Schilder
The Disorderly Orderly, Frank Tashlin, 1964
Neuss, 2010
Terry, Milton Caniff, 1944
Charlton Heston, Oklahoma City, 1961; Jerry Lewis, Los Angeles, 1973.
Costa Brava, 2001
The Disorderly Orderly, Frank Tashlin, 1964
Neuss, 2010
Terry, Milton Caniff, 1944
Charlton Heston, Oklahoma City, 1961; Jerry Lewis, Los Angeles, 1973.
Costa Brava, 2001
Es ist mir ein Vergnügen, hier auf Jacques Lizènes je circa einminütige Dokumentationen TENTATIVE DE DRESSAGE D’UNE CAMÉRA und TENTATIVE D’ECHAPPER À LA SURVEILLANCE D’UNE CAMÉRA – beide von 1971 – hinzuweisen. Hier der YouTube-Link.
Gestern nachmittag um 15:05 kannte ich Jacques Lizène noch nicht, das gebe ich gerne zu, aber um 15:06 bekam ich zu meinem Glück eine Mail, die mich mit diesem großartigen Künstler bekannt machte. Die beiden Clips zeigen exakt das, was die Titel in Aussicht stellen: Den Versuch, eine Kamera zu dressieren im einen Fall, den Versuch, der Überwachung durch eine Kamera zu entkommen im anderen.
Lizène, der aus Lüttich kommt und sich selbst verschiedentlich als „Petit maître de la médiocrité“ bezeichnet, ist ein großer Humorist, man achte – trotz der schlechten Qualität des Videos – nur auf seinen Gesichtsausdruck im Dressurfilm und auf die schleichenden Bewegungen im Fluchtversuch. Mich erinnerte der erste Film an Baldessaris TEACHING A PLANT THE ALPHABET von 1972, aber wo Baldessari mit einem unbeirrbaren Deadpan-Stoizismus agiert, schlägt sich Lizène ganz auf die Seite des agilen Slapstick. An Broodthaers darf man wohl auch denken. Übrigens sind, um den ersten der beiden Clips zu verstehen, keine Französischkenntnisse nötig. Der zweite ist sowieso stumm.
Wäre das ganze nicht von 1971, würde es schon jetzt zu den besten Filmen von 2010 gehören. Das heißt: Filme gehören ja in das Jahr, in dem man sie kennenlernt, insofern: Einer der besten Filme von 2010.
[Vielen Dank an Andreas Hirsch für die Email.]
Augmented Reality, erläuterte einer, funktioniert so: Leute programmieren eine virtuelle grafische Schicht und legen sie über das, was wir als Realität kennen. Sie überziehen die Umgebung mit einer bedruckbaren Klarsichtfolie, die im normalen Leben nicht wahrzunehmen ist. Sichtbar wird diese Folie, wenn man sein Telefon, also genauer: die Kamera des Telefons, irgendwohin hält. Auf einer Wand steht dann: »Ich war hier«, oder in der Luft schwebt »Das, was Sie da grad sehen, ist der Kölner Dom«.
In einem YouTube-Clip hatte er eine Frau die Vorzüge der Augmented Reality preisen sehen. Sie war sehr aufgeregt bei dem Gedanken, wie man der realen Welt jetzt eine zweite Welt voller kommunikativer Möglichkeiten hinzufügen könne. In der zweiten Hälfte ihres Vortrags kam sie, erinnerte er sich, nicht auf Arthur Schnitzlers Erzählung »Ich« von 1917 zu sprechen, in der jemand seiner Existenz immer unsicherer wird und deshalb beginnt, die Möbel und Menschen in seiner Umgebung mit kleinen Zetteln zu versehen. Auf den Zetteln steht »Tisch«, »Spiegel«, »Bett«, »Ehefrau« und so weiter, und er klebt diese Zettel auf den Tisch, den Spiegel, das Bett, die Ehefrau; das beruhigt ihn ein bisschen. Ende und Höhepunkt der Erzählung sei (wenn er das richtig in Erinnerung habe), dass der arme Mann völlig verwirrt und erschöpft – oder ist er sogar tot, ja, doch, wahrscheinlich ist er eher tot – in seinem Zimmer gefunden wird. Auf seinem Rücken findet man einen Zettel mit dem Wort »Ich«.
Verstehe, warf ein anderer ein, aber wo wir grad von diesen neuen Beschriftungen der Welt reden, das ist doch nichts anderes als virtuelles Reviermarkenpinkeln, und die Großkapitalisten – er neigte zu vulgärmarxistischen Ansichten und gefiel sich in der Verwendung anachronistischer Politterminologie – sind sowieso die ersten, die sich die Technik zu eigen machen würden und die hübsche Klarsichtfolie von oben bis unten mit Werbebannern vollpinseln. Erst pflastern sie die wirkliche Welt zu mit Werbung, beklagte er sich, und wenn die voll ist, machen sie einfach in der virtuellen Welt weiter. »Starbucks 200 Meter rechts«. Und was ist eigentlich aus dem Second Life geworden? Muss man sich das als Geisterstadt 2.0 vorstellen, ein Update der verblassten Straßenraster, die er aus dem Flugzeug östlich von Los Angeles im Wüstensand gesehen hatte?
Einem wiederum anderen fiel zu diesem Thema Julius von Bismarcks Fulgurator ein. Der Fulgurator ist ein findig umgebauter Fotoapparat, der auf das Blitzlichtsignal anderer Fotografen reagiert. In exakt dem Moment, in dem jemand in der Nähe den Auslöser seines Fotoapparats betätigt, projiziert das Gerät ein zweites Bild in das fremde Bildmotiv hinein. Das ist wie eine Art kurzzeitige Tätowierung der Realität, ein Stempel, der kurz aufblitzt, aber fremde Fotografien dauerhaft kontaminiert: Leute fotografieren das Schild am Checkpoint-Charlie und sehen auf ihrem Bild stattdessen die Information, wie viele Mexikaner jährlich beim Versuch sterben, die US-amerikanische Grenze zu überqueren. Am Tiananmen-Platz fliegt über das tausendfach fotografierte Mao-Porträt plötzlich eine Friedenstaube. Klaus Wowereit trägt auf den Fotos der Pressefotografen ein O2-Logo am Revers. Die Blicke der fulgurisierten Touristen und Pressefotografen sind einigermaßen verwirrt, sie vergleichen die unveränderte Realität mit ihrem augmentierten Abzug, reiben sich die Augen und wissen nicht genau, woran sie zweifeln sollen. Julius von Bismarck, Erfinder und Inhaber des Patents, prognostiziert Klagen von Leuten, die ihn der Manipulation ihrer Fotos bezichtigen. Im Prinzip freut er sich aber auf einen Prozess, denn die Sache liege ja klar zu Tage. Nicht die Fotos manipuliere er, sondern das, was die Leute fotografieren, da ist er juristisch auf der sicheren Seite.
Andersherum erging es mir am Ostersamstag. Am Beginn des Finales von FÄHRMANN MARIA begleitet Maria (Sibylle Schmitz) den Tod in eine Kirche. Sie geht in den Glockenturm und zieht am Seil. Ich glaube, sie will die Dorfbevölkerung und ihren todgeweihten Geliebten in der Fährhütte warnen. Das Seil bewegt sich auf und ab und der Klöppel schlägt ein ums andere Mal an den Glockenrand. Aber es ist kein Laut zu hören, nur gespenstische Stille. Ich traute meinen Ohren nicht, denn in genau dem Moment, an dem die Filmglocken den Dienst versagten, setzte ein Klang ein, der nicht aus dem Film, sondern von draußen zu kommen schien. Ich öffnete die Balkontür und hörte jetzt ganz klar und deutlich die Glocken, die in der Kirche nebenan gerade zur Ostermesse geläutet wurden.
* Leucothéa.
Eine Zeitschrift mit Texten, Fotos und bewegten Bildern die lose bis eng mit Straub und Huillet verbunden sind.
* Jean-Marie Straub et Danièle Huillet. Des films et leurs sites
Eine umfassende Seite, deren Umfang und Navigation ich noch nicht ganz verstanden habe, die sich aber in vielfältiger Weise um die Verbreitung und Diskussion der Filme von Straub/Huillet kümmern soll.
Beides, hélas, vorerst nur auf Französisch.
Ich bin überzeugt, dass Schwimmen für den Menschen genauso natürlich ist wie für eine Ente. (Herman Melville: Typee, 1846)
Rose Rolando, alias Rosa Covarrubias, Woman (Maurice Tourneur, 1918)
Als ich im Dezember etwas über den Unterwasserfilmpionier und Erfinder John Ernest Williamson schrieb, hätte ich auf einen Artikel von Brian Taves hinweisen sollen, aus dem nicht nur einiges über den Film With Williamson Beneath the Sea (1932) zu erfahren ist, sondern nebenbei auch ein wenig über Maurice Tourneur.
Williamson lieh dem Regisseur 1919 seine Tiefseeröhre für das Finale von The White Heather, ein Duell zwischen zwei Tauchern. Als großangelegte Zusammenarbeit von Williamson und Tourneur war Jules Vernes The Mysterious Island geplant. Aber daraus wurde nichts. Maurice Tourneur stritt sich mit MGM, brach die Arbeit ab und verließ, nach 12 Jahren in Hollywood, die USA.
1926. Auf dem Buchrücken von Harry Waldmans Monographie ist diese Jahreszahl versehentlich Tourneurs Todesdatum.
Maurice Tourneur (1873 – 1961), geboren und gestorben in Paris, war erst Buchillustrator, zuletzt französischer Übersetzer amerikanischer Krimis, in der Mitte seines Lebens einer der Großen seiner Generation. Neben ihm: Griffith, De Mille, King und Walsh. Ford und Vidor waren fast zwanzig Jahre jünger als Tourneur. Er verfilmte Leroux (Le Mystere de la chambre jaune, 1913), Maeterlinck (The Blue Bird, 1918), Conrad (Victory, 1919), Stevenson (Treasure Island, 1920).
Immer wieder wird die Frage gestellt: Wie konnte Maurice Tourneur in Vergessenheit geraten?
Maurice Tourneur beim Dreh von The White Heather, 1919 (Via México)
1920 sagte er über das Kino: „It is the most significant instrument for bringing together nations and classes because it shows us in the most rapid and forceful way how human beings resemble each other, how the color of their skin or their language does not prevent their hearts from beating in a similar manner. More through the cinema than through the efforts of diplomats, men will realize their needs, aspirations and joys and will stop considering others as strangers.“
Im Kapitel Subjects for further research schwärmt Sarris (in „The American Cinema“) von „Barbara Bedford’s expressively pervers performance“ in The Last of the Mohicans (1920). In Woman war, nach Meinung der New York Times, Adam beeindruckend primitiv, aber Eva eine „modern lady minus her clothes“.
Woman erzählt episodisch vom Paradies, von Claudius und Messalina, Heloise und Abelard, einem bretonischen Fischer und einer Meerjungfrau. Bei den Dreharbeiten ertrank der bedeutende Kameramann John van der Broek. Im Jahr darauf lernte Tourneur, eigens für die Dreharbeiten von The White Heather, das Tauchen. Das war 1919, in dem Jahr, in dem Tourneurs fünfzehnjähriger Sohn Jacques amerikanischer Staatsbürger wurde. Es heißt, lange bevor es Mode wurde, habe sich Maurice Tourneur psychoanalysieren lassen. Stimmt es, was Peter Nau schreibt, dass der Mensch in Unterwasserfilmen einen Blick auf die eigenen Ursprünge wirft?
Jane Randolph, Cat People (Jacques Tourneur, 1942)
Elaine Morgan hat dargelegt, dass Primaten vor der Bedrohung durch Raubkatzen vom trockenen Land ins flache Küstenwasser flohen, wo sie im Laufe von etwa zwölf Millionen Jahren ihr Fell gegen eine wärmende Unterhautfettschicht austauschten und, indem sie den Kopf über Wasser hielten, den aufrechten Gang erlernten.
„Viele Eigenschaften, die als ‚einzigartig‘ beim Menschen bezeichnet werden, sind nur unter Landsäugern einzigartig. Für die meisten von ihnen finden wir, wie wir sehen werden, sobald wir die wasserbewohnenden Säuger betrachten, Parallelen in Mengen. (…) Weshalb entwickelte Homo sapiens den größten Penis von allen lebenden Primaten? (…) Weshalb schaltete er vom Aufreiten von hinten um auf die frontale Annäherung? Und auch hier werden Sie vielleicht nicht gleich bereit sein zu glauben, das stete sexuelle Verhalten des Mannes stehe in irgendwelchem Zusammenhang mit einer im Wasser verbrachten Phase seiner Geschichte. Doch wenn Sie sich erst vergegenwärtigen, dass praktisch alle Landsäugetiere die sexuelle Annäherung von hinten und praktisch alle Wassersäuger die frontale Annäherung dabei benutzen, dann werden Sie mindestens argwöhnen, dass das nicht reiner Zufall sein kann.“ (Elaine Morgan: The Descent of Woman, 1972)
Dass aus dieser Wandlung (ausführlich nachzulesen in Klaus Theweleits „Männerphantasien“, 1977) dann Grausamkeit und Sprache hervorgingen, sei hier nur nebenbei erwähnt; …so does ancient sin cling to the low places, the depressions in the world consciousness.
Mit dieser Schrifttafel beginnt Cat People von Jacques Tourneur. Beim wunderbaren Produzenten Val Lewton waren solche Anfänge üblich. Der zitierte Autor ist eine blanke Erfindung. Tom Conway spielt im Film den zwielichtigen Dr. Louis Judd.
Schöne Musik dazu: You narcissistic arsehole / Oh you nasty, nasty man! (Kate Miller-Heidke).
+
Zum Unterwasserfilm gibt es viel zu lesen im brandneuen Sonderheft 13 von „Kolik.Film“.
Nikt nie wola (Niemand ruft, Polen 1960) von Kazimierz Kutz scheint mir innerhalb der ‚polnischen Schule’ der 50er und 60er Jahre (Has, Kawalerowicz, Konwicki, Morgenstern, Munk, Rózewicz, Wajda u.a.) etwas Besonderes zu sein. Wenn diese Schule die Vorgaben des sozialistischen Realismus durch Anlehnung an den italienischen Neorealismus und an den amerikanischen ‚Film noir’ überwand, so geht Kutz in seinem Film noch einen Schritt darüberhinaus. Das sonst abendfüllende Sujet – ein ganz junger Mensch, Angehöriger der polnischen Heimatarmee, hat sich geweigert, auf ‚Rote’ zu schiessen und ist nun auf der Flucht – wird in den Hintergrund (und ins Off) verbannt und spielt erst ganz am Ende wieder eine Rolle. Der Anklang an Popoliu i diamentu (Asche und Diamant, Polen 1958) von Wajda ist allerdings nicht zufällig: nur wollte Kutz in seinem Film das romantisch Aufgeladene der Figur (dort von Zbigniew Cybulsky gespielt) und die dramatische Zuspitzung vermeiden.
Ein Eisenbahnzug, vollgepackt mit Flüchtlingen und Vertriebenen, fährt in einen Ort (im Film Zielno genannt) ein: das ist real das niederschlesische Habelschwerdt, danach Bystrzyca Kłodzka, aus dem die Deutschen vertrieben worden sind. Der Strom der Menschen ergiesst sich in die leere Stadt, Trinkwasser wird ausgeteilt, Unterkünfte und Wohnungen werden in Beschlag genommen. Zwei junge Menschen haben sich herausgeschält aus der Menge: Lucyna (Zofia Marcinkowska) und Bozek (Henryk Boukolowsky) – er hat eine baufälliges Haus, fast eine Hütte, am Fluss bezogen, sie lebt mit ihrer kleinen Schwester in einem mit ‚Internat’ bezeichneten Heim. Zwischen den beiden entspinnt sich eine Liebesgeschichte – doch der Film behandelt die Beziehung eher wie eine ‚Versuchsanordnung’, nimmt das Transitorische der Situation ernst und bleibt im wahrsten Sinn episodisch. Sehr viele Dialoge zwischen Lucyna und Bozek finden vor alten, fleckigen, abgerissenen Mauern statt – was die Körper, die Gesten, die Worte wie ‚ausgestellt’ erscheinen lässt. Das sind ‚optisch-akustische Situationen’. (Hinter dem Leichten, Flüchtigen, Episodischen macht sich jedoch immer wieder ein ‚Grundgefühl’ der Angst bemerkbar. Oder wie Reiner Schürmann in „Origines“ / „Ursprünge“ schreibt: „Mein Erinnerungsvermögen hat sich auf Angstzustände spezialisiert.“)
Zurecht weist Rafal Marszalek im polnisch-englischen DVD-Booklet auf den Zug zum ‚Antonionischen’ des Films hin, vergleicht die Kameraarbeit von Jerzy Wójcik mit der von Carlo di Palma [vielleicht könnte man auch an Gianni de Venanzo denken]. Der Film sei 1960, schreibt er, völlig verkannt worden und durch einen administrativen Akt etwa 25 Jahre lang nicht in den Verleih gekommen. Die polnische Kritik habe damals vor den „Gefahren des Modernismus“ gewarnt und sich gefragt, wovon der Film überhaupt handle. Ausser vagen, gelegentlichen Versuchen, sei diese artistische Spur erst mit dem Film-Debut von Skolimowski wiederaufgenommen worden. [Mir scheint jedoch, dass zum Beispiel auch schon der sehr schöne Polanski-Film Nóż w wodzie (Das Messer im Wasser, Polen 1962), dessen Drehbuch er zusammen mit Skolimowski schrieb, in diese Reihe gehört.]
Man könnte bei Niemand ruft zum Beispiel noch hinweisen auf das angenehme Wesen der Hauptdarstellerin – Zofia Marcinkowska –, ihr hübsches Aussehen (das sich im Verlauf des Films als sehr veränderlich erweist): sie hat es in ihrer Zeit immerhin auf die Titelseiten von einigen polnischen Zeitschriften gebracht. Nur blieb ihre Zeit sehr kurz bemessen: 1963, 23jährig, hat sie Selbstmord begangen.
Eine Nebenlinie des Films möchte ich noch erwähnen. Es gibt da einen gestandenen Menschen – ein Arbeitertyp, der zum ‚Wanderer’ geworden ist –, der beim Gang vom Zug in die Stadt von Bozek ein Glas Wasser verlangt (der hatte eben eine Wasserflasche erstanden). In der Stadt, bevor er verschwindet, ruft er Bozek über die Menge hinweg zu, dass er vielleicht morgen schon Bürgermeister sei. Danach sieht man ihn allerdings nur immer am Brückengeländer stehen und auf den Fluss hinunterstarren. Die Qualität des Wassers behagt ihm nicht, die ist in dem Ort, aus dem er gekommen ist, besser. Bozek muss des öfteren an ihm vorbeigehen, zögert hie und da ein bisschen, aber gesellt sich dann regelmässig zu ihm, wechselt ein paar Worte. Mehr nicht. Dieses Nicht-einfach-Vorbeigehen, das er da zu einer Regel macht, bürgt doch auch schon für etwas – oder nicht?
Was ist das Kino? Zuallererst ein rätselhafter Ort. Ich nenne nur als Beispiel den Palast, der am einzigen Boulevard der Stadt, dem Hohenzollernring, 1931 erbaut, verborgen hinter einer Bürofassade damals 3000 Plätze hatte. Die feine Architektur, mit selbstverständlichen Schwüngen und klugen Kurven, wurde irgendwann dann zerschachtelt in 13 mitunter wild verwinkelte Kinoräume. Schmale Gänge führen zu den Projektorkammern oder überraschend auch mal in einen großen Saal (Kino 11), einst ein gewaltiger Balkon, mit zwei kleinen Logen. Separees! Aus Sparsamkeit erhaltene Details und Proportionen erzählen bis heute davon, wie es war – sein müsste – nicht bleiben konnte. Aber wer wie ich, viel Zeit verbrachte in diesem gigantischen Versteck, während drum herum die großen Säle der Stadt nacheinander schließen mussten, der lernte es zu respektieren, mehr noch, fand Gefallen am Martialischen dieser bizarren Umrüstung. Es gibt da eine kleine Brücke, die ein altes Treppen-Schneckenhaus frech durchkreuzt. Das sieht aus, als wären auf mexikanische Art gekreuzte Patronengurte im Traum zur zivilen Architektur geworden.
Vorgestern – und gestern dann gleich noch einmal – sah ich Eyyvah Eyvah, der in Köln im Filmpalast (OmU) und in vielen anderen deutschen Städten läuft, auch wenn kein deutsches Feuilleton darüber schreibt. Es wäre auch gar nicht so einfach, das zu tun. Typisch für diesen Film, dass mittendrin ein Musiker den Streit mit einem Kollegen nicht scheut, um die Tonart eines Lieds an die Stimmlage der Sängerin anzupassen. Sorgfalt, Geduld und Zartheit sind dem Film so selbstverständlich, dass es kaum zu fassen ist. Wären Schönheit und Humor allein – Rhythmusgefühl und kinematographische Weisheit noch dazu – Vergnügen an Sprache und Licht obendrein – die Kriterien des Europäischen Filmpreises, dann wäre diese türkische Komödie wohl der sichere Gewinner. Es gibt aber, nehme ich an, noch ganz andere Ansprüche. Die Leute jedenfalls, für die der Film gemacht ist, wissen in welchen Kinos er läuft, in Aschaffenburg, Augsburg, Bielefeld, Berlin, Bochum, Bremen, Bretten, Crailsheim, Darmstadt, Dillingen, Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Erbach, Essen, Frankfurt, Freiburg, Gelsenkirchen, Günzburg, Hamburg, Hannover, Hechingen, Hürth, Karlstadt, Kelheim, Köln, Krefeld, Landshut, Lichtenfels, Marktredwitz, Mannheim, Meschede, Memmingen, Mosbach, München, Neckarsulm, Nürnberg, Osnabrück, Salzgitter, Schrobenhausen, Sindelfingen, Stuttgart, Walldorf und Wuppertal. Denn was ist das Kino eigentlich? Gar kein Ort. Flucht. Sache von Einwanderern. Zukunft.
Demet Akbağ und Ata Demirer
EYYVAH EYVAH von Hakan Algül
Erwähnen muss ich noch das winzige Kino 13 oben rechts unterm Dach des Filmpalasts. Für viele war es sicher eine bittere Enttäuschung, aber für jeden war es ein Erlebnis. Ein in der ganzen Welt einzigartiger Raum, ein Polyeder von grausamer Kompliziertheit. Unzählbar seine Ecken, seine stumpfen und spitzen Winkel. Unbegreiflich die Geländer, Ebenen, Schrägen, Stufen überall, selbst M.C. Escher wäre gestolpert. Irgendwo war oder ist auch noch ein Kühlschrank. Früher hieß es „Ufa 13“, für mich heißt das Ding auf ewig so. Dieser liebgewonnene teppichbodenbezogene Hohlkristall. In den letzten Jahren sah ich dort einige Filme mit Will Ferrell. Niemand, der das Gefühl nicht kennt, kann sich vorstellen, wie es ist, in einem halb kubistischen, halb expressionistischen Rhombikosidodekaeder zu sitzen und Old School auf der Leinwand anzuschauen. Ich habe mir deshalb jetzt vorgenommen, den Raum, als Mitglied eines internationalen Forscherteams, mit Echolot zu vermessen und ihn auf der nächsten Dokumenta nachzubauen, aus Krokant.
„In der Münzgasse hinter dem Alexanderplatz befinden sich mehrere Tageskinos, die alle schon um 11 Uhr vormittags eröffnen. (…) Wie in jenen verschollenen Zeiten, als noch die Filme stumm waren und schöner, muss man an der niederen Leinwand vorbei in die Hintergründe des Zuschauerraums, der ein unermesslich langer Schlauch ist. Er strömt einen Geruch aus, an dessen Herstellung offenbar Generationen gearbeitet haben, und wimmelt von Menschen.“ Wir erleben auch mit, wie Hans Albers („der Favorit der Münzstraße“) zu Heinz Rühmann in die Badewanne springt und das Publikum begeistert ist, als er den Schmächtigen mehrmals untertaucht. – Von diesem Kinobesuch erzählt Siegfried Kracauer in dem schönen Band „Straßen in Berlin und anderswo“, der neu herausgegeben wurde, 1964 zuerst erschienen, blieb er fast unbeachtet. Die Sammlung von Feuilletons (entstanden zwischen 1926 und 1933) lässt uns Kracauer als wachen und auch wahr-träumenden Beobachter des Vorkriegsalltags kennen lernen. Und nicht nur für Filmfreunde ist der Text „Ansichtspostkarte“ aufregend und unheimlich zu lesen, weil sowohl Kommendes hinein- oder herausgelesen werden kann. Die Ausgabe ist mit einem (interessante Verbindungen herstellenden) Nachwort von Reimar Klein versehen. Siegfried Kracauer, Straßen in Berlin und anderswo, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt, 2009, 268 Seiten, 15,80 €.
Unter den Titeln FILM ANNONCE 2 und FILM ANNONCE 6 ist seit ein paar Tagen mehr als nur ein Trailer zu Godards SOCIALISME (2010) auf youtube und vimeo zu sehen. Wenn ich es richtig verstehe, ist vielmehr der gesamte Film dort veröffentlicht, allerdings auf die Länge von 4 Minuten und 6 Sekunden (in vimeo auf 1 Minute 6 Sekunden) beschleunigt und von hinten nach vorne abgespielt. In Final Cut dürften es 2 Handgriffe sein, den Film auf seine ursprüngliche Dauer umzurechnen und die Richtung zu ändern.
Interessantes Konzept von viralem Marketing und Vergesellschaftung – gesetzt den Fall, das kommt von Godard selbst, wofür die Godardesken Texteinblendungen sprechen. Sozialismus anno 2010, for those who don’t have the time. Der Screenshot stammt aus dem Abspann des Trailers & somit aus dem Vorspann des Films: Wenn das Gesetz nicht gerecht ist, geht Gerechtigkeit vor Gesetz.