new filmkritik

Donnerstag, 12.05.2011

Francis Alÿs – The Moment where sculpture happens

Drei Videoinstallationen und eine Diaserie in einem Raum. Davis Museum, Wellesley, Massachusetts.

“Looking Up” – Eine Aufsicht auf einen Platz mit quadratischen Platten, Passanten gehen durchs Bild, ein Mann bleibt in der Mitte stehen und schaut nach oben, als würde er etwas Bestimmtes beobachten. Passanten kreuzen in alle Richtungen. Irgendwann bleiben mehrere Leute beiläufig stehen, Paare reden miteinander, ein Mann schützt die Augen mit den Händen gegen die Sonne, um auch etwas zu erkennen. Eine Frau führt ihren Hund um die Grüppchen herum, bleibt auch stehen und guckt hoch. Der Mann ist auf einmal umringt von etwa zehn Personen, die seinem Blick folgen. In diesem Moment verläßt er das Bild. Nach und nach gehen auch die anderen wieder ihrer Wege und der Ort bleibt leer zurück.

Im Schatten einer Kolonnade, mit dem Rücken am Podest einer Säule, schläft ein Hund mit ausgestreckten Läufen. Im Hintergrund eine eher ruhige Straße, neben ihm Hosenbeine in schwarz mit Metallknöpfen an der Seite, herumstehend, ab und zu die Position wechselnd, einmal gehen zwei ebensolche Beine in weiß nach links durchs Bild und später auch wieder zurück. Der Hund schläft. Dann träumt er und die Pfoten scheinen laufen zu wollen, beruhigen sich wieder. Dann zucken aufgeregt die Hinterpfoten. So geht das ein paar Male, die Männerbeine treten auf der Stelle, der Hund trippelt im Schlaf… Einer der Männer verschwindet nach hinten auf die Straße, ganz in schwarzer Tracht mit einer Gitarre auf dem Rücken. Irgendwann wacht der Hund auf, hebt etwas den Kopf und schaut träge in die Welt.

Auf die Wand zwischen diesen beiden kompakten Sequenzeinstellungen wird ein geschnittener Film mit Ton und einer simplen Handlung projiziert: Ein Mann (der Künstler selbst, wie der initierende Passant im ersten Video) schiebt einen Eisblock durch die belebten Straßen von Mexico City. Alle möglichen Einstellungen, Verkehr und Passanten, an Läden vorbei, über Plätze, Kreuzungen, eine Treppe. Der Eisblock wird kleiner, seiner Natur gemäß. Als das Eis nur noch Ballgröße hat, tritt er es vorwärts, dann wird es zu einem Pingpong und am Schluß bleibt ein kleines Scheibchen auf der Straße zurück. Schnitt, eine kleine Pfütze, ein paar Jungs hocken drumherum, die Kamera schwenkt hoch zu ihren lachenden Gesichtern. Insert: Sometimes doing something leads to nothing.

Die Diaserie versammelt eine Vielzahl unterschiedlichster Ein-Mann-Transporte in den bunten Straßen der gleichen Stadt. Meist Straßenhändler, die auf dem Kopf oder den Schultern, mit Karren, Rädern, Dreirädern, all die Dinge mit sich schleppen, schieben, ziehen, die, eher bizarr, denn überzeugend wirkend, einen materiellen Wert für sie besitzen.

Die Projektionen sind in der Höhe gestaffelt, die Diaserie und der Hund sozusagen in Bordsteinhöhe, die Aufsicht auf den Platz halbhoch, das Eisschieben in typischer Leinwandhöhe.

Dieser Künstler geht auf die Straße, mit einfachen Ideen, die aus dem Alltag entspringen und sich dorthin zurück begeben. Worin besteht die Arbeit eines Künstlers? Er handelt mit etwas, nicht anders als ein Straßenhändler. So leichtfüßig kommen Alÿs’ Aktionen daher, da muß man nicht schwer nachdenken. Das Zeigen/Betrachten eines schlafenden Hundes in Parallelität zu seiner menschlichen Umgebung, der am Ende aufwachend zurückschaut, fast in die Kamera, vielleicht seinen Beobachter bemerkend. Der Kunstbetrachter schläft mit und bemerkt sich selbst wie im Traum. Ein einzelner Mensch, der einfach herumsteht und nach oben schaut, animiert anonyme Passanten, es ihm nachzutun. Ohne dass sich jemand dessen bewußt zu werden scheint. Ein ganz simples Geschehen, Menschen reagieren auf das Verhalten anderer, ein Alltagsexperiment über die Basis unseres Zusammenlebens. Und eine Kunst, die das überstrapazierte Wort Interaktion herrlich arbiträr auf die Straße holt.

Der Titel der Ausstellung stammt von zwei Fotos, in denen der Künstler auf einen Kaugummi tritt und einen klebrige Spur nach sich zieht. Man kann zwei der Installationsvideos auf der website des Künstlers anschauen, den Hund leider nicht, aber einen Fuchs im Museum und einiges mehr (www.francisalys.com).

Dienstag, 10.05.2011

Robert Beavers im Arsenal


[Work Done (1972/1999), (c) Robert Beavers]

Die Retrospektive von Robert Beavers‘ Gesamtwerk im Österreichischen Filmmuseum war eins der schönsten Ereignisse des letzten Jahres.

Harry Tomicek schreibt in der begleitenden Broschüre: »Es kommen bei Beavers also auf magische und auf eigens hervorgehobene hervortretende Art Dinge stets gedoppelt zum Vorschein: als sie selbst und als gefilmt. Oder, brüsk gesagt: als Hand, Baum, Buch einerseits, als vom Film Erschaffenes andererseits. So verzweigt sich jede Arbeit Beavers’ in die Welt und in den Film, um die von ihr getrennten Wirklichkeiten in einem gesuchten, hergestellten Maß erneut zu vereinen. Nichts anderes als dies ist die Sprache von Beavers-Filmen.«

Die Gelegenheit, Beavers’ Filme zu sehen, ist selten. Am kommenden Sonntag werden EARLY MONTHLY SEGMENTS (REEL 1) (1968-69/2002), THE GROUND (1993-2001), PITCHER OF COLORED LIGHT (2007) und THE SUPPLIANT (2010) im Berliner Kino Arsenal gezeigt. Die zwei erstgemannten sind Teil des umfassenden Filmzyklus MY HAND OUTSTRETCHED TO THE WINGED DISTANCE AND SIGHTLESS MEASURE, die beiden anderen nach dessen Fertigstellung entstanden.

Nach der Vorstellung spricht P. Adams Sitney mit Robert Beavers.

Sonntag, 15. Mai
19:30 Uhr
Kino Arsenal

Ein ausführliches Gespräch zwischen Beavers und Tony Pipolo findet sich hier (als html) und hier (als PDF, 8,6 MB).

Freitag, 06.05.2011

Contemporary: Kelly Reichhardt

In der US-Indieszene schon ein Name, vermutlich nicht in Deutschland. Gerade startet ihr neuer Film in den Kinos, “Meek’s Cutoff”, ein minimalistischer Western, Genre gegen den Strich gebürstet: 1:1,33 Format gedreht, fast dokumentarische Authentizität in Kostümen und Alltagsdarstellung (1845, drei Familien mit drei Ochsenkarren durchqueren wüstenartiges Niemandsland), wenig ‘Handlung’, reduziert auf den existentiellen (zwischenmenschlichen) Konflikt, den richtigen Weg zu finden, eine Frau im Mittelpunkt, offenes Ende. Die Schauspieler mußten einige Wochen lang den richtigen Umgang mit den Tieren und historischem Gerät lernen.

Vor allem möchte ich jedoch über die zwei ersten Filme der Regisseurin berichten aus den 90er Jahren. “River of Grass” spielt in einer gottverlassenen Kleinstadt in Florida, nahe den Everglades. Eine junge Mutter leidet an Vereinsamung und Überdruß und wünscht sich, dass doch einfach jemand käme und ihre Kinder mitnähme. Ihr Mann ist vor allem abwesend, ihr Vater ein Polizist, ein gealterter Rockmusiker, der nur lebt, wenn er Schlagzeug spielt. In der Ouvertüre des Films geht diesem die Dienstpistole verloren, als jemand seine Stammkneipe überfällt. Die Waffe gerät in die Hände eines jungen Losers und wird zum Katalysator der Ereignisse.

Die junge Mutter und der Loser begegnen sich in der Bar. Später draußen in der Nacht, beide betrunken mit der Waffe herumfingernd, löst sich ein Schuß – der vermeintlich einen Mann tötet. Die Beiden fliehen. Wie vom Schicksal besiegelt nehmen sie die Rolle der Gesetzlosen und Verdammten an.

Der Film atmet die gleiche Luft wie Malick’s “Badlands”, ohne daß sich etwas wiederholen würde. Eine abgründige Stimmung übertönt den kriminalistischen Handlungsfaden. Der Film hat Mut zum Konkreten, Fragmentarischen, Unerklärten.

Der halblange “Ode” erzählt die erste Liebe einer 15jährigen Pfarrerstochter. Dem wohlbehüteten Mädchen wird der Umgang mit dem Verehrer verboten. Der junge Mann erlebt eine gleichgeschlechtliche Entjungferung, die er nicht verarbeiten kann und tötet sich selbst. Der Film scheint im 18.Jh. zu spielen, obwohl es die 50er irgendwo auf dem Lande sind, oder die 90er? In super8 gedreht, mit bewußten Unschärfen, die wohl auch diese Zeitlosigkeit, vor allem aber mutig ungewohnte Bilder erzeugen. Der Film konzentriert sich ganz auf die immer zu kurzen Begegnungen der Teenager, in denen sich die ersten sexuellen Gefühle aussprechen, und sie können doch nicht aus ihrer Haut, die schon mit der Moral ihrer Umwelt gesalbt ist.

Donnerstag, 05.05.2011

Telefon (9)


How to Use the Dial Telephone (1927)


I Have to Dial My Own Phone (1949)


Dial M for Murder (Alfred Hitchcock, 1954) *

In der Mitte des Films: plötzlich das Bild der Maschinerie, die verlässlich die Anschlüsse verbindet. Kein Fräulein vom Amt ist da, nur eine Maschine, kein Mensch, der rettend eingreifen könnte.

Anthony Dawson, Grace Kelly, Ray Milland. Weil die Sympathievergabe vom Willen nicht gesteuert, unwillkürlich vonstattengeht, ist zu diesem Zeitpunkt die Überforderung vollkommen.

Truffaut im Gespräch mit Hitchcock: „Ehe wir Dial M for Murder verlassen, über den wir gesprochen haben, als sei es einer ihrer kleineren Filme, möchte ich doch sagen, dass das einer von denen ist, die ich mir am häufigsten ansehe…“

Und wenn – durchaus möglich – in Dial M for Murder der Schlüssel zum Verständnis der dunkelsten Geheimnisse des Kinos zu finden wäre, wie würde derjenige, der wüsste, in welches Schloss dieser Schlüssel passt, am Ende dastehen?

Dienstag, 03.05.2011

Kinohinweis (Berlin)

Mittwoch, 4. Mai, 19.00 Uhr, Arsenal, Kino 1 (Wiederholung: 9.5.)

Die endlose Nacht (BRD 1962, Regie: Will Tremper)

In SigiGötz Entertainments »Kanon des deutschen Films« schreibt Rainer Knepperges:
»Der nie kopierte Prototyp eines wirklich neuen deutschen Films. Nebel über Tempelhof, das war der (bessere) Arbeitstitel. Nicht »endlos« ist diese Nacht im Flughafen, sondern ewig gegenwärtig, als stünde die Zeit still. Improvisiertes Monumentalkino in Schwarz-weiß und Ultrascope, als läge Berlin in Italien. Mit Harald Leipnitz (Tremper: »mein Jack Palance«).«

Sonntag, 01.05.2011

Film maudit / Introduction / World Cinema

Auf der Website des Caboose-Verlags ist ein sehr schöner Scan des Katalogs zum »Festival du film maudit, Biarritz, France, July–August 1949« herunterzuladen (PDF, 56,5 MB).

***

JEAN‐LUC GODARD: But maybe I should explain a little what’s happened, that I’ve come here, that I have an agreement with the Conservatory…

SERGE LOSIQUE: I already explained that.

You explained it? All right, we’ll . . . Oh, I can explain it, maybe I’ll explain it a little differently.

SERGE LOSIQUE: If you like, by all means, you’re the head gardener.

You spoke about gardening?

SERGE LOSIQUE: Exactly.

Für 2012 beim gleichen Verlag angekündigt: Die Englische Erstübersetzung von Godards »Introduction to a True History of Film and Television«. Eher als um eine Übersetzung handelt es sich dabei um eine komplette Neutranskription nach der Videoaufzeichnung der Veranstaltungsreihe von 1978. Wie stark sich diese Fassung von der Französischen Buchversion (und von Frieda Grafes & Enno Patalas‘ Deutscher Übersetzung) unterscheiden wird, lassen zwei kurze Auszüge ahnen:

* First Voyage, Part One, Friday 14 April 1978

* Third Voyage, Part One, Friday 9 June 1978

***

Auch interessant: Die Reihe Critical Filmographies of World Cinema, deren Band zu Südamerika hier verfügbar ist.

Amerikanische Kinos (3)

Im Alamo Drafthouse nehmen die Kellner kurz vor dem Film die Bestellung auf, servieren im ersten Akt das Essen und die Getränke, bringen nach dem zweiten die Rechnung und nehmen die Kreditkarten mit, um spätestens beim Abspann die Quittung unterschreiben zu lassen. Dass dies nicht stört, ist zu gleichen Teilen der Unauffälligkeit des Personals und der Dienstbarkeitsarchitektur des Kinosaals geschuldet: Die Verkehrswege der Kellner sind tiefergelegt, statt durch die Sichtachse der Zuschauer laufen sie hinter dem Rücken der fünf Fuß tieferen Vorderreihe entlang.

Das Grilled Chicken Club Sandwich kann ich empfehlen, es kostet $ 9,99.

Im SXSW-Programm war mein Blick auf ROAD TO NOWHERE von Monte Hellman gefallen, eine Nachmittagsvorstellung um 5 pm. Zwei Stunden früher läuft ein anderer Film, INSIDE AMERICA, von einer österreichischen Regisseurin. Sechs Teenager an einer texanischen High School. Die Highschool-Schönheit, die in Wirklichkeit unglücklich ist, der schüchterne Idiot, die gangmäßigen Latino-Prolls. Deren Linien, man ahnt es, werden sich im weiteren Verlauf des Films kreuzen. Jetzt wird der österreichische Kontingenzfilm tatsächlich schon nach Amerika exportiert!

Hellmanns Film ist toll. Ludger Blanke hätte bei so einem Film landen können, wenn er weitergemacht hätte mit dem Filmen. Der TOD-DES-GOLDSUCHERS-Blanke, mit dem Aus-der-Rolle-Fallen und der unangestrengten Freiheit, die sich für das Erzählen daraus ergibt. Man würde das nicht denken bei ROAD TO NOWHERE, wenn man liest, dass hier zum x-ten mal die Geschichte vom Filmregisseur erzählt wird, der mit seinem Film nicht zu Rande kommt.

Der Film ist mit dem Canon-Fotoapparat gedreht, von dem seit Cannes 2010 alle reden. Ein krispes, beinah überscharfes Bild, das mich an den Moment erinnert, an dem ich als Jugendlicher meine erste Brille bekam. Ich wusste nicht (oder hatte es vergessen), dass die Welt auch in scharf existierte. Niemand hatte mich auf diesen Schock vorbereitet, aber ich gewöhnte mich daran so schnell ich mich hier an den neuen Bildtypus gewöhne. Ich würde sagen, dass die Glätte der Oberflächen und Konturen aus dem hochauflösenden Video kommt und die Raumverhältnisse aus dem klassischen Kino. Der Regisseur des Films, der in Hellmans Film gedreht wird, liegt zwischendurch dreimal mit der Hauptdarstellerin auf dem Bett und guckt Filme auf einem großen Plasma-Schirm. Einmal einen Noir mit Barbara Stanwyck, dann Erices SECRETS OF THE BEEHIVE, dann DAS SIEBENTE SIEGEL von Bergmann. Nach den Filmsichtungen ist er immer völlig erschöpft. »Fuckin’ Masterpiece« sagt er frustriert, als der Abspann von SECRETS OF THE BEEHIVE über den Bildschirm rollt.

Hellman selbst ist zur SXSW-Vorstellung nicht da, aber seine Tochter, die den Film produziert hat. Vor dem Film bittet sie um einen Applaus für Warren Oates’ Tochter, die auch im Saal sitzt. Als ich aus dem Kino komme, scheint die Sonne noch auf den Mall-Komplex, in dem das Alamo South Lamar liegt.

[Mittwoch, 16. März 2011, Alamo South Lamar, 1120 South Lamar Boulevard, Austin, TX 78704]

Donnerstag, 28.04.2011

Look, he even spells out “at!”

Interior, Bistro, Lower Manhattan.

Hal Hartley (early-fifties, laid-back but troubled) sits and frowns at a page deep in the middle of Roberto Belano’s The Savage Detectives. He turns over a page, finishes a chapter, and removes his reading glasses. He contemplates his double espresso. Meanwhile, to his left three casually well-dressed young executives continue a heated discussion…

CHET: It’s outrageous!

LOLA: Let me see.

Chet holds out his mobile device and shows Lola a text message. Their friend, Kurt, paces nearby, scheming distractedly.

CHET: Why text “would you like to meet for drinks at seven?

KURT (stops and turns): Did he spell “seven” or just use a number?

LOLA: He spells it out!

CHET: Now that’s just verbose.

KURT (his suspicions confirmed): Or worse!

LOLA: “Drinks at numeral seven question mark” is like I guess beneath his dignity? Look, he even spells out “at!”

KURT: (fatigued) This is more complicated than I thought.

Hartley decides it’s probably a good time to evaporate. He leaves some bills on the small table and heads for the door with his book. Lola notices him and grabs Chet’s arm…

LOLA: Hey, is that?

CHET: You mean?

LOLA: The guy who made, oh, you know, what’s it called?

KURT: You mean with the girl and the book and the guy from the television repair shop?

LOLA: Something like that. It’s unimportant, really. I was moved, true. But I was young.

* This week Hal Hartley started a blog in the form of a screenplay charting his fictional adventures in the all-too-real world: action, adventure, romance, endless digression, furious debate, shameless self-promotion…

Samstag, 23.04.2011

OUR TIMES / Wahl in Iran 2001

Ein ganz anderer Film, direkt aus dem Iran, über die Wahl 2001. Die Regisseurin Rakschan Bani-Etemad filmt ihre Tochter, die wie viele ihrer Generation engagierte Wahlhilfe für den Reformen versprechenden Kandidaten Khatami leistet. Dieser Aufbruch der Jugend markiert schon den Beginn der grünen Revolution von 2009. Bei dieser Wahl bewerben sich etwa 300 Frauen (!) für die Präsidentschaft. Aus Skeptik gegenüber Khatami interessiert sich Bani-Etemad für diese Frauen und porträtiert im Hauptteil ihres Films eine dieser Kandidatinnen.

Eine geschiedene Frau im Alltagsstress, die ihre blinde Mutter und eine Tochter ernährt. Die leichte Lösung – sie ist sehr attraktiv – einer erneuten Heirat schließt sie aufgrund der Erfahrung mit dem ersten Mann aus. Der Film zeigt ihren Kampf um Unabhängigkeit, indem er ihr schlicht bei der Wohnungssuche folgt – worin eine alleinstehende Frau so gut wie keine Chancen hat. Als ihr Boss sie nach drei Tagen angemeldeter Abwesenheit einfach entläßt, bricht diese starke Frau tatsächlich in Tränen aus. Der Film ist ihr sehr nah und dennoch kommt keine falsche Intimität auf. Und die persönliche und politische Dimension bleibt ungeteilt.

The Green Wave

Vor den Wahlen 2009 erhob sich das iranische Volk in spontanen Massendemonstrationen, um Reformen zu verlangen und den Oppositionskandidaten Moussavi zu unterstützen. Die Bewegung nannte sich und trug grün: Fähnchen, Armbänder, T-shirts, eine lange grüne Stoffbahn schwebte durch Teherans Straßen. Die Farbe grün symbolisierte Hoffnung und – als Farbe des Islam und Element der Landesflagge – auch eine Art Loyalität gegenüber dem Staat.

Der Film THE GREEN WAVE dokumentiert die Ereignisse anhand einiger Interviews, Amateurfilmmaterial und Textquellen aus der Kommunikation im Internet. Zu etwa einem Drittel besteht der Film aus gezeichneten Animationen (ein wenig spröder als in “Waltz with Bashir”), die diese tagebuchartigen persönlichen Schilderungen illustrieren.

Das Gros der Iraner wählt Moussavi, doch das Regime verkündet eine Mehrheit der Stimmen für Ahmadinedjad und schlägt im Folgenden die Protestbewegung brutal nieder. Es gibt Tote, zahlreiche Verletzte, Verhaftungen, Folter. Der Film fängt sowohl die Euphorie vor der Wahl als auch das folgende humanitäre Desaster in den Bildanimationen ein und rührt viele Zuschauer in der zweiten Hälfte zu Tränen. Der Schnitt (B.Toennieshen/A.Menn) flechtet geschickt das wenige Dokumentarmaterial in die gezeichnete Welt ein. Der Film, produziert mit Arte, zirkuliert auf Festivals und sein menschenrechtliches Anliegen wurde gerade mit dem Grimme-Preis belohnt.

THE GREEN WAVE hebt auf die mit den Ereignissen verknüpften Emotionen ab – liefert jedoch wenig politische Analyse oder komplexe Zusammenhänge. Wenn man ihn mit Filmen von z.B. Patricio Guzman vergleicht, bleibt ein schales Gefühl zurück. Daß der Regisseur Ali Samadi Ahadi auf das für TV typische reenactment mit Schauspielern verzichtet und den neuen Weg des motion comic geht, rechnen ihm viele Filmbesprechungen hoch an. Aber warum dürfen heutige Dokumentarfilme nicht mehr brechtisch, puristisch, fragmentarisch, selbstreflexiv, medienkritisch sein, sondern müssen ein Drama mit klarer storyline aufbieten? Die Dinge selbst treten vergleichsweise in den Hintergrund. Seinen stärksten Moment hatte der Film für mich mit dem Zeigen der linientreuen Erklärung Khatamis nach der Wahl und nicht mit der Ermordung des Kindes, das Joghurt kauft.


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