Einträge von Volker Pantenburg

Sonntag, 23.10.2005

Nach Wien (II)

Leaving Home, Coming Home (Fox, 2005): Anders als üblich läuft der Film auf der Viennale nur einmal. Der Grund: Robert Frank, den Gerald Fox gegen jede Wahrscheinlichkeit ausführlich porträtieren durfte, hat verfügt, der Film dürfe höchstens zwei Mal pro Jahr gezeigt werden (und einmal war er bereits in Rotterdam zu sehen). Neunzig Minuten später glaubt man, Franks Motive zu kennen: Wenn von seiner Zeit in Paris die Rede ist, ist ein Amélie-Akkordeon zu hören. Wenn es um New York geht, serviert Fox uns Cool Jazz. Und so weiter. Man gönnt es dem Film kaum, dass seine Plattheit dann doch oft durch die Sprödheit Franks austariert wird. ++++ Xin nuxing (Chusheng, 1934): Gegen Ende des Films erkrankt die Tochter der selbstbewussten Schriftstellerin an Lungenentzündung. Um die Medikamente bezahlen zu können, muss die sich mit einem unangenehmen reichen Typen einlassen. Wenn man genau hinsieht, wird man in fast jeder Szene den Kondens-Atem vor den Mündern der Schauspieler erkennen können – egal, ob es sich um Innen- oder Außenaufnahmen handelt. Die Filmstudios Shanghais müssen kaum beheizt gewesen sein, und die fiktive Lungenentzündung bekommt einen ungewollten Rückhalt in der Realität. Wie macht sich das im Spiel bemerkbar, wenn man kurzärmelig entspannt im Wohnzimmer sitzen soll und der Körper tatsächlich vor Gänsehaut und Zähneklappern nicht weiß wohin? ++++ Screen Test Reel 20 (Warhol, 1964-1966): Allein der Name: Baby Jane Holzer! Und dann ihre 1964 wahrscheinlich schon weltbekannte Kaugummi-Nummer: Alles mit dem Mund! Die Packung in einer langsam kreisenden Bewegung aufreißen, den Kaugummi Stück für Stück rausziehen, das Silberpapier abstreifen, dann in kleinen Bissen rein damit. A Definition of Cool, if ever there was one. Überhaupt ist Reel 20 eine ziemliche Action-Reel: Lou Reed isst im Profil einen Apfel. Eine Strähne aus Nicos Pony hat sich in ihrer Wimper verfangen und versetzt beides in eine leichte Schwingung. Peter Orlovsky macht unangemessene Faxen. Eine Screen-Test-Lektion: Dass scheinbar nichts passiert, bedeutet zugleich, dass jederzeit alles passieren könnte. ++++ Screen Test Reel 19 (Warhol, 1964-1966): Das Filmmuseum, dessen Programmierung ohnehin den ein oder anderen neidischen Blick aus Berlin auf sich zieht, erlaubte sich und uns den extravaganten Luxus, am Sonntagnachmittag vier Stunden „Screen Tests“ zu zeigen. Wir kommen in der Mitte von Reel 19, sehen Taylor Mead, Susan Sontags Sonnenbrille, das Doppelporträt von Fagan/Malanga. Verfolgen eine Träne, die James Clair langsam die linke Wange herunterrollt. Sehen Ondine, der später dann in der letzten Rolle „Chelsea Girls“ austickt, und Ruth Ford. Ab und zu ist weiter vorne rechts das vertraute Husten von M.B. zu hören, der diesmal vorausschauend eine Stange Camel ohne nach Österreich importiert hat. ++++ Geminis (Carri, 2005): Warum sollte man heute noch eine Geschichte erzählen, die vor allem nach Dekadenz, 19. Jahrhundert und frühem Thomas Mann schmeckt? Das großbürgerliche Ambiente, der Inzest unter Zwillingen, die bewusstseinsverändernden Substanzen, die Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. Als die Mutter die Geschwister nackt ineinander verknäult im Jugendzimmer-Bett erwischt, öffnet sie den Mund zu einem Schrei, der markerschütternd ist, obwohl die Regisseurin den Ton vollständig abdreht: Ein simples, aber wirkungsvolles Verfahren, um „Trauma“ zu sagen. Kann sein, dass das Setting von „Geminis“ in Argentinien nichts Anachronistisches hat, sondern etwas über ein 19. Jahrhundert erzählt, das dort auch im 21. den sozialen Raum definiert. ++++

Samstag, 22.10.2005

Nach Wien (I)

Shen nu (Yonggang, 1934): In Shanghai wurden noch bis 1935 Stummfilme produziert. Im gleichen Jahr hat sich der chinesische Filmstar Ruan Lingyu das Leben genommen. Tausende waren bei ihrer Beerdigung, ‚heuer‘ wird sie mit mehreren Filmen in Wien gewürdigt. „The Goddess“ bedeutet der Titel, und sicher war damit die Rolle ebenso bezeichnet wie die junge Schauspielerin. Man glaubt, den Typus der verzweifelten Frau längst zur Genüge zu kennen, die ihren Körper verkaufen muss, um ihrem Kind die Schule zu bezahlen. Ruan Lingyu jedoch kostet die Effekte, die sich aus der gesellschaftlich erzwungenen Doppelmoral ergeben könnten, nicht aus. Statt auf Verstärkung setzt sie auf Stärke. ++++ A perfect Day (Hadjithomas / Joreige, 2005): Der Mittzwanziger Malek, der heute mit seiner Mutter den seit dem Libanonkrieg verschollenen Vater für tot erklären lassen wird, ist bei einer ärztlichen Untersuchung: Immer wieder, mitten im Lärm einer Baustelle, in der Disco, einmal am Steuer seines Wagens vor der Ampel, nickt er ein. Nach der Auswertung des Schlafvideos, auf dem seine Atmung manchmal kurz aussetzt, horcht die Ärztin ihn ab und fragt: „Rauchen Sie?“ Dann folgt ein Schnitt, und wir sehen die beiden durch einen Nebenausgang aus dem Krankenhaus rausgehen. Sie lehnen sich an ein Geländer, er greift in die Hosentasche, und beide zünden sich eine Zigarette an. ++++ Careless Reef Part 4: Marsa Abu Galawa (Holthuis, 2004): Seit Mitte der Neunziger Jahre gibt es den Begriff der Visuals: Bildfolgen, die im Club als beweglicher Wandteppich projiziert werden, zur Beleuchtung der Tänzer. Auch die alberne Abkürzung „VJ“ hat man sich einfallen lassen. Für Serge Daney ist das Visuelle ein Gegenbegriff zum Bild; sein böser und korrumpierter Doppelgänger im TV und in der Werbung. Eine abgedichteter Kosmos, der keine Fragen stellt. Mag sein, dass man zu Holthuis‘ wild geschnittenen Korallenriffkaskaden, die synchron zu einer türkischen Abgehnummer montiert sind, gut tanzen kann. Oder im Fernsehen für die Erhaltung der wunderbaren Natur werben. Im Kino dagegen braucht kein Mensch so was. ++++ Outerborough (Morrison, 2005): Morrison verdoppelt einen American Mutoscope-Film von 1899 und stellt die Bilder im simulierten Scope-Format nebeneinander: Eine Straßenbahn fährt von Manhattan über die Brooklyn Bridge nach Brooklyn. Wir sehen das einmal vorwärts, einmal rückwärts, dann in doppelter, vierfacher, achtfacher und-so-weiter Geschwindigkeit. Schließlich überlagern sich die Bilder, und der Prozess kehrt sich um. Konzeptuelle Montagefilmer wie Standish Lawder oder Ken Jacobs saßen mit Sicherheit nächtelang verzweifelnd am Schneidetisch, um solche Effekte zu erzielen. Hier, so der Verdacht, genügt es, per Tastendruck einen Befehlsalgorithmus über das Material laufen zu lassen. Was dabei rauskommt, erzeugt – Romantisierung der Sisyphos-Arbeit hin oder her – trotzdem kleine Glücksmomente. ++++ Ice/Sea (Ostrovsky, 2005): Wahrscheinlich soll der Titel eine Lautähnlichkeit zu „I see“ suggerieren, aber zu erkennen im emphatischen Sinne ist in Ostrovskys viel zu langer, viel zu diffuser Montage: nichts. Auf der Berlinale konnte ich rausgehen, hier ist der Film in ein Kurzfilmprogramm eingekeilt, und den nächsten Film will ich sehen. Also lasse ich widerwillig die Eisberge, die Strände, die putzig stolpernden Pinguine, den Tiger, der aus dem Wasser springt und die Badenden in Aufruhr versetzt, an mir vorüberziehen. Als Ostrovsky gar nichts mehr einfällt, schwebt eine drittklassig animierte CGI-Frucht von einem Obstkorb in die nächste Einstellung hinüber. Nicht doch. What a waste. ++++ Reckless Eyeballing (Harris, 2004): Im Netzwörterbuch gibt es eine lange Diskussion darüber, was unter „Eyeballing“ zu verstehen sei. Kurioserweise bedeute es ein flüchtiges Drübergucken, wenn man von Dingen, zum Beispiel Dokumenten spreche, aber ein intensives Anstarren, wenn es sich auf Personen beziehe. Harris‘ Film, der damit den Terminus für die bis in die 60er Jahre inkriminierten Blicke von schwarzen Männern auf weiße Frauen zitiert, ist flüchtig und intensiv zugleich. Grobkörnige Zeitungen, Filmaufnahmen, ein hochkopiertes Fahndungsplakat, Zwischentitel aus ‚Birth of a Nation‘, handentwickeltes Schwarzweiß, Loops. Alles herumgebaut um die Wahlverwandtschaft von Pam Grier und Angela Davis. Die Attraktivität des Outlaws, der Angst und Lust erzeugt. ++++ I a Man (Warhol, 1967): Für mich sind die ersten Worte im ersten Film meiner ersten Viennale: „You gotta get up“. Einer dreht sich widerwillig um im Bett, versucht schwach, sich gegen die insistierende Stimme zu wehren. Um 4.00 Uhr früh waren wir gequält aufgestanden, U-Bahn nach Tegel, Flieger nach Wien. Dass Warhol eines der Highlights der kommenden Tage sein würde, wussten unsere müden Hirne da noch nicht. „The staircase conversation between Tom Baker and Valerie Solanas […] couldn’t have been a stronger demonstration of her theories about men had she scripted it all by herself“, schreibt Thom Andersen in einem schönen Katalogtext über Warhol. ++++

Donnerstag, 13.10.2005

At the Academy (Guy Sherwin, 1974)

„Academy Leader“ heißt das Vorlaufband, das den Filmvorführern zur Justierung von Schärfe, Bildstrich und Kader dient. Der Countdown ist da drauf, geometrische Symbole, die „Start“-Markierung und der kurze Beep. Gut strukturalistisch kopiert Sherwin den Filmstreifen übereinander, legt Filter drauf, schichtet den Ton übereinander. In der zweiten Hälfte des Films, nach etwa zwei Minuten, legt er eine Positiv-Kopie um ein oder zwei Bildkader versetzt auf das Negativ und belichtet beides. Als er das Ergebnis gesehen hat, einen wunderbar dreidimensionalen Relief-Effekt, den er vielleicht geplant, aber bestimmt nicht exakt so hat voraussehen können, muss er vor Freude an die Decke gesprungen sein.

Dienstag, 06.09.2005

Langtext-Hinweis

Im August wurde im Fernsehen „Remorques“ von Jean Grémillon gezeigt; ein Anlass, in den beiden Filmkritik-Heften zu lesen, die Peter Nau geschrieben und zusammengestellt hat. Am Ende des ersten Hefts, Juni 1982, heißt es über Grémillons frühe Filme: „Was diejenigen der Filme betrifft, die am Anfang dieses Textes, auf den Spuren von Jean Grémillon, keine Erwähnung gefunden haben, so ging es in ihnen, die entstanden sind zwischen 1923 und 1926, um folgendes: den Straßenbelag; die Fabrikation des Fadens; vom Faden zur Nadel; die Herstellung des künstlichen Zements; das Bier; das Kugellager; die Parfüms; das Ausziehen der Glühbirnen; die Ausbildung von Straßenbahnfahrern; die Elektrifizierung der Strecke Paris-Vierzon; die Geburt der Störche; die Stahlhütten der Marine und von Homecourt; eine Seereise über den Atlantik.“ Im zweiten Heft, April 1983, ist ein Text aus Grémillons Nachlass abgedruckt, den man jetzt – ein Dank dafür an Peter Nau – auf unserer Langtextseite lesen kann.

Freitag, 02.09.2005

FRAME BY FRAME

What shape might film theory take in a post-film world? How might new interfaces – such as the web and more specifically the blog – make possible new structures and discourses of criticism? Whereas a paper book containing a frame-by frame analysis of a two-hour feature film is a practical impossibility, a web site devoted to such a project is unlikely, but possible.

[FRAME 1]

Parameters and Constraints

1. Blue Velvet is approximately two hours long.

2. The analysis is to be conducted frame-by-frame, which is to say: frame step-by-frame step on an Apple PowerBook G4, which turns out to be approximately 24 „frames“ per second.

3. In Blue Velvet there are approximately 172,800 frames, at approximately 24 frames per second. (Everything here – all the calculations – are approximate. I use the word „frame“ here in a sort of metaphorical way. Many thanks to Stuart Willis and Will Luers for input regarding DVD frame rate.)

4. A frame-by-frame analysis of Blue Velvet would take 473 years assuming one frame is presented per day.

5. I hope to offer 2 or 3 frames per week.

6. Annotations are to be no longer than 5 sentences per frame. Sometimes there will be no annotations at all–just the frame.

[Dank an Klaus Volkmer für den Hinweis.]

Mittwoch, 31.08.2005

TV-Hinweis / Langtexthinweis

Wie es zu solchen Sendeplatz-Entscheidungen kommt, fragt mich M. am Telefon. Ich weiß es nicht, antworte ich. Wahrscheinlich würde es mich nicht glücklicher machen es zu wissen.

„Marseille“ von Angela Schanelec wird heute abend, besser gesagt: morgen früh um 1.05 Uhr auf Arte in die leeren Wohnzimmer mit den leise surrenden Videorecordern hineingestrahlt. Ich erinnere mich, dass mir nicht nur der Film, sondern auch eine Reihe von Texten gefallen hat, die sich dem Film verdanken:

Daniel Eschkötter: Nichts der Provokation und Alles der Sache [Filmtext]

Matthias Dell: Un-Totentanz [Freitag]

Eine schöne Vorbereitung, Verlängerung, Rahmung des Films sind immer noch und weiterhin Angela Schanelecs Aufzeichnungen aus Marseille:

Angela Schanelec: Marseille 1.-10. März

Ein Text mit Notizen, der nach einer Vorführung des Films im Dezember 2003 entstand und sich dann eineinhalb Jahre lang hier in einer Nische meiner Festplatte versteckte, steht jetzt auf der Langtextseite: Nochmal Marseille.

Dienstag, 30.08.2005

Kino-Hinweis

Am 2. September wird der Film „Die Quereinsteigerinnen“ um 21.00 Uhr im Arsenal gezeigt. Die Regisseure Rainer Knepperges und Christian Mrasek sowie die Schauspielerin Claudia Basrawi (rechts im Bild) und der Schauspieler Mario Mentrup werden da sein.

Wer sich professionell auf den Freitagabend vorbereiten will, kann dies faltenderweise mit der beiliegenden Telefonzelle oder lesenderweise mit dem hier verlinkten Text tun.

Noch was: Uns ist das enthusiastische Urteil einer Österreicherin über den Film zugespielt worden, das wir hier auszugsweise zitieren: „Zu allem kommt dann noch, dass absurderweise mehrmals plötzlich Gegenstände aus der Wohnung meiner Eltern aufgetaucht sind, z.B. diese grauenvolle braune Fransenlampe (Hänge- und Stehlampe!!!) – ich schwöre, wir hatten genau diese, ich bin damit aufgewachsen. Und wenn ich meinen Scheitel ändere, nehm‘ ich auch immer Nivea! Jetzt muß ich leider aufhören mit der Lobeshymne und an dem blöden Softwarehandbuch weiterschreiben, sonst wird’s nicht fertig bis morgen.“

Donnerstag, 25.08.2005

Langtexthinweis

Ein paar Dinge über Michel Delahaye stehen hier.

Freitag, 12.08.2005

Langtexthinweis [= Hände IV]

„Die Angst vor den Händen, die im Spiel sind, den Händen, die berühren und berühren wollen, als gehorchten sie keinem Willen, Hände, die zurückzucken und zurückgwiesen werden und ein Wille, der nicht weiß, ob er den Händen folgen kann, die wie abgetrennt vom Willen und vom Körper tun, was sie wollen. Hände.“

(Wunder II) Lucrecia Martel: La Niña santa (Argentinien 2004), ein Text von Ekkehard Knörer.

Freitag, 05.08.2005

Polen

I.
Eigentlich waren wir wegen des quietschenden Vorhangs vor der Leinwand in den Badeort gefahren. Und wegen des amerikanischen Mainstream-Programms, das man in dem um diesen Vorhang herumgebauten Kino mit halb- oder einjähriger Verspätung nachholen konnte. Ganz relaxt nach einem Strandtag, um den Sonnenbrand runterzukühlen. Letztes Jahr saßen wir da fast jeden Abend auf realsozialistischen Klappsitzen und sogen den Geruch von Reinigungsmitteln ein, der mich an die Jungendherberge in Dresden 1991 erinnerte. „Something’s gotta give“, „Stepford Wives“, „Twisted“, der auf polnisch „Amnezja“ heißt und damit das Entscheidende gleich mal vorneweg verrät (wie mir ein Spanier 1998 in Paris erzählte, dass „Psycho“ in Portugal unter dem Titel „Die Mutter war er“ gelaufen sei).
Dann, ein Schock, war das Kino abgerissen und keiner wollte davon gewusst haben: Die Touristeninformation, das „Cinema-Café“ an der Strandpromenade, der Alte mit dem ausgeblichenen LOVE-Tattoo auf dem Arm, der uns das Zimmer vermietet hatte: Fehlanzeige. Wobei dieser Alte nochmal eine Nummer für sich war: Als wir die Rucksäcke auf dem Bett abgestellt hatten, zeigte er auf S., sagte mit rollendem r „FRAU“ und bedeutete ihr, mitzukommen. Als sie zwei Minuten später zurück war, hatte er ihr den Kühlschrank, den Herd und das Bügelbrett gezeigt. Wie Robert Mitchum sah er aber nicht aus.

II.
Abends im Zimmer, draußen bellen die Hunde: Kleines Fernsehspiel im noch kleineren Fernseher; 36 cm gefühlte Bildschirmdiagonale. Richy Müller ist ein traumatisierter U-Bahn-Fahrer, der sich nach ihrem Tod mit der vor seinen Zug gesprungenen Nicolette Krebitz anfreundet. Die beiden fahren nachts zusammen Auto, sie überrascht ihn auf der Big Lebowski-Gedächtnis-Bowlingbahn. Einmal sitzen sie auf dem Dachboden und reden über das Glück. Krebitz spielt die Tote sehr lebendig, Richy Müller trägt meist einen fünf Maschen zu norwegischen Norwegerpullover und einen braunen Mantel mit Fellbesatz am Kragen. Zuviel Kostüm, zuviel Ausstattung, zuviel Kamera, und dann noch alles mit so einem dezenten Understatement gefilmt. Die Kamera ist fast immer in langsamer Bewegung, Abtastungen, zwischendurch, TRAUMA, schickt sie uns im Zeitraffer durch die U-Bahn-Röhren. Dafür gab’s einen Kamerapreis, lese ich später, als ich wieder zurück in Berlin bin. Statt einmal kurz durchs Bild zu rennen, hat der Regisseur seinen Namen oben als Fahrtziel in die Tafel über dem Führerhäuschen geschrieben. Rohdestrasse, der Zug endet hier, bitte alle aussteigen.

III.
Am Strand erscheinen manchmal Nachrichten auf dem Telefon. Drei Tage nach der Ankunft zum Beispiel eine von O2. Willkommen, ich könne jetzt im „era“-Netz telefonieren, was ich seit drei Tagen mache. M. schickt kurze Neuigkeiten aus Berlin. Ein paar Texte seien schon angekommen, ein sehr schöner zum Beispiel, in dem der wunderbare Satz steht: „Das Messer klappt zufrieden auf.“

IV.
Der Kino-Abriss hatte uns kurz befürchten lassen, zu wenig zum Lesen dabei zu haben: Komischerweise kann man hier, wo es touristischer kaum sein könnte – mit Rummelplatz, Fressbuden noch und nöcher und einem muskelbepackten Trike-Fahrer, der seine Maschine abends an der Promenade hinstellt und sich daneben -, nirgendwo eine Zeitung kaufen, geschweige denn eine deutschsprachige (dabei sind wir nur 15 km von der Grenze entfernt).
M. hatte mir zwischendurch immer mal wieder Ross Thomas-Romane zugesteckt, wenn er welche auf dem Flohmarkt fand, aber ich hatte nie den Moment gefunden, einzusteigen. Jetzt bin ich froh, zwei Tage mit Artie Wu und Quincy Durant verbringen zu können und mit Thomas‘ lässigem Wissen von Geschichte, Erzählökonomie und Plotverquirlung. Dann das Mitchumdings von Althen, ein Auftragsjob, wie’s scheint. Aber das Buch des Jahres ist für mich Lethems „Fortress of Solitude“. Die Lust, das Buch in die Hand zu nehmen. Der Wunsch, dass es noch dicker sein sollte. Die Verlangsamung des Lesetempos am Ende, damit es nicht aufhört. Die letzten Seiten in der S-Bahn nach Berlin.


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