new filmkritik

Montag, 25.10.2010

Realisation

Ich bin bekennender Dali-Fan, seit ich auf Youtube seinen legendären Auftritt in der amerikanischen Version von „Was bin ich?“ gesehen habe. Dort antwortete er 1957 auf jede Frage mit „Yes“, auch wenn das ratlose Rate-Team wissen wollte, ob er vielleicht Sportler sei.

Der kürzlich verstorbene José Montes-Baquer hat (im Interview mit Christopher Jones) erzählt, unter welch seltsamen Umständen es zur Zusammenarbeit mit Salvador Dali kam. Vermittelt durch die italienische Prinzessin Vicky Alliata (Übersetzerin von Tolkien und Enzensberger), bekam er den Termin für eine Audienz, um 11:11 Uhr, im St. Regis Hotel an der New Yorker 5th Avenue, wo Dalí sein Winterquartier aufgeschlagen hatte.

„Dalí führte uns in einen der von ihm gemieteten Salons, fand aber keinen Lichtschalter. Wir stolperten über Möbelstücke, Dali ertastete mit seinem Stock einen Tisch und bat uns Platz zu nehmen zum Gespräch, im Dunkeln, als wäre es das Normalste auf der Welt. Ich hatte kaum ein paar Worte gesagt, als er brüllte: ‚DA! – DA! – DALÍ!‘ Und in normaleren Ton fuhr Dali fort: ‚Dalí ist ein Universalgenie. Deshalb nähern sich ihm täglich Hunderte um sich zu bereichern. Aber sie wissen nicht, dass Dalí sowohl Universalgenie als auch intellektueller Vampir ist, der sich bereichert an denen, die sich ihm nähern.‘ In diesem Moment gingen die Lampen an. Einer seiner Assistenten hatte das Gebrüll gehört und den Lichtschalter betätigt.
Dann nahm Dalí einen Stift aus der Tasche. Aus elfenbeinfarbenem Plastik mit einem Ring aus Kupfer um die Mitte. Er sagte: ‚In diesem sauberen und aseptischen Land hat die erstaunliche Vielfalt der Rostfarben an den Urinalen dieses luxuriösen Hotels meine Aufmerksamkeit geweckt. Deshalb urinierte ich in den vergangenen Wochen über den Kupferring dieses Kugelschreibers, um die herrlichen Strukturen zu erzielen, die Sie mit ihrer Kamera und ihren Optiken auffinden werden. Schon mit bloßem Auge kann ich Dalí auf dem Mond sehen, oder Dalí kaffeeschlürfend auf den Champs Élysées. Nehmen Sie dieses magische Objekt, arbeiten Sie damit, und wenn sie interessante Resultate erzielen, werden wir einen Film zusammen machen.'“
Und so geschah es.

Impressions de la Haute Mongolie (1976) ist eine einzigartige WDR-Produktion, reich an Humor und Halluzinationen, mit einem Soundtrack, für den Ingfried Hoffmann die schönsten Hits von Beethoven, Wagner und Debussy mit psychedelischer Finesse arrangierte. Zum „Trip-LSD-total!“, den Dali im Film lautstark ankündigt, mag das Youtube-Betrachten wohl kaum werden; meine VHS-Aufzeichnung ist da schon tauglicher. Die einzige Vertragsbedingung des Universalgenies war übrigens eine 35mm Kopie der „Homage an Raymond Roussel“, für sein eigenes Museum in Figueres.

Dali hat Montes-Baquer einen Rat mit auf den Weg gegeben: „Der entscheidende Moment bei der Produktion eines Films ist, wenn du die Kraft des Willens benötigst, deinen Produzenten zu überzeugen, dass, falls der Film nicht gemacht wird, die Welt, wie wir sie kennen, zu Ende geht.“

Vorstellbar. Die Drehbuchautoren von Les Trottoirs de Stuttgart (1976) haben sich inspirieren lassen von einer Prophezeiung des damaligen Ministerpräsidenten Filbinger: es würden “zum Ende des Jahrzehnts in Baden-Württemberg die ersten Lichter ausgehen”, wollte man darauf verzichten, 13 neue Kernkraftwerke zu bauen. Fünf davon im Rheintal, aus dem die Menschen, nach dem Plan von Sachverständigen, umgesiedelt werden sollten in die Seitentäler des Rheins. ****

Eine Jules Verne Verfilmung von Alfred Vohrer könnte so aussehen. Ein degenerierter Neffe von Kapitän Nemo reist um die Welt und unterbreitet überall da, wo es Kopfbahnhöfe gibt, seine Baupläne für einen atomgetriebenen Tunnelbohrpanzer. In New York, Paris, Rom, London, Mailand, Zürich, Frankfurt und München wird er ausgelacht; in Stuttgart hört man ihm zu. Dass er quer zu den bestehenden Gleisen bohren möchte, müsste stutzig machen. Doch Grundstücksspekulationen begünstigen sein irres Vorhaben…

Der Gedanke lässt mich nicht los: Ginge es aktuell in Stuttgart nur um Millionen, statt um Milliarden, wäre das Projekt längst vom Tisch. ****

Too big to fail. Darum geht es auch in The Other Guys / Die etwas anderen Cops (von Adam McCay, 2010, mit Will Ferrell, Mark Wahlberg und Eva Mendes.) Ein Film, den man nicht verpassen sollte.

Will Ferrell hat kürzlich angemahnt, Unterwasserstädte, unsere einst vorausgesagten Wohnorte, gäbe es immer noch nicht. Wenn wenigstens eine einzige Unterwasserstadt gebaut würde, das wäre doch nicht zuviel verlangt.

Den vier Bahnsteigen im zukünftigen Stuttgart wird man Namen geben, denn lediglich vier Stück werden es noch sein, und Nummern würden die geringe Zahl zu sehr verdeutlichen. Deshalb also Namen. Im Gespräch sind Vorschläge wie „Kriemhilds Rache“ und „Etzels Burg“. Betrachtet man einigermaßen realistische, also angemessen dunkle, nicht blendend weiße Darstellungen des geplanten unterirdischen Bahnhofs, und betrachtet man diese lange genug, dann sieht man plötzlich den blubbernden Teig aus Quellgips und Mineralwasser, der sich bis zur feierlichen Eröffnung im Jahr 2525 durch die engbemessenen Tunnel schiebt.

Freitag, 22.10.2010

Ab Morgen im Kunsthaus Bregenz:

* Harun Farocki: Weiche Montagen / Soft Montages, 23. Oktober 2010 bis 9. Januar 2011.

Neu auf der Langtextseite:

* Matthias Rajmann: Hin und Her. Auszüge aus den Recherchen zu „Vergleich über ein Drittes“ und „Zum Vergleich“ von Harun Farocki.

Dienstag, 19.10.2010

Sonntag, 17.10.2010

Morgen, übermorgen, Berlin

Morgen, Montag

Kino ARSENAL – Berlin, Potsdamer Straße 2

19:00 Uhr
HILF MIR, GABRIELLE (1986) von Irina Hoppe, Martin Schlüter und Heino Deckert
CANNAE (1989) von Wolfgang Schmidt

21:00 Uhr
NAVY CUT (1992) von Wolfgang Schmidt

*

Übermorgen, Dienstag

Zeughauskino – Berlin, Unter den Linden 2
20.00
Unsere Hitler
Ein Gedankenaustausch von Norbert Pfaffenbichler und Olaf Möller

Monarch – Berlin, Skalitzer Str. 134.
20.30 Uhr
Bettina Klix, Verlorene Söhne, Töchter, Väter. Über Paul Schrader

Samstag, 16.10.2010

Directed by

„From the late 1950’s through the early 1970s Martin C. Johnson took a number of road trips criss-crossing the country from his home in Suburban Chicago to both coasts and all points in between. For each trip he put together a slide show to document his travels. Judging from these shows he (and his wife who must be responsible for at least some of the photographs) was far more interested in the road itself than wherever his final destination might have been. For every photograph of Mount Rushmore or The Grand Canyon there were three or four shots of the empty (or not so empty) road taken through the windshield of the car… “
squareamerica.com

Dienstag, 12.10.2010

Paul Schrader

Kann ich gar nichts behalten? Was ist von mir noch übrig? So könnten viele Figuren in Paul Schraders Filmen fragen. Das tun sie aber nicht.

Sie fragen »Was bin ich wert?«, wenn sie vergeblich hoffen, sich freikaufen zu können. Oder sie sagen: »Einige meiner Illusionen wurden zerstört«, wenn ihr bisheriges
Leben in Trümmern daliegt.

Ihnen werden existenzielle Entscheidungen in Form drastischer Bedrohungen aufgezwungen.

Einer muss zum Mörder werden, wie John LeTour in »Light Sleeper«. Manche sehen ihre bisherige Existenz vernichtet, ihren Ruf ruiniert und finden sich des Mordes angeklagt, wie Julian Kay in »American Gigolo« oder Carter Page III in »The Walker«. Eine Figur muss gar ihren menschlichen Körper aufgeben: Irina Gallier in »Cat People«.

Das bisherige Leben der Figuren war, bevor der Film sie in die Hände bekommt, ganz erfreulich, oft sogar erfolgreich, sie genossen eine gewisse Unabhängigkeit, waren gut vernetzt, doch enthüllt sich bald, dass sie etwas Entscheidendes übersehen oder den Falschen vertraut haben. Während ihnen ein Privileg nach dem anderen genommen wird, oder eine Sicherheit nach der anderen, müssen die Figuren ihre Werte neu definieren. Sie werden auf das reduziert, was sie sind, wobei sie oft noch gar nicht wissen, wer oder was das ist, und erfahren dabei bis zur letzten Konsequenz den Verlust ihrer bisherigen Identität. Aber genauso sicher hängt davon auch die Hilfe, die Lösung, die Erlösung ab, dass sie den Weg zu Ende gehen oder sich ihrem Schicksal ergeben. Dann erhalten sie ein neues Leben, eine neue Liebe, einen neuen Körper.

Schraders Filme zeigen uns verschiedene Formen von Gefangenschaften, solche außerhalb von Gefängnismauern, in sozialen Gefängnissen, in Abhängigkeiten, von öffentlicher Meinung in Schach gehalten. Sie zeigen ein Entführungsopfer, das durch die Freiheitsberaubung und Gehirnwäsche von sich selbst getrennt wird.

Aber sie führen auch vor, wie jemand im eigenen (menschlichen) Körper gefangen ist. Dass Menschen in ihren Körpern eingesperrt sind, das scheint für Schrader die Voraussetzung, von der er ausgeht. Ganz in der platonischen Tradition, die der Calvinismus (Schraders konfessioneller Hintergrund) nicht unterbrochen hat. Seine Filme behandeln jedoch besondere Ausnahmen.

Viele der Filme haben kurze Episoden, meist gegen Ende, die in einem Gefängnis spielen, und immer versprechen diese Räume ein Aufatmen, eine neue Freiheit. Oft finden viele vorherige Suchbewegungen im Film an diesem Ort ein Ende.

In Schraders Filmen gibt es viele Formen des (Sich-) Suchens und Findens. Manche Suche ist geradezu selbstzerstörerisch und die Suchenden können von Glück sagen, dass äußere Hindernisse den Weg versperren. Oft haben wir es mit Figuren zu tun, die in der Freiheit ihre Suche begannen, aber nicht beenden konnten, keine Entscheidung treffen konnten. Manchmal wussten sie nicht, dass sie nach sich selbst suchten.

Wenn ein Paar nicht zueinander finden konnte, und einer der beiden gefangen gesetzt wurde, beginnt auch der Suchende, der sich noch in Freiheit befindet, wieder klar zu sehen.

Im Epilog seiner Filme bringt Schrader oft zwei Figuren zusammen, die durch eine Geste der Erlösung verbunden sind: In »American Gigolo« Julian Kay und Michelle Stratton, in »Light Sleeper« John LeTour und Ann, in »Cat People« Irena Gallier und Oliver Yates.

Es wird beschrieben, wie Schrader seine Figuren preisgibt – und rettet.

***

* Vorwort zu Bettina Klix, Verlorene Söhne, Töchter, Väter. Über Paul Schrader, Reihe Filit, Band 6, Verbrecher Verlag, 2010.

* Buchvorstellung am 19. Oktober, 20.30 Uhr, Monarch, Skalitzer Str. 134.

Donnerstag, 07.10.2010

„Der gehende Mann“ von Aurelia Georges – Anmerkungen und Notizen

Von Manfred Bauschulte

Im Museum von Volterra in der Toskana waren wir vor zwei Jahren von einer etruskischen Bronzestatuette beeindruckt. Sie trägt dort den Namen „Ombra della Sera“ (Abendschatten). Im Geist des Fin de siècle hat ihr der italienische Schriftsteller Gabriele D’Annunzio diesen Namen angedichtet. Ohne Zweifel geschah dies in verklärender Absicht. Die Bronze aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert zeigt dagegen eine Spindel dürre, hoch aufgerichtete Gestalt mit ganz langen, eng anliegenden Armen und einem winzigen aufgesetzten und lächelnden Kindergesicht. Der Faszination der äußerst filigranen Figur, die ursprünglich als Grabbeigabe diente, kann man sich unmöglich entziehen. Denn es scheint geradezu, als habe sie eine berühmte Skulptur von Alberto Giacometti, den „L’homme qui marche“, vorweggenommen.

Im direkten Vergleich mit der Skulptur von Giacometti ist man versucht zu sagen, der Bildhauer habe 2000 Jahre später (1961) die etruskische Figur buchstäblich in Bewegung versetzt. Das Statuarische der Bronzegestalt, die erhaben und vollkommen in sich ruht, übersetzt der moderne Künstler in Unruhe. Er versetzt die Ruhe in eine extreme Hast und Rastlosigkeit, die jetzt voller Fragezeichen stecken. „Der gehende Mann“ ist von nun an für immer unterwegs, gehetzt und auf der Flucht. Sein gebeugter Gang lässt Betrachter fragen: Was lastet auf ihm? Was treibt ihn? Wohin will er? Ist er ein ewiger Wanderer? – Dagegen wirkt die etruskische Statuette beseelt, wenn nicht beseligt von Gewissheit. Die Beseligung rührt daher, dass sie in der Gewissheit des Todes steht. Sie gemahnt an eine bis zur Naivität, bis zur Kindlichkeit erstarrte Totenruhe. Vermutlich handelt sich es um eine Grabbeigabe für ein verstorbenes Kind, einen Jungen, worauf das kleine Glied verweist.

In Verbindung mit der 2000 Jahre alten Bronzefigur des Kindes in Volterra stellt sich natürlich die Frage: Ist es nicht ein Symptom unserer Zeit, dass ausgerechnet „Der gehende Mann“ von Giacometti im Februar dieser Jahres (2010) spektakulär unter den Hammer kam? Die Commerzbank verkaufte die Skulptur in Folge der Finanzkrise an einen privaten Sammler für die Rekordsumme von 103 Millionen Dollar. Was passierte hier mit einem modernen Artefakt? Die künstlerische Aktion, die Arbeit des Ausdrucks von Giacometti ist das Eine. Das Andere ist die finanzielle Transaktion. Sie verweist auf eine kapitalistische Schizophrenie, die nur das Höher und Weiter, das Sich-Messen und Vergleichen kennt. Diese Schizophrenie kann nichts entwickeln und zur Reife bringen, oder freudianisch gesprochen: Konkurrieren fällt zurück in eine präödipale Haltung.

Bewegung und Flucht, Ungewissheit und Unruhe des gehenden Mannes begegneten mir nun gleichzeitig auf eine andere Weise in dem gleichnamigen Film von Aurelia Georges wieder, einem erstaunlichen Erstlingsfilm. Dieser Film ist vor zwei/drei Jahren entstanden und wird seither immer mal wieder gezeigt. Er dokumentiert chronologisch das Leben des russischen Malers und Schriftstellers Vladimir Slepian in den Jahren zwischen 1974 und 1996. Slepian lebte zuletzt als Obdachloser im Pariser Quartier Latin. Er brach dort 1998 auf offener Straße zusammen und starb elend. Bis in die Wahl des spanischen Hauptdarstellers (César Sarachu), der den Schriftsteller Victor Atemian verkörpert und Slepians Texte liest und spricht, überträgt Aurelia Georges die Erinnerung an den russischen Künstler in Bilder und Töne. Mit einigen Anmerkungen und Notizen will ich den Eindrücken nachgehen, die dieser Film bei mir auslöst hat, und einige Schlussfolgerungen ziehen.

Vladimir Slepian, 1930 in Prag geboren, Sohn eines im Gulag umgekommenen russischen Funktionärs, wuchs in Moskau auf und wurde in den 1950er Jahren zum Maler ausgebildet. Als Konzeptkünstler schuf er eine eigene Stilrichtung, die „transfinite Malerei“, an die er in Paris nach der Emigration (1958) durch Ausstellungen in namhaften Galerien erfolgreich anknüpfen konnte. In den 1960er Jahren verlagerte er seinen Schwerpunkt hin zur Literatur. In Paris konnte er sich durch die Gründung eines gut gehenden russischen Übersetzungsbüros für gewisse Zeit eine gesicherte Existenz aufbauen.

Hier (1974) setzt der Film von Aurelia Georges ein. Der Protagonist Victor Atemian trägt in einem Pariser Milieu von Intellektuellen vor. Es handelt sich dabei um einen Text von Slepian, der zwischen Pamphlet und Prosa, Publikumsbeschimpfung und Persiflage changiert. Sein Titel lautet „Fils de chien“. Er erschien zeitgleich in der Nummer 7 der Zeitschrift „Minuit“, dem Forum für die Autoren des französischen „Nouveau roman“, und erregte Aufsehen. „Fils de chien“ beschreibt in Anlehnung an Kafkas „Verwandlung“ wie ein Mensch sich in einen Hund verwandeln will. Auf eine verstörend assoziierende Weise tritt der Autor in einen Prozess der Beschreibung von Entmenschlichung ein, die eine der Animalisierung des Menschen ist. Der Leser oder Zuhörer fragt sich: Ist das schreibende Subjekt noch ein Mensch oder schon ein Tier. Die Zweideutigkeit der Prozessbeschreibung wird durch den Tonfall des Textes evoziert. Er springt zwischen Anklage (der Unmenschlichkeit) und Klage (über die Animalisierung) hin und her. Am Ende scheitert die Verwandlung in ein Tier, weil es dem Schreibenden nicht möglich ist, sich von seiner Bewusstheit zu lösen. Er kann sich aber auch nicht restlos einem animalischen Unbewussten überlassen. Diese Unentschiedenheit führt ihn stattdessen zurück in ein frühkindliches Stadium. Explizit muss die Verwandlung misslingen, weil des dem Autor nicht möglich ist, sich vorzustellen, dass er wie ein Hund über einen Schwanz verfügen kann.

Im Film wird die literarische Ebene der Verwandlung in einen Hund nur angerissen. Hingegen wird sie auf der bildlichen Ebene durch eine sprechende Episode sehr direkt entwickelt. Im ersten Teil, in dem der Schriftsteller Atemian noch mit anderen Menschen kommuniziert, lädt er einen befreundeten Photograph zu einem Labyrinth-Spiel ein. Es besteht darin, sich von zwei Seiten, von Norden und Süden, in der Stadt Paris auf einander zu zu bewegen, sich eventuell irgendwo zu treffen oder für immer zu verfehlen. Im Spiel spürt der Photograph das geheime Ziel Atemians auf. Dort trifft er und photographiert er ihn. Es handelt sich um einen Saal im Louvre, in dem eine Staue des ägyptischen Gottes Anubis aufbewahrt wird. Anubis ist der ägyptische Name für „junger Hund“. Er galt als Totengott aber auch als Friedhofswächter und Totengeleiter. Atemian stellt sich in spielerischen Posen neben die antike Skulptur, entwickelt Formen der Mimkry und umkreist sie. Schließlich wirft er sich ihr zu Füssen. Er spielt auf groteske Weise sich selbst als Hund, während ihn der Freund die ganze Zeit photographiert. Wie es scheint, will er im Louvre wieder zum Kleinkind werden, das krabbelnd und hemmungslos Hund spielen kann. Gleichzeitig möchte er beobachtet werden, freut er sich über Zeugen für sein Spiel. Schließlich hat er den Zeugen selbst zu diesem Spiel verführt und eingeladen.

Im weiteren Verlauf weicht der Film von Aurelia Georges dem Schriftsteller Atemian nicht mehr von der Seite. Er zeigt die physischen Veränderungen, die er in der Zeit (von 1974 bis 1996) und im Raum (im Paris des Quartier Latin und der Ecole Normale Superieure) erfährt. Nach dem Verkauf seiner Wohnung, nach einem Leben im Hotel und bei Freunden verliert er Bleibe und Unterkunft, am Ende jeden Halt. Sein Verschwinden impliziert, dass er seine alte Identität ablegt und von Bekannten mit einem neuen Namen angesprochen werden will. Geschichtliche Zeitumstände (der 1980er Jahre: die Wahl Mitterands und der Fall der Mauer) wie die intellektuellen Abenteuer seiner Umgebung (der 1970er Jahre: die Seminare Lacans) bilden Kulissen für seinen Abstieg und Verfall. Seine Gänge durch die Stadt Paris und Streifzüge durch deren Peripherie werden zu Stationen der Entpersönlichung. Sie vollzieht sich schleichend – am Körper des Protagonisten. Der Film folgt ihren Spuren und will sie lesbar machen.

Wo der Film sich auf die Spuren der Entpersönlichung des Protagonisten begibt und konzentriert, registriert er beiläufig die Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit seiner Umgebung, der ihn umgebenden Menschen. Es scheint, als sei die Außenwelt nicht bereit und fähig zu erkennen, wie ein Mensch (innerlich) aus der Welt verschwindet. Atemian fällt aus der Welt, obgleich er doch physisch da ist. So gesehen kann der Film nicht anders operieren: Er muss äußere Stationen als Merkmale der Depersonalisation festhalten. Die inneren Mechanismen lassen sich nur vermuten, anhand von Textfragmenten des Schriftstellers erschließen.

Der Film von Aurelia Georges dokumentiert die äußeren Verfallserscheinungen einer modernen Künstler-Existenz, die nur fragmentarisch in Erscheinung treten konnte. Er entwickelt ein Gespür für die physischen Veränderungen, an denen sich das Schicksal des Victor Atemian (-Wladimir Slepian) ablesen lässt. Beim Betrachter werden auf Grund der fragmentarischen Äußerungen und Texte des Protagonisten deutliche Fragen nach seinen Beweggründen und seinem Innenleben wachgerufen. Die dokumentierten Außenansichten des gehenden Mannes, der sich selbst zerstört, verlangen geradezu nach Einsichten in seine Innenwelt.

Einblick könnte die folgende Perspektive gewähren, über die ich in Ansätzen spekulieren will: „Fils de chien“, der einzige Text Slepians, fand durch die Hintertür Eingang in die moderne Philosophie. Deleuze/Guattari nahmen den Text in „Mille Plateaux“ auf. Er bildete ein Grundmuster von Intensivierung und Tierwerdung für ihre Theorie vom „Anti-Ödipus“. Im Anschluss an Lesarten von Hugo von Hofmannsthals „Lord Chandos“ entwickelten sie Muster für die unnatürliche Teilhabe an der Welt, die aus jedem Grundkonzept der Psychoanalyse herausspringen. Sie entwickelten Formen, die jede ödipale Teilhabe verweigern. Slepian, der für sich den Namen Eric Pide wählte (Anagramm und Pseudonym des griechischen Namens Ödipus) bricht für Deleuze/Guattari mit seinem Text „Fils de chien“ so planvoll wie gezielt aus jeder Ödipalität aus. Absicht und Plan seiner Hundwerdung lassen sich nicht realisieren, weil sie ein unendliches Experiment (ein transfinites Unternehmen?) impliziert, in dem etwas für immer unerfüllt, nicht repräsentiert, nicht verwandelt werden kann. Wo der Wunsch immer unerfüllt bleiben muss, bleibt nur die kindliche Rückkehr zur Mutter, die unendliche Regression. Jede intendierte wie planvolle Selbstfindung fällt (Deleuze/Guattari zufolge) unter den Verdacht der Herrschaft (des Ödipus). Der Schriftsteller Eric Pide (Slepian), der einen Text wie „Fils de chien“ schreibt, wäre so der Prototyp eines modernen Anti-Ödipus. Seine plan- und ziellosen Aktionen stünden im Zeichen eines Aufstands gegen die Domestizierung des Ödipus.

Aurelia Georges verweigert Einblicke in die Innenwelten von Atemian (-Slepian). Darin liegt das Faszinosum ihres Films. Gleichwohl dokumentiert er die Fluchtbewegungen eines Intellektuellen, der den Veränderungen in der Welt nicht mehr gewachsen ist, nicht mehr an ihnen teilhaben kann und will. Daher fällt er aus ihr so gestalt- wie namenlos heraus. – Seine Selbstzerstörung wirft brennende Fragen auf. Bürgerliche Fluchtbewegungen führten in die Südsee, auf den Monte Verita oder in die Landkommune. Wohin treibt es die Fliehenden unserer Tage? Fliehen sie in ein ort- und zeitloses Labyrinth? Oder: Wie ist es möglich Widerstände in den Bewegungen der Selbstzerstörung auszubilden? – Genau zu solchen Fragen stiftet der Film von Aurelia Georges an.

Mittwoch, 06.10.2010

Wie was anfängt

Titelsequenz von To Kill a Mockingbird (Robert Mulligan, 1962)

Der Trailer des Films wird sehr schön kommentiert von Mary Badhams Bruder, John Badham,
dem Regisseur von Saturday Night Fever und The Bingo Long Traveling All-Stars & Motor Kings.
Ein Vergnügen ist auch Badhams Kommentar zu einem weiteren Film, in dem seine Schwester eine Hauptrolle spielt: Let’s Kill Uncle (William Castle, 1966).

Born in England, raised in Alabama… Vielleicht stammt daher seine elegante Art zu sprechen?

Die Spur von Badhams Karriere führt im Kreis, vom Fernsehen weg und wieder dorthin zurück. Anfang der 70er drehte er mal eine Episode von „Kung Fu“ – oder etwas mit dem tollen Titel „Rex Harrison Presents Stories of Love“ – und 2004 dann eine neue Version von „Evel Knievel“!
Gibt es einen Adel des vergangenen, vergessenen Ruhms?


Saturday Night Fever (John Badham, 1977)

Als ich zwei alte New Yorker auf dem Bürgersteig überholte, hörte ich, dass sich beide einig waren, wer der beste Schauspieler aller Zeiten sei: Paul Muni. Mir gefiel, dass Rentner in New York beim Spaziergang solche Urteile fällen. Denkbar, dass sie da nur wiederholten, was sie vor 70 Jahren schon auf dem Schulhof zueinander gesagt haben.

Es gibt ein sehr schönes Gespräch, etwa 25 Minuten lang, zwischen Wes Anderson und Peter Bogdanovich über dessen unbekanntes Meisterwerk They All Laughed (1981), in drei Teilen auf Youtube. Es geht da um Persönliches: das Glück, die Zeit.

Es war im letzten Winter. Ein fröhlicher Gast im „Kölsche Boor“ trat an unseren Tisch und ließ uns sein Alter schätzen, zeigte uns dann stolz den Personalausweis (*1943) und sagte gutgelaunt: „Man fühlt sich so alt, wie man ist.“

Badham und Bogdanovich sind beide Jahrgang 1939. Das Geburtsjahr von Larry Cohen ist, je nachdem, wo man nachschaut, 1938 oder 1941. Die Viennale wird heuer dem famosen Mann den verdienten Tribut zollen. Auf „Trailers from Hell“ erzählt er, dass er mal einem Schauspieler vormachte, wie man sich aus einem (langsam) fahrenden Auto wirft, „that’s called directing“.


Michael Moriarty in Q – The Winged Serpent (Larry Cohen, 1982)

Samstag, 02.10.2010

Der Sekretär aus Karatschi

Vier Stewardessen sprechen von ihrem besonderen Leben. Davon daß sie, weil sie überall hin konnten – mit der Interflug, der DDR-Fluggesellschaft – als Privilegierte galten. Allein schon wegen der Mitbringsel: aus Amsterdam der Kaffee und aus Kopenhagen der Selastikschlüpfer. Aus Karatschi ein ganz spezielles Möbelstück, der Sekretär, praktischerweise zerlegbar, konnte beim Zoll als „Holz“ deklariert werden. „Ich denke es gibt keine Flugbegleiterin, die nicht so einen Sekretär hat“, sagt Sonja Kahle, die ein tolles Lächeln hat und eine spektakuläre Haarpracht. Wenn sie in ihrer schmucken Wohnung steht und schmunzelnd auf das Profane im Exotischen hinweist, hat der Film schon gleich zu Beginn seinen Ton gefunden, eine Mischung aus Humor und Stolz, Reflexion und Traum.

Karin Röseler erzählt: „Wenn die vielfältigen Reiseeindrücke zuhause aus einem heraussprudelten, schaute man in verständnislose – und traurige – Gesichter. Und irgendwie habe ich aufgehört zu erzählen, um sie nicht traurig zu machen. Fuhr man mit der Familie oder Freunden nach Bulgarien, sagten die: Das ist ja jetzt nichts für dich – Bulgarien. Was ist schon Bulgarien, du warst ja schon in Bangkok. Ich konnte ihnen nicht sagen: Bulgarien war für mich viel wertvoller, weil wir darüber reden konnten, weil wir gemeinsame Erlebnisse hatten, weil wir gemeinsam dahin durften.“

Röseler erzählt auch, daß sie später im Westen gelernt habe, Verbesserungsvorschläge stets als „neue Ideen“ auszugeben, auch wenn es sich um längst Erprobtes aus der Zeit bei Interflug handelte. Anders hätte man ihr manche Verbesserung bei Lufthansa oder Condor nie abgekauft. In vielerlei Hinsicht ist FREIFLIEGEN ein ganz famoser Film über die DDR und das „vereinigte Deutschland“, aber noch viel mehr als das. Vom Widerstand gegen Systeme sind symbolische Bilder allseits im Umlauf, seltener sichtbar ist das Naheliegende: das wache Widerstreben, ein vorgezeichnetes Leben zu leben.

FREIFLIEGEN von Undine Siepker, heute 23.40 Uhr, im Bayerischen Fernsehen

Samstag, 25.09.2010


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