielleicht ist hier und da auch was Brauchbares unter dem alten Ramsch. Ich müsste mal in Ruhe aussortieren können. Vielleicht würde ich auch zu faul sein, um in meiner Hirnschublade aufzuräumen, und würde sie einfach ausleeren. Vielleicht würde ich nur schlafen. Vielleicht würde ich wochenlang da oben bleiben, vielleicht würde ich nach ein paar Tagen wieder reif für die Menschen sein und sie nett und reizend finden.“ (Irmgard Keun: „Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen“, 1950)


Die Zeit mit Dir (1948 Georg Hurdalek)

Gegen die Depression: Die Dauerwelle. Es ist ihre erste.

Nachkriegszeit, das ist auch in den Filmen: Wiederbelebung durch Sex.

„Von den Sätzen, die ich hier niederschreibe, macht immer nur jeder soundsovielte einen Fortschritt, die anderen sind wie das Klappern der Schere des Haarschneiders, der sie in Bewegung erhalten muss, um mit ihr im rechten Moment einen Schnitt zu machen.“ (Wittgenstein, 1948, Vermischte Bemerkungen)


Höllische Liebe (1949 Géza von Cziffra)

Elfie Mayerhofer singt vor der südlichen Hemisphäre einer sich drehenden Weltkugel-Kulisse.

Ein alter filmkritischer Vorwurf lautet: historische Ereignisse seien „lediglich als Hintergrund“ (für irgendwas) benutzt worden. Ein intelligenter Mensch aber wird sich immer beschweren, nur als Vordergrund (für irgendwas) benutzt zu werden.

Geza von Cziffra hat mit Einstein und Schönberg Tischtennis gespielt; Tennis mit Staudte und Nabokov; er kannte alle. Seine Erinnerungen sind „Anekdoten-Raserei“, so nennt er die Sache selbst. Im Bastei-Lübbe-Taschenbuch (Wartesaal zum Ruhm, 1985) zitiert er gern ausführlich. Zum Beispiel den Dadaisten Huelsenbeck: „Der deutsche Dichter hat die Dichtung gepachtet. Er meint, das müsste alles so sein. Er begreift nicht, welch ungeheuren Humbug die Welt mit dem ‚Geist‘ treibt und dass es gut ist, dass Humbug damit getrieben wird.“


Night Unto Night (1949 Don Siegel)

Zwei Schwestern, Rivalinen, begrüßen einander im Spiegel. Und ein Arzt sieht tief ins Auge seines Patienten.
In einem alten Haus an der Ostküste Floridas treffen sich Geisterspuk und Epilepsie; eine schöne Witwe (Viveca Lindfors), die Stimmen hört, und ein Wissenschaftler (Ronald Reagan), der lieber tot als krank sein möchte. Der Meeresstrand und die Musik (Franz Waxman) geben dem Film die wesentlichen Konturen.


La beauté du diable (1949 René Clair)

Die Angst hat Michel Leiris mal gut beschrieben als das, was uns daran erinnert, „dass man selber dem körperlichen Verfall nicht entrinnen kann, wenn einmal die Uhr abgelaufen ist, und dass jetzt, wo das Alter meine Abwehrkräfte untergräbt, die ich noch nötiger hätte als je zuvor, meine abstrakte Angst vor dem Unausweichlichen tief genug ist, um von jedem beliebigen Umstand wachgerufen zu werden und sich praktisch in der Angst vor allem niederzuschlagen.“

In Friedrich Hollaenders Chanson „Das „Berg- und Talbahngefühl“ kommt die Angst in erster Person singular zu Wort, sie klagt, man habe sich an sie – den ständigen Begleiter – längst gewöhnt. Das wunderschön traurige Lied endet überraschend mit dem Rat: „Hab lieber Angst und sogar sehr, denn wer nicht Angst hat, der will gar nichts ändern mehr.“


The Red Menace (1949 R.G. Springsteen)

A Republic Production. Ein Journalist verlässt die Kommunistische Partei. In der Folge findet er nirgendwo mehr Arbeit. Überall kennt man seine Vergangenheit. Um ein Bild für seine Verzweiflung zu finden, geht die Republic-Produktion raus aus dem Studio auf unabgesperrte Locations, in die Stadt bei Nacht, wo der Ausgeschlossene umherirrt. Ob er will oder nicht, betritt der antikommunistische Film so den realen Alptraum des Antikommunismus.


Hellfire (1949 R.G. Springsteen)

Hellfire stromert stolz herum im Grenzgebiet von Feminismus und Fetischismus, in zweifarbigem Trucolor zwischen türkisem Himmel und orangenem Höllenfeuer.
Marie Windsor, Queen of the Bs, Swamp Woman, No Man’s Woman… Unter ihren 170 Filmauftritten war die gefährliche Doll Brown in Hell Fire ihre Lieblingsrolle.


1860 wurde Annie Oakley geboren.
1870 starben Dickens und Dumas.

Das wäre eine Kurzfassung des Rückblicks auf die 1860er. Ein Rückblick, den ich im nächsten Kapitel wagen will.

Noch einmal Jules Verne, Fünf Wochen im Ballon (1863): Um Mitternacht flammte es plötzlich überall auf. Tausende von Tauben mit ölgetränkten, brennenden Schwanzfedern durchkreuzten die Luft, sie waren losgelassen worden, den Ballon in Brand zu stecken.

Freitag, 10.04.2020

Retrospektive Klaus Wyborny

„… eine jener Gelegenheiten, denen man nicht zweimal begegnet.
Er fragte, ob ich etwas vorhätte in nächster Zeit.
In seinen grauen Augen glitzerte die Angst.
3 Tage später trafen wir Carla in Acapulco.“
Das offene Universum (1989 Klaus Wyborny)

Filmuseum München
ab heute auf vimeo

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Termine

Friday 10.4. to Monday 13.4.
Das offene Universum (1989) & Laudatio auf Tilda Swinton (2013)

Monday 13.4. to Thursday 16.4.
Hommage an Ludwig van Beethoven (1978/2006) & Zagreb Lecture (2010)

Thursday 16.4. to Friday 17.4.
Im imaginären Museum – Studien zu Monet (2014)
Mit Farocki denken (2015) & Bücher (2010)

Friday 17.4. to Monday 20.4.
Studien zum Untergang des Abendlands/Studies for The Decay of the West (1979/2010)

Monday 20.4.
Histoire du Cinéma (1974/2003)

Tuesday 21.4. to Wednesday 22.4.
Histoire du Cinéma (1974/2003)
Die Geburt der Nation – The Birth of a Nation (1973)

Wednesday 22.4. to Friday 24.4.
Sulla (2001)

Friday 24.4. to Monday 27.4
Syntax
Am Häuserfilm
Bartleby + Bartleby (englisch)
Der Ort der Handlung (alle 1976)

Monday 27.4 to Wednesday 29.4.
2084 (1982)
William Parmagino (1969)
Lecture: Wie mache ich einen Science Fiction Film. Tag 1 und 2

Wednesday 29.4 to Friday 1.5.
The Ideal Extended version (1974/78)
Auf der Suche nach dem verlorenen Schlachtfeld
Okto TV Interview with K. W.

Friday 1.5 to Monday 4.5.
Syracuse (2012)
Talk Wien Syrakus

Monday 4.5. to Wednesday 6.5.
Eine andere Welt
Zwischen den Bildern Interview with K. W.

Wednesday 6.5. to Friday 8.5.
Dämonische Leinwand – Demonic Screen (1968/70)
Interview 2016 with K. W. (Philosophenturm)

Friday 8.5. to Monday 11.5.
Unerreichbar heimatlos – Unreachable Homeless (1977)
Pictures of the Lost World (1974)
Berlin Lecture: Physics and film

Monday 11.5 to Wednesday 13.5
Am Rand der Finsternis – At the Edge of Darkness (1985)
Gnade und Dinge – Grace, Things (1985)

Wednesday 13.5. to Friday 15.5.
Verlassen; Verloren; Einsam, Kalt – Abandoned; Lost; Lonely, Cold (1992)
Ein Abend in Hammamet (2002)

Friday 15.5. to Monday 18.5.
Aus dem Zeitalter des Übermuts – From the Age of Lightheartedness (1993)
A room of my own (2009)
Interview mit Klaus Wyborny (1994)

Monday 18.5. to Wednesday 20.5.
Das letzte Jahr – The Last Year (2009)
Percy McPhee Agent des Grauens [Komplett] (1970)

Wednesday 20.5. to Friday 22.5.
Early Forms of Filmic Narration – Italien im Mittelalter (2017)
Die Vorhallenmosaiken von San Marco (2017)

Friday 22.5. to Monday 25.5.
Das Licht der Welt – The Light of the World (2015)
Im Imaginären Museum II Westwerk (2012)

Catalogue raisoné of Wyborny’s film- and videoworks
http://wyborny.cinegraph.de/Wymac/ATYPEE/Vita/Materie/Catal.htm


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