Nach ungefähr vier Minuten begann man, die Unruhe im kleinen Raum des Schachtelkinos zu spüren. Jemand in der Reihe vor mir drehte sich um und schaute in die Richtung, aus der er das Licht des Projektors erwartete. Irgendwo weiter hinten geriet eine typische Vor-Film-Unterhaltung ins Stocken und versickerte dann ganz. Jemand stieß eine Bierflasche um. Die Werbung und auch die Werbung für die Werbung war vorbei; wenn noch Eis verkauft werden sollte, wäre es jetzt dafür zu spät. Es vergingen weitere drei Minuten. Nichts passierte.Zuerst hatte ich nur flüchtig daran gedacht, aber dann gefiel mir der Gedanke immer besser, dass dies vielleicht schon Godards Episode sein könnte. „Dans le noir du temps“, den Titel hatte ich irgendwo gelesen, sonst wusste ich nichts außer der Dauer von zehn Minuten. Dunkel war es, Zeit verging auch: Alles stimmte. Noch eine Minute später konnte ich es mir schon nicht mehr anders vorstellen. Es kam mir schlüssig vor, dass auf die vielschichtigen Bild- und Tonüberlagerungen der „Histoire(s) du cinéma“, auf die vierstündige Bildexplosion nun eine zehnminütige Bilderlosigkeit folgen müsste. Als hätte er sich und uns soviel Text, so viele Bilder und so viel Musik auf die Seite geschafft, dass wir jetzt noch eine ganze Weile davon zehren könnten im dunklen Kinosaal, durch die Erinnerung an die Geschichten der Geschichte. Rückzug, Askese, ein Echoraum, in dem die Unzahl von Bildern weiterhallt, die er durch den Schneidetisch hatte laufen lassen, angehalten, verlangsamt, übereinandergelegt, beschriftet, verfremdet, besprochen.
Kurz darauf ging der Film dann los, scheinbar gab es nur ein paar Komplikationen beim Einlegen der Rolle, oder der Vorführer hatte sich noch ein Bier geholt, „bei der Hitze“. Für mich war durch die schwarze Zeit vor dem Anfang eine Lücke entstanden, in die sich Godards Film siebzig Minuten später als letzte der acht Episoden hineinfügte. „Dernières Minutes de…“ erscheint da immer wieder auf der Leinwand, in der einfachen Druckschrift, die man seit den Videoarbeiten aus den Siebzigern kennt. Letzte Minuten „des Muts“, „der Angst“, „der Liebe“, „des Kinos“, „der Stille“.
Wahrscheinlich liegt es daran, dass seit Jahren kein neuer Godardfilm mehr im Kino lief; jedenfalls war ich von den Bildern so ergriffen – sagt man das? – wie im Kino schon lange nicht mehr. Wie Notizen aus dem Nachlass kamen mir die verlangsamten Sequenzen vor, von einem, der lebendig, aber zugleich schon mit einem Blick von Außen, von ganz woanders her seine Papiere ordnet, hier etwas markiert, ein Photo zur Hand nimmt, einen Satz von Wittgenstein aufgreift, sich in den bearbeiteten Einstellungen aus „Made in USA“, „Vivre sa vie“, „Le petit soldat“ wiederzufinden versucht. „Les miroirs feraient bien de réfléchir avant de renvoyer une image“ füllt in „2 X 50 ans de cinéma francais“ (1995) mehrmals den Bildschirm. In der Übersetzung geht viel verloren: Spiegel täten gut daran, nachzudenken (zu reflektieren), bevor sie ein Bild übertragen. Auf eine unbestimmte Art hatte ich das Gefühl, dass Godard sich hier vor und – wie Alice, mit deren Rätseln Emily Brontë in „Weekend“ den Ehemann zur Verzweiflung treibt – hinter den Spiegeln befindet. Und der (verfremdende) Spiegel ist er ebenfalls.
Ein paar Tage vorher hatte ich noch mit M. darüber gesprochen, ob es so was wie „gelungene“ Episodenfilme gibt, die nicht nur als Zeitdokument oder aufgrund einzelner Segmente (wie Teile von „Loin du Vietnam“ oder Fassbinders Klaustrophobie-Flash in „Deutschland im Herbst“) interessant sind, sondern auch als Gesamtfilm funktionieren. Er war skeptisch, und auch mir fielen immer nur tolle Einzelepisoden ein. Aber jetzt im Kino fand ich, dass das Hintereinander etwas für sich hat, wie bei einem guten Sampler, bei dem man sich über die schlechten Lieder freut, weil sie einem zeigen, was man an den guten Stücken hat. Und gerade die Bruchstellen zwischen zwei Filmen machen dann eben doch manches klar: Wenn zum Beispiel etwas noch gedanklich rüberragen will über den Rand, aber vom nächsten Film gleich brutal plattgebügelt wird, wie es am Übergang von Claire Denis zu Volker Schlöndorff besonders unangenehm auffiel.
Denis aktualisiert eine Episode aus „La Chinoise“: In einem Zugabteil unterhält sich eine Studentin, die die gleiche Schirmmütze trägt wie 1967 Anne Wiazemsky, mit Jean-Luc Nancy über das Fremdsein. „Vers Nancy“ heißt die Episode: Nach Nancy im mehrfachen Sinne, und eben auch nach Jean-Luc. Konzentiert, aber zugleich völlig entspannt werden im Gespräch Gedanken hin- und hergespielt, Zweifel artikuliert, Aporien aufgespürt, die keine Sackgassen sind, sondern auf neue Gedanken stossen lassen: Der Fremde als Eindringling, als Gast, von dem Assimilation verlangt wird, der aber zugleich seine Eigenheit behalten soll. Jemand, von dem man erwartet, dass er einen überrascht – eine unmögliche Aufgabe. Im Gang steht währenddessen ein Schwarzer und hört lange mit, bevor er sich schließlich zu den beiden ins Abteil setzt. Man kann solche Fragen von Außen und Innen, von Dazugehören-müssen und Man-selbst-sein-wollen also ganz nüchtern in klaren schwarz-weissen Bildern und wenigen Einstellungen auf die Gesichter und die Landschaft draußen inszenieren (und dabei das Problem von Eigen und Fremd im Verhältnis des Films zur Godard-Vorlage nochmals fast unmerklich verdoppeln.) Dann kommt Schlöndorffs Episode, die so großspurig mit „Enlightenment“ betitelt ist, dass auch die ironische Brechung des Titels am Ende nichts retten kann. Augustinus‘ Reflexionen über die Zeit werden hier einer Mücke in den Mund gelegt und in schwindlig umherkurvende Bilder gepackt, die in jeder Sekunde virtuos Leichtfüßigkeit zeigen wollen – wohl um die stereotype Tumbheit der Bilder vergessen zu machen. Ein Teil des Films spielt auf einem Campingplatz in Ostdeutschland, und es gibt da eine schwangere junge Frau, die ihren Eltern den Vater ihres Kindes („einen Afrikaner“) vorstellt. Skinheads dürfen nicht fehlen, Alkohol und Grillwürstchen sind auch im Spiel – man kann das hier eigentlich abbrechen, jedes weitere Wort wäre zuviel. Die gedankliche Komplexität (und die Lust am Nachdenken), die man im Zugabteil spüren konnte, wird hier zugunsten des flachen Schematismus‘ von Glatze vs. schwarze Hautfarbe rücksichtslos wieder eingedampft.
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Schlöndorff den Nicht-Film gemacht hätte, den ich zu Beginn Godard zugeschrieben hatte. Aber natürlich wäre das nicht das selbe Nichts gewesen, ein anderes Schwarz, eine andere Zeit.