Filme der Fünfziger X: Primanerinnen
Ein offener Zweisitzer, ein alter DKW, tuckert zu amerikanischem Big Band Swing über eine nahezu autofreie Landstrasse und bleibt schließlich stehen – Thomas (Walter Giller) kann den Schaden nicht reparieren und Regine (Christiane Jansen) muss deshalb nach Frankfurt trampen. „Nazi“ ruft Thomas einem Autofahrer hinterher, der nicht anhält. Bad Hersfeld liegt nahe; dort hat Thomas seine letzten Jahre als Gymnasiast verbracht und mit Ursula (Ingrid Andree) eine Liebesgeschichte erlebt. Ein Volkslied „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er die weite Welt“, begleitet Thomas Ankunft in Bad Hersfeld. Aber es geht nicht hinaus, sondern in einer Rückblende zurück in die Innerlichkeit und eine Vergangenheit romantischer Probleme.
Musiklehrer Tobias Kraushaar(Erich Ponto, die Standardbesetzung für etwas biedermeierhaftige, auch altersweise Autoritäten) öffnet die Pforte zur Zeitreise. Er erzählt von Ursula, die Thomas vor zwei Jahren in Bad Hersfeld bei einer Geburtstagsfeier kennengelernt hatte. Für den Primaner Thomas ist die Perspektive des Alterns ein Problem. Thomas ist zumute, „als müsste man heulen. Man weiß eigentlich nicht warum – vielleicht, weil man nichts ändern kann. Alles ist so vorgeschrieben, das Jungsein und das Altwerden. Vielleicht haben wir jetzt unsere kritischen Jahre, wo man sich entscheiden muss, ob man Bürger sein will oder Mensch. Wenn man nur Mut hätte.“. Der jugendliche Weltschmerz von Thomas ist nicht von langer Dauer. Er verliebt sich in Ursula, die wiederum in stiller Idealisierung von Hans Rühle (Jochen Wolfgang Meyn)verehrt wird. Hans hat für Ursula ein Lied komponiert, das Filmkomponist Hans Martin Majewski zum Leitmotiv für die Liebesgeschichte zwischen Thomas und Ursula umfunktioniert. Thomas läuft in kurzen Hosen herum, Hans Rühle dagegen trägt Anzug und einen Geigenkasten unter dem Arm. Für Hans ist das Leben voller Probleme, Thomas nimmt es leichter. Er lässt sich von Ursulas koketter Zickigkeit nicht abweisen und verbringt mit ihr einen Sommer der Verliebtheit bis Ursula ihrem Vater auf einen entfernten Hof folgt. Thomas bleibt in Bad Hersfeld, macht sein Abitur und zieht nach Hamburg. Jetzt, nachdem er zwei Jahre nichts von sich hat hören lassen, entschließt er sich, Ursula zu besuchen. Aufs Neue verliebt er sich und aufs Neue muss Ursula ihn ziehen lassen.
Viel Anfang ist mit dem Film verbunden, wenig Neues wird gewagt und manches Missverständnis tut sich wichtig. Rolf Thiele hatte 1946 mit Hans Abich in Göttingen die „Filmaufbau“ gegründet; dies ist seine erste Regiearbeit. Eigentlich sollte Alfred Braun die Inszenierung übernehmen; er spielt als Schmied und Hotelportier zwei kleine Nebenrollen. Für die weibliche Hauptrolle suchte man ganz öffentlich ein neues Gesicht; 1.400 junge Frauen meldeten sich, gewählt wurde Ingrid Andree, die gerade im Thalia-Theater in Hamburg angefangen hatte. Auch für Walter Giller war dies die erste Hauptrolle. Das sollte ein Film der neuen Gesichter werden, ein Film der Jugend. Die literarische Vorlage war die Erzählung „Ursula“ von Klaus Erich Boerner; das Buch war bereits 1936 erschienen und hatte sich in den Kriegsjahren zu einem Bestseller entwickelt. Taufrisch war der Stoff also nicht und auch über die Jugend erfährt man rein gar nichts. An die Adoleszenz-Krise, die Walter Giller in die schwammige Frage fasst, „ob man Bürger sein will oder Mensch“, erinnert sich Ursulas Vater mit den gleichen Worten. Diese Frage haben sich doch alle schon mal gestellt – hatte es in der Vergangenheit keine größere Sinnkrise gegeben?
Es geht auch nicht um „Primanerinnen“, sondern um einen Jugendlichen, der sich nicht zwischen zwei Mädchen entscheiden kann. Chorgesang und Tradition bremsen jeden Ansatz zur Moderne aus; die Anspielungen auf die Gegenwart –in einer Schulstunde wird der Film „Die Sünderin“ diskutiert –wirken wie nachgeschoben. Der Kameramann Georg Krause nimmt nachtschwarze Bilder auf, die einen „Film noir“ alle Ehre machen könnten. Aber Thiele kann mit ihnen nichts anfangen. Interessant sind die Innenräume; die Bürgerstuben sind so vollgestellt als wolle man mit der Menge an Möbeln jeden Freiraum ersticken. Seltsam, dass niemand aus dieser Enge ausbrechen will. Nur Regine, Thomas Freundin, huscht als junge selbständige Frau wie ein Fremdkörper durch die Handlung. Auffällig ist die Abwesenheit von Familie. Ursula wohnt mit ihrem Vater zusammen; im Wohnzimmer beherrscht das Bild der verstorbenen Mutter den Raum. Thomas und sein Freund Hans sind völlig ohne Familie.
Selbst bei den Kostümen – kurze Hosen und Nachkriegsanzug, todschickes Kostüm und biedere Kleidchen –herrscht eine groteske Konfusion an Stilrichtungen. Alles sieht aus wie Gegenwart, sagt aber nichts über sie aus. Es ist, als ob der Film sich einfach wegduckt. Oder, um es positiv zu sagen: das ist wirklich interessant misslungen.
Im Jahr der „Sünderin“ stand jeder deutsche Film, der das Verhältnis zwischen den Geschlechtern thematisierte, im Verdacht der Unsittlichkeit. Die Primaner aus Bad Hersfeld protestierten gegen die Vermengung von „pubertätsgeladenem Getue, von Romantik und sexuellem Raffinement“ –oha! Die katholische Filmkritik, sonst immer als erste mit der Moralkeule in der Hand, war diesmal verständig. „Ein Film, der Halbheiten und Kompromisse in der Liebe ablehnt. Deshalb auch für reifere Jugend geeignet.“ Das sahen die evangelischen Moralisten aber ganz anders. Überall lauerte doch der Teufel der Unsittlichkeit: „Wir halten diesen Film für gefährlich und geeignet, unserer Jugend eine völlig falsche Vorstellung über das Verhältnis der Geschlechter zu geben.“ Trotzdem war der Film nur ein Achtungserfolg.
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