Donnerstag, 16.06.2016

Karten, Pläne (VII)

1915 - Alias Jimmy Valentine - Maurice Tourneur
Alias Jimmy Valentine (1915 Maurice Tourneur)

Der Plan zu einem Bankraub, den der Räuber nicht ausführen wird. Ein falscher Name schenkt ihm Gelegenheit zur Läuterung. Nicht im erprobten Talent, sondern im Abweichen vom dem, was bislang Gewohnheit war, liegt seine Zukunft.

1921 - Forbidden Fruit - Cecil B. DeMille 1

Forbidden Fruit (1921 Cecil B. DeMille)

Aus dem kartografischen Wandschmuck des Ölmillionärs ragen kleine Bohrturmmodelle heraus. So eine Idee ist nichts Ungewöhnliches bei Cecil B. DeMille, der die Menschheit mit der Badewanne und mit dem modernen Kino bekannt machte.

Modern. Was ist das? Es gibt da mindestens zwei Auffassungen. Eine sagt: Was wirklich modern ist, bleibt modern. Andererseits muss das, was modern ist, notwendigerweise ummodern werden, damit etwas neues modern sein kann.

1921 - Forbidden Fruit - Cecil B. DeMille 3

Hier wird der Plan für einen Einbruch fixiert. Das, was zu wissen nötig ist, passt auf eine Manschette. Alles Wissenswerte tragen die Leute in DeMilles Filmen am Leib.

1921 - Forbidden Fruit - Cecil B. DeMille 2

Zu den Partys in DeMilles Strandhaus brachten die weiblichen Gäste ihre Abendgarderobe fürs ganze Wochenende mit; Männer waren gebeten ihre eigenen Hosen mit einem im Gästeschlafzimmerschrank bereitgestellten Hemd zu kombinieren. Es gab zur Auswahl drei russische Hemden – rot, weiß oder schwarz – und dazu als Schmuck eine goldene oder eine silberne Kette.

1937 - Souls at Sea - Henry Hathaway
Souls at Sea (1936 Henry Hathaway)

Nackt. Das ist die ideale Art zu reisen, zumindest war sie das in einem nie realisierten Filmprojekt von Henry Hathaway: A Passage to India. Die Dokumentation einer Pilgerreise. Hathaway erzählte Polly Platt, was die Pilger machen: „they start out from Kashmir and go on foot out of India up into the Himalayas to a big cave. The last fourty miles, they take off their clothes and they go naked through the ice and the snow to a cave where there’s a phallic symbol hanging down.“

1939 - The Arsenal Stadium Mystery - Thorold Dickinson
The Arsenal Stadium Mystery (1939 Thorold Dickinson)

Wie war die Situation auf dem Spielfeld, als der Tod eintrat?

Prügeleien in Fußballstadien werden schon seit einiger Zeit nicht mehr gesendet. Auch Flitzer sollen nicht den Weg ins Gedächtnis der Zuschauer finden. Vor ein paar Tagen nannten die deutschen Sendeanstalten diese (von der Uefa vertretene) Strategie: Zensur! „Die Realität“ solle nicht sichtbar werden! (Wo doch diesmal klar zu sehen wäre, von wem die Gewalt ausgeht! Nicht von Deutschen!)

Wo mit Bedacht zwischen zwei Gütern entschieden werden muss, melden immer häufiger nicht nur die Rechten, ihr „Wir“ sei von Fremdherrschaft bedroht. „Ich meine, wir dürfen uns nicht vorschreiben lassen, was bei UNS im Land Satire ist, durch einen AUSLÄNDER, wo immer er herkommt.“ Das sagte Renate Künast im Bundestag am 12.5.2016.

„Deutsch ist zwar unmusikalisch, aber ohne Zweifel die ausdrucksvollste aller Sprachen“, bemerkte Sherlock Holmes anlässlich einer Sturzflut deutscher Schimpfworte aus dem Mund eines überführten Spions zu Beginn des ersten Weltkriegs. *

Die Wahnsinnsidee vom Kulturvolk in Notwehr, sie wurde 1914 fixiert im Manifest der 93. Es lohnt sich das zu lesen.

1943 - Forever And A Day - Edmund Goulding b
Forever And A Day (1943 Edmund Goulding, Robert Stevenson, u.a.)

Nigel Bruce, der unsterbliche Darsteller des Dr. Watson, war im ersten Weltkrieg von elf Kugeln ins linke Bein getroffen worden. In Forever And A Day lauscht er schlechten Meldungen, die ihn zwingen, mit einem Fähnchen auf einer Karte, den Frontverlauf bei Lille zu korrigieren.

Gedreht mitten im Krieg, um die Moral zu stärken; aber der Film verlässt das Haus nicht. Die Tradition ist sein Bewegungsraum. Schwer melancholisch.

Horace and Pete

Es ist Mitte Juni, so soll auch dieses Jahr schon beinah halb vorbei sein. Meine Top-Ten 2016 sähe bislang so aus (alphabetisch): Alice Through the Looking Glass (James Bobin), Die Geschichte des Grafen Porno zu Gailsberg (Sadi Kantürk), Horace & Pete (Louis C.K.), Louie – Season 5 (Louis C.K.), Ovation! (Henry Jaglom), Pawn Sacrifice (Edward Zwick), Spotlight (Thomas McCarthy), Un + Une (Claude Lelouch), Unterwäschelügen (Klaus Lemke), Verfluchte Liebe – deutscher Film (Sievert & Graf).

1947  Cheyenne - Raoul Walsh
Cheyenne (1947 Raoul Walsh)

Jeder kleine Kreis markiert einen Überfall. Der fleißige Räuber hinterlässt Gedichte.
„I’m happy the frontier is settling down / With a thriving bank in every town / Let the riders and nesters deposit their pay / So I and my gun can take it away. / The Poet“

Dazu 5 Entdeckungen im ersten Halbjahr 2016 (in Kinos in Köln, München, Nürnberg, Tel Aviv): A Day in the Life of Bonnie Consolo (1975 Barry Spinello), Brennende Langeweile (1978 Wolfgang Büld), La lunga notte del ’43 (1960 Florestano Vancini), Der Pfarrer von St.Pauli (1970 Rolf Olsen), Die Spanische Fliege (1955 Carl Boese).

1949 - The Doolins of Oklahoma - Gordon Douglas

Von seiner Frau (Virginia Huston) wird der Outlaw (Randolph Sott) gefragt, ob es denn nicht irgendwo einen Zufluchtsort gäbe, wo sie gemeinsam leben könnten. Zwischen Texas und Kansas sei dieser Streifen Land, sagt er und zieht einen Fetzen Landkarte aus der Hemdtasche.

1949 - The Doolins of Oklahoma - Gordon Douglas b
The Doolins of Oklahoma (1949 Gordon Douglas)

Er: „No Man’s Land they call it. They have no laws there. This is a strip 35 miles wide and 10 miles long. A man could change his name and nobody would care who he was and what he had been.“
Sie: „Well then let’s go, now, and together.“

„Ein Film mit einem langen Atem und ohne Langeweile.“ (Joe Hembus: Westernlexikon)

1951 - Anne of the Indies - Jacques Tourneur
Anne of the Indies (1951 Jacques Tourneur)

„Kommt, ihr Unglücklichen, in denen noch verborgene Vorzüge stecken – kommt und empfangt die sicheren tugendhaften Kräfte von Fluss, Wald und Feld! Zwei Monate (Juli und August 1877) habe ich sie eingesogen, und sie beginnen, einen neuen Menschen aus mir zu machen. Jeden Tag Zurückgezogenheit – jeden Tag mindestens zwei, drei Stunden Frieden, Baden, keine Gespräche, keine Bindungen, keine Kleidung, keine Bücher, keine Manieren.“
Walt Whitman nennt in seinem Tagebuch das Nacktherumlaufen „mein adamisches Luftbad“.

Marianne de ma jeunesse .1955 Julien Duvivier
Marianne de ma jeunesse (1955 Julien Duvivier)

„Der Nudismus ist das Geheimnis einer guten Gesundheit“, sagt Michel Simon in La fin du jour (1939 Julien Duvivier)

A Shot in the Dark 5
Elke Sommer und Peter Sellers in…

A Shot in the Dark 9
A Shot in the Dark (1964 Blake Edwards)

Ein Wandschirm, mit dem Stadtplan von Paris bedruckt. Davor eine als Uhr getarnte Zeitbombe.
Drumherum ein als Bilderstrecke getarnter Text über das Preisgegebensein und das Moderne.

Als ich vor drei Jahren anfing, mich für Karten und Pläne in Filmen zu interessieren, war nicht abzusehen, dass es mir gelingen würde – in Kapitel II – entlang vieler Bilder ein bedeutsames Thema (den Vater-Sohn-Konflikt) zu behandeln. Eine feine Sache, die mir dann in den Kapiteln III, IV, V und VI glatt misslang.

His last bow 1917

Es gibt die schöne Stelle in Journey to the Center of the Earth (1959 Henry Levin), wenn sich die Expedition dem Erdmittelpunkt nähert und es wärmer und wärmer wird und auch Arlene Dahl immer mehr Kleidungsstücke ablegt.

„Modern zu sein, war nämlich immer schon modern,“ sagt Liselotte Pulver in Charly Steinbergers Monika und die Sechzehnjährigen (1974), mit einem zufriedenen Lächeln.

Was aber ist das nun genau? Modern zu sein. Und was wäre das Gegenteil?
Einem Mann stirbt der Hund. Seine Tochter ist eine kaltherzige Karrierefrau. Der liebenswerte Spaßvogel trifft den Entschluss, seine Tochter zu erden. Nackt, so steht sie zu guter Letzt ihrem fellbedeckten Vater gegenüber. Aus kapitalistischer Prostitution im tristen Ausland holt er sie heim ins grüne Vaterland. Der Film, der in Cannes keine Palme bekam, ist zwar besser – aber auch 160 Minuten länger als sein Trailer.

The Globe, Swanage
The Globe (1887), Swanage, Dorset, Postkarte

Die am ehesten naturnahe menschliche Gesellungsform ist, laut Sir Galahad, nicht die Familie, sondern die Frauensippe, in deren Schutz neues Leben und Reichtümer gedeihen, während Männer „ihrer Naturfunktion nach flüchtig und ewig wechselnd“ vorbeiziehen. „Mit dem ‚Vaterschaftswahn’ aber beginnt jegliche Unnatur, mag ihm auch sonst noch so Großartiges entstammen.“
(Sir Galahad alias Bertha Diener: Mütter und Amazonen, 1932)

Plötzliche Erkenntnis durch Billianfilme: ‚Männer’ gibt es gar nicht wirklich. Es liegt nur an ihrer langweiligen Verkleidung; ein Teil von uns spielt lebenslang diese tristen, sachlichen, unfreundlichen Hosenrollen. Von Natur aus sind aber alle mehr so Frauen wie bei Billian. Ich muss mir angewöhnen, das so zu sehen. Es ist lustiger und lässt die Welt gleich viel vertrauter wirken.“
(Silvia Szymanski: Filmtagebuch einer 13-Jährigen #16: 15. Hofbauerkongress)

The Italian Job (1969)
Michael Caine in The Italian Job (1969 Peter Collinson) via

Michael Caine on Acting in Film (1987): “We hang on to each others eyes. That’s the most important thing in film: eyes.” Filmschauspielern mit blonden Wimpern empfiehlt er nachdrücklich: Mascara.

2013 Water Music
Water Music (2014 Collective One Take) – Eine Alpendurchquerung mittels Sizilien-Landkarte

„Der Ritter De la Tour Landry erzählt in der Belehrung für seine Töchter von einem sonderbaren Orden minnender Adliger und Frauen, der in seiner Jugend in Poitou und anderswo bestanden habe, Sie nannten sich ‘Galois et Galoises’ und hielten ‘une ordonnance moult sauvaige’ (‘eine gar strenge Ordensregel’), deren vornehmlichste Bestimmung war, dass sie sich im Sommer warm in Pelze und gefütterte Hauben kleiden mussten und Feuer im Kamin brannten, während sie im Winter nichts als einen Rock ohne Pelz tragen durften, keine Mäntel oder anderen Schutz, keinen Hut, keine Handschuhe oder Muff, wie es auch fror. (…) Man kann in dieser wunderlichen Verirrung – so sonderbar, dass der Schreiber sie schwerlich ausgedacht haben kann – kaum etwas anderes sehen als eine asketische Steigerung des Liebesreizes. (…) ‘Und ich fürchte sehr, dass jene Galois et Galoisinnen, die in diesem Aufzug und bei diesen Liebesspielen starben , Märtyrer der Liebe wurden’“
(Johan Huizinga: „Herbst des Mittelalters“, 1919)

Bedwyr Williams Polar Bear Island Coastline 2014

Bedwyr Williams: „This Polar Bear in Scott Polar Research Institute has been deep cleaned. The blue edging looks like a coastline as if it were an island. It would be a boring island apart from the head region and the nether regions.“

Donnerstag, 02.06.2016

Filme der Fünfziger XIX: Vergiß die Liebe nicht (1953)

Frühstückszeit im Einfamilienhaus. Drei Kinder, der Ehemann Franz (Paul Dahlke), seine Frau Anna (Luise Ulrich) und die Haushälterin Stadler (Annie Rosar) laufen geschäftig herum. Es wird palavert, es lärmt wie in einem italienischen Familienfilm. Schließlich sitzen alle am Tisch, nur die Ehefrau springt immer wieder auf, kümmert sich, hastet, besorgt, was fehlt und bekommt vom Frühstück schließlich nur noch die Reste. Vater Franz plant eine Wochenendreise nach Innsbruck; im Auto ist für Anna kein Platz mehr frei. Egal, geht schon. Als sie ins Haus zurückkehrt, sitzt die alte Haushälterin mit der „Vogue“ im Sessel und klärt die Ehefrau auf: Anna rackert sich ab für die Familie und bekommt kein Gehalt, keine Weihnachtsgratifikation, nicht die geringste Anerkennung und muss im Urlaub sogar zu Hause bleiben. So beginnt „Vergiß die Liebe nicht“ in der Regie von Paul Verhoeven. Gleich präsentiert er einen Gegenentwurf zu dieser normalen Ehe. Statt mit der Familie in den Kurzurlaub zu fahren besucht Anna ihre Freundin, die Frau eines Modesalonbesitzers. Dieser Mann springt auf, wenn ein Aschenbecher fehlt und bringt seiner Frau das Frühstück ans Bett. In einer Woche hat Anna Geburtstag; aus der Modekollektion des Mustergatten schenkt ihr die Freundin schon jetzt einen Pelzmantel und schicke Kleider – Himmlisch!
Immer wieder wird Anna von der Kamera isoliert und spricht im Off mit sich selbst. Sie ist frustriert und mag es nicht sagen, sie verliebt sich auf ihrer Urlaubsreise und traut sich nicht recht; Anna fremdelt mit der Familie, aber auch mit der ungewohnten Welt des Charmes, ihren schicken Kleidern und neuen Chancen als attraktive, allein reisende Frau. Ihre Off-Stimme kommentiert und reflektiert jede neue Wendung, erst unsicher, dann immer selbstbewusster und dann sogar mit selbstironischem Unterton. Paul Verhoeven inszeniert ein Spiel im Spiel – mit der Allerweltsgeschichte, dem Alltag und einer nur leicht gewagten Romanze.
„Vergiß die Liebe nicht“ war eine der seltenen intelligenten Filmkomödien der frühen BRD, akzentuierte realistisch und ironisch die patriarchalische Konstellation in einer von wirtschaftlichen Nöten freien Familie und funktionierte natürlich auch als Lebenshilfe für alle Frauen, die sich von ihrem Mann vernachlässigt fühlten. Brav und leider gar nicht mehr so spannend geht es im Film und im Leben zurück in die Harmonie des Familienidylls. In einer Parallelgeschichte fällt eine der Töchter auf einen verheirateten Schürzenjäger herein; ganz allein irrt sie nachts durch die Straßen und wird von einer Polizeistreife nach Hause gebracht. Wie gefährlich eine solche Romanze doch werden kann; gottlob ist es nicht zum Letzten gekommen, nicht bei der Tochter und nicht bei der Mutter. „Die Mutter“, so sah es der Kritiker des film-dienst, „besteht die Ehekrise, die sie mit verstärktem Verantwortungsbewußtsein in den Kreis ihrer gleichförmigen Alltagspflichten zurückkehren läßt.“

Im Fachblatt „Der Blumenbinder“ wurde auf die Möglichkeit der Produktwerbung hingewiesen; dafür gab es vom Verleih einen Plakataufsteller mit dem Spruch: „Denkst Du an Liebe/ Vergiß die Blumen nicht! Denkst Du an Blumen – Vergiß die Liebe nicht!“. Ob das Ehen gerettet hat? Treffend wäre ein anderer Spruch gewesen, dessen Urheber ich mir leider nicht gemerkt habe und der auch wenig kommerziellen Nutzen gehabt hätte: „In der Ehe verliert das männliche Auge seinen Glanz – Zunächst perlt es wie Sekt, dann wie Kamillentee.“

In der Kategorie „Problemfilm“ bekam „Vergiß die Liebe nicht“ 1953 den Bundesfilmpreis.

Nicht als DVD.

Dienstag, 31.05.2016

Nie zu bezahlen

Ernst Hodel Basel Bahnhof

Als ich staunend vor Ernst Hodels Wandgemälde (5 x 15 Meter!) im Bahnhof von Basel stand, musste ich natürlich an Henry Hathaways GARDEN OF EVIL denken.

Garden of Evil 1954

garden of evil

Das 6. Bildrausch Filmfest Basel bot am Wochenende Gelegenheit zurückzuschauen auf die Anfänge der Neuen Münchner Gruppe. Im Kraftfeld von Lemke & Enke & Zihlmann entstanden damals ein paar der schönsten Filme der 60er Jahre: MANNÖVER von May Spils, SABINE 18 von Marran Gosov, MÄDCHEN MÄDCHEN von Roger Fritz und ANATHAHAN ANATHAHAN von Martin Müller.
Vor einiger Zeit druckte SigiGötz-Entertainment einen längeren Text von mir mit der Überschrift:

MÜNCHEN MÄRZ 1969
von Rainer Knepperges

Der fremde Name einer Insel, eines Sternberg-Films oder Vulkans, ANATAHAN, thront als grafisch gestaltetes Firmenlogo über dem kleinen Wort „präsentiert“, worauf in zwei Zeilen die Leinwand füllend der Filmtitel folgt: ANATAHAN ANATAHAN, und in fast ebenso fetten, weißen Großbuchstaben, einzeilig: ANSGARD KULIK, ein unbekannter Name, dem die 16mm-Filmprojektion ein wenig von der Unruhe eines ersten Auftritts mit auf den Weg zur Leinwand gibt. Dann: SONJA LINDORF; und für den Bruchteil einer Sekunde erinnert sich die Filmkopie an dieser Stelle irgendwann mal durchgeschmort zu sein, und flackert auf. SIGI GRAUE, ROSI PRIESS, jeder Name zwei Sekunden lang zu lesen, WERNER ENKE, EBERHARD MAIER, ohne ein Geräusch, ohne Musik, KINKS, CHRISTI CULEMANN, nichts als römische Lettern und Licht und arabische Ziffern: ECLAIR ARRI 16

ANATAHAN_Anatahan

Sich diesem raren Film über die Beschreibung des Vorspanns zu nähern, hat zu tun mit einer weit verbreiteten, aber im Kino selten dargestellten Neigung, der hier rückhaltlos gefrönt wird: der Lust am Auflisten. Da sind die vielen Klassiker, aus denen eine Theatergruppe die besten Stellen reißt, um ein Stück daraus zu basteln. Da ist der Jungfilmer, der seine Pantheon Directors wie die Bundesligatabelle vom handgemalten Poster abliest. Da gibt es die Frage: „Welchen Tee möchtest du denn? Grünen? Schwarzen? Roten? Jasmin? Fenchel? Pfefferminz? Rauch? Malven? Chinesischen? Earl Grey? Hagebutten? Lindenblüten? Orange Peakou? Teefix?“ und die höfliche Antwort: „Vielleicht Malventee.“
Nachdem aber über Geldmangel, Kabelhilfe und das neue Micki-Maus-Heft geredet wurde, in dem es auf Goldsuche durch die Erde hindurch geht, ist Schluß mit dem Addieren – sind drei schon einer zu viel – und Zwei, frisch aus der Badewanne, in weiße Handtücher gehüllt, liegen auf der dunkelroten (wenn man’s weiß, denn der Film ist schwarzweiß), vom Zaren Nikolaus stammenden Samtdecke einander in den Armen, zur Musik von MARIANNE FAITHFULL.

ANATAHAN ANATAHAN

Deshalb zurück zum Vorspann. Denn da setzt nach einer halben Minute Stille plötzlich die Musik ein, beim Namen KLAUS LEMKE. Er spielt einen amerikanischen Regisseur auf Besuch in München, eigentlich ein Deutscher, der sich aber Montgomery Hathaway nennt. RENATE ZIMMERMANN, BERND FIEDLER, THEM, deren gewaltiges Gloria im Film regelrecht einprügelt auf den, zwischen weißen Lautsprechern, bäuchlings auf dem Teppich das Plattencover betrachtenden Veith von Fürstenberg. Die Reihenfolge der Nennungen im Vorspann ist also vielleicht weniger zufällig, als ich dachte, denn gleich nach THEM kommt eben VEITH FÜRCHTEGOTT VON FÜRSTENBERG, der später dann über das Zusammenkommen und Auseinandergehen von Van Morrisons Band monologisiert, während Sonja Lindorf mit undurchschaubarem Schmunzeln geschehen lässt, dass er sie unterdessen sehr vornehm befummelt. NAGRA KUDELSKI, ein guter Name für ein Tonbandgerät. BERND SCHWAMM, STEPPENWOLF, CHRIS KARRER, AMON DÜÜL II, ALEXANDER ENGELBRECHT, und jetzt zur Musik der Gesang: Throw my ticket out the window. AXEL SCHEUERECKER, CREEDENCE CLEARWATER REVIVAL, GUNTRAM WARNECKE, Throw my suitcase out there, too. EDDIE COCHRAN, WOLFGANG LIMMER, CRASH. Throw my troubles out the door. BOB DYLAN. I don’t need them anymore. CHRIS WILHELM, HEINER OBERMAIER, ‚cause Tonight I’ll Be Staying Here With You.

ANATAHAN ANATAHAN Fürstenberg Them Eiskonfekt

Der Regisseur MARTIN MÜLLER, Jüngster in der Münchner Gruppe, ging, als die Filmerei in Schwabing richtig losging, noch zur Schule, war Hauptdarsteller in Marran Gosovs schönstem Kurzfilm SABINE 18, hat ein paar kurze und ein paar lange Filme gemacht. Soweit ich sie kenne, ist kein schlechter dabei. Ein besonders schöner entstand noch vor wenigen Sommern mit Peter Przygodda. Viele gute Jahre war Müller Regie-Assistent bei Lemke. Tonmann war er bei Wenders und Krebitz und Karmakar. Er lacht gerne und spricht leise. Musik hört er laut.

Die Buchstaben im Vorspann sind von Hand gesetzt. Noch bis in die 90er gab es das selbstklebende „Letra-Set“. Ich habe den Umgang damit nie vermisst, aber jetzt sehe ich den Reiz der kleinen Abweichungen bei den Buchstabenabständen. ILFORD V. Im Münchner Werkstattkino widmeten Dolly & Bernd mal ein Programm ganz dem 16mm-Format – dem ewigen Teenager unter den Filmmaterialen – das vom Leben am meisten einsteckt. Sweet Little 16mm. Manches verschwindet, manches bleibt. ROLLING STONES. Zu deren Cry to me der nachfolgend genannte CHRISTIAN FRIEDEL durch eine dunkle Münchner Diskothek hindurch langsame, große Schritte macht, dabei eine Zigarette dreht, die er unangezündet dem DJ rüber reicht, um sich sodann von einer Frau im langen, engen, schwarzen Kleid auffordern zu lassen, die leere Tanzfläche zu erobern. Wo sich beide im Takt von Creedence Clearwater Revivals Proud Mary, ganz auf die korrespondierenden Bewegung ihrer Hüften konzentriert, immer mal wieder in die Augen sehen. Gefilmt ist das in der Totalen, mit Tanzboden und Saaldecke, also richtig, wie alles in diesem Film.

Lemke hört Elvis - Siebdruck 2012

Nachdem Klaus Lemke einen grandiosen Super-8-Film gesehen hat, in dem Werner Enke zum energischen Sound der Kinks – erst im Alleingang, dann zusammen mit Eberhard Maier – die Münchner Bürgersteige unsicher, also aus München Paris gemacht hat, sitzt Lemke ganz versunken da und hört über Kopfhörer Are You Lonesome Tonight. ELVIS.

ANATAHAN ANATAHAN 1

MÜNCHEN MÄRZ 1969. Mit diesem Schriftzug endet der Vorspann. Und während das letzte Lied auf der brandneuen LP Nashville Skyline weiter erklingt, beginnt der Film mit einem großen Bett, das einer buntgemischten Clique von Männern und Frauen als Couch dient. Es sind insgesamt elf Leute, die wie zum Gruppenbild dicht arrangiert – gewiss von keinem drängelnden Fotografen, allenfalls von einem flämischen Meister, am ehesten vom süßen Schicksal, von der Schwerkraft ihrer Leiber dirigiert wurden – wie Zueinandergefundene. I should have left this town this morning. But it was more than I could do. Ich liebe Gruppenbilder, weil sie im Vorbewusstsein entstehen, gemeinsam einen unwiederbringlichen Augenblick aus dem Fluss der Zeit aufs trockene Ufer des Papiers ziehen zu können. Stolz und Traurigkeit mischen sich zu todgeweihter Albernheit. Böse Kräfte, die jede Gemeinschaft auseinander driften lassen, werden für einen kurzen Moment nicht ignoriert, sondern diesen Mächten wird getrotzt. Oh, your love comes on so strong. And I’ve waited all day long. For tonight when I’ll be staying here with you. Sie ist da, die lange erwartete Zeit, die vergeht. Is it really any wonder. The love that a stranger might receive. Dass die Liebe kein Verdienst ist, nichts Errungenes, sondern Geschenk, nur Leihgabe, das ist Fluch und Segen. You cast your spell and I went under. I find it so difficult to leave.

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Eine langsame Tonblende von der Musik zum O-Ton macht es jetzt möglich Fürstenberg zu lauschen, der inmitten derer, die andächtig aufs Bett drapiert sind, aus einem Dialog zwischen zwei Groupies vorliest: „Backstage with the Stones!“
Später hat der Film dann die wunderbare Ruhe, ein blondes Mädchen, das eine ganz sanfte Stimme hat und Christi Culemann heißt, in schüchternen Worten ganz ausführlich davon erzählen zu lassen, dass sie in London Mick Jagger auf der Straße sah, ihn ansprach, ein Autogramm von ihm bekam, dabei vergnügt bemerkte, wie dreckig er war, was ihr am allerbesten gefiel an ihm, wie speckig seine Haare waren, und dass er ihr noch nachher manchmal Postkarten schrieb. Vom anderen Ende der Welt. Aber leider nie aus Europa.

Im Düsseldorfer Filmmuseum, wo Florian Deterding im Juni 2012 ein schönes Programm mit Filmen von Lemke und der Münchner Gruppe zeigte, war Bernd Fiedler zu Gast. Der Kameramann von ANATAHAN ANATAHAN (und ROTE SONNE und ROCKER und …) erzählte, dass er die Arri einfach nicht ausgemacht hat, als Christi Culemann mit ihrer Erzählung am Ende nicht weiter wusste. Zum Glück, denn so fing er die Augen des Mädchens ein, die direkt in die Kamera schauen, dann beiseite und wieder direkt in die Kamera. Drei unbeschreibliche Blicke. Man kann sie zwar zählen, drei Stück, als wären es Sternschnuppen am klaren Nachthimmel oder Tiger im Gehege, doch ihr Effekt bleibt unfasslich. Denn die Wirkung dieser Blicke hat Martin Müller noch verstärkt mit ein paar leisen Takten Back Street Girl von den Stones. Die tiefste Rührung repetierbar zu machen, das Heiligste der Seele zu konservieren, das wurde in dem Dutzend Jahrzehnte, seit es Platten und Filme gibt, laut Schätzungen 12.000.000.000 mal versucht – und hier vollbracht.

(1971 sendete Hessen III eine stark gekürzte Fassung des Films unter dem Titel „Anatahan’s Rock Show“. Das halbstündige DJ-Portrait CRASH THEO von Karin Thome und Bernd Fiedler, erwies sich in Düsseldorf als tolle Ergänzung zu den 57 Minuten von ANATAHAN ANATAHAN. Anderen Städten und Gemeinden, Fernsehsendern oder Pfarreien sei das Nachspiel wärmstens empfohlen.)

Garden of Evil - Hathaway
Garden of Evil (1954 Henry Hathaway)

Auf meiner Liste paradiesischer Orte hat Basel, wo ich Müllers Film am Sonntag wiedersehen konnte, (dank des Bildrausch Filmfests) nun einen Platz im Alphabet und auf dem Globus zwischen Aachen (wegen Bruno Sukrow) und Bologna (Il Cinema Ritrovato). Und noch ein Tipp: Der Filmclub 813 zeigt deutsche Lustspiele 1930–1932, die zum Frühjahresanfang im Zeughauskino für Furore sorgten.

Dienstag, 17.05.2016

Bruce Baillie Project

Kickstarter-Kampagne:

A project to preserve and share Bruce Baillie’s films and legacy

Bis 27. Mai.

Samsung Tango Version
Young-Hae Chang Heavy Industries, 2009, 3:52 mins

Samstag, 07.05.2016

London Republic

»By 24th of June, with the count nearly over, it was clear that all of England except London had voted to leave the EU.«

William Raban: London Republic, 2016

Donnerstag, 28.04.2016

Filme der Fünfziger (XVIII): Pikanterie (1950)

Pikant ist ein Wort, das man heute eigentlich nur noch an der Käsetheke hört und dort eine leicht würzige, eigenwillige Geschmacksrichtung bezeichnet. Pikant nannte man früher Anzügliches und Zweideutiges, wenn es eine leicht freche, libertinäre Note hatte. Einen Film 1950 „Pikanterie“ zu nennen und damit ein Versprechen zu geben auf Zweideutiges, war schon etwas gewagt. Damit kamen Nachtclub und Boulevard ins Kino, das doch vorwiegend von Frauen besucht wurde. Damit die Frauen sich mit ihren Jungs in „Pikanterie“ trauten, wurde der Berliner Modeschöpfer Heinz Oestergaard engagiert, der alle Kostüme für den Film entworfen hat und einmal auch in seinem Salon zu sehen ist. Diesem Modeaspekt war es zu verdanken, dass der Film „Pikanterie“ in der kleinen Reihe „Berlin in fashion – Modestadt Berlin“ im April 2006 im Bundesplatz-Kino gezeigt wurde.

An Mode habe ich vor allem pflanzliche Motive gesehen, Blätterdrucke auf Kleidern und Kragen, die übergroß und spitz jeden Herrn beim Tanz auf Abstand halten dürften. Curd Jürgens dagegen läuft in einem Kapuzenmantel herum, wie er noch in den Sechzigern getragen wurde. Der Mantel hat Knöpfe, die wie kleine braune Blätterteigrollen aussehen; die Damenknöpfe dagegen sind fette schwarze Klekse auf weißem Grund. Soll ja auffallen.

„Pikanterie“ ist Hans von Wolzogens zweite und letzte Produktion nach dem Krieg. Mit „Die Treppe“ hatte er sich als ambitionierter Produzent etablieren wollen, „Pikanterie“, sofort im Anschluß an „Die Treppe“ gedreht, sollte eigentlich eine sichere Geldmaschine werden. Das klappte nicht; der Film lief schlecht und wurde auch kaum ins Ausland verkauft. Für 50.000 DM bürgte Wolzogen mit seinem persönlichen Vermögen; das war das Ende der Skala-Produktion. Schon Ende 1950 war der Geschäftsführer Hans Heinz König aus der Firma ausgeschieden. Gut möglich, dass aus ihm der spätere Regisseur wurde.

Paris ist in Deutschland traditionell ein Traum aus Sünde, Seide und Seitensprung. Bei Gabrielle Courtois (Susanne von Almossy) sitzt ein Sportsmann, ein Boxer, am Frühstückstisch; zeitgleich nimmt der Nachtbesuch, ein Bankdirektor (Hans Olden), ein Bad. Der Diener Pierre (Karl Heinz Schroth) ist pikiert ob dieser moralischen Verhältnisse; seine Liebste, die Zofe Angèle (Marina Ried), stört das weniger. Sie ist ganz vernarrt in das Buch „Pikanterie“ von Sascha Borotraz (Curd Jürgens) und schwärmt begeistert: „Da kommt eine Frau vor in dem Roman – wie die mit den Männern umspringt…“ – Pierre weist sie zurecht: „Für ein anständiges Mädchen handelt es sich nicht darum, mit Männern in der Mehrzahl umzuspringen, sondern bei einem Mann in der Einzahl sitzen zu – also – überhaupt zu bleiben.“ Jetzt verlässt der Boxer das Haus, Er muss pünktlich beim Training sein, denn in einer Woche ist sein großer Kampf. Gabrielle macht ihm Mut: „Oh Jill, du machst den Neger sicher in drei Runden fertig.“

Sascha Borotraz hat das Erfolgsbuch „Pikanterie“ geschrieben, ist aber eigentlich ein ernsthafter Lyriker. Sein Verleger Poule (Hubert von Meyerinck) will nur noch pikante Bücher von Sascha; deshalb stapft der Dichter vorwiegend mürrisch durch den Film. Zu einem Autorentreffen auf Schloss Froid Chapelle soll Sascha, seinem Ruf entsprechend, eine Geliebte mitnehmen. Es trifft sich, dass Hortense Clairmont (Irene von Meyendorff), eine alte Freundin von Gabrielle, Zeit und Lust hat. Hortense weiß, dass Sascha früher sehr schöne Gedichte gemacht hat und findet seine „Pikanterie“ etwas degoutant. Natürlich streiten und mißverstehen sich beide und werden deshalb ein glückliches Paar. Auch Pierre und Angèle kommen zusammen und Gabrielle bleibt bei dem Bankdirektor. Als Schlossherrin raunt Elisabeth Flickenschild geheimnisvoll ein paar Sätze und niemand weiss, warum.

Im Grunde ist die Unmoral nur gespielt; Täuschung sind auch Reichtum und internationales Flair mit Paris, Schloss und einer Reise nach Genf. Man merkt der Produktion – alles ist in Tempelhof gedreht – ihre Armut an. Das hat etwas sympathisch Unbeholfenes. Paris ist nichts weiter als eine Rückprojektion und eine Aussicht aus dem Cafehausfenster; beim Dichtertreffen gibt es einen opulent gedeckten Tisch, aber niemand isst. Eine Modell-Bahn ist keine wirkliche Eisenbahn und das Tempelhofer Flugfeld kein internationaler Flughafen. Der Flug nach Venedig ist schon weg? „Dann nehmen wir ein Sonderflugzeug.“ So einer Drehbuchzeile glaubte wirklich niemand mehr. Die Tanzmusik, auf der Terrasse über den Dächern von Paris gespielt, wird live im Radio übertragen. Im Schattenriss inszeniert und zitiert sich Regisseur Alfred Braun als Rundfunkansager. Das Dienerpaar hört die Musik zu Hause im Radio und legt dazu eine tolle Tanznummer aufs Parkett. Da bekommt der Film für einen kurzen Moment sinnfreie Leichtigkeit und plumpst dann aber gleich wieder wegen der blöden Moral auf den Hintern.

Nicht auf Video, nicht auf DVD. Kopie: Bundesarchiv
Präzisierungen und Ergänzungen zum Eintrag in filmportal: Boxer Jill (W. Seidler), Sir Cunningham (Gütlich), Rundfunksprecher (Alfred Braun) – Lieder: Im Park von Monbijou; Immer heiter, immer lächeln; Pariser Luft – Dreharbeiten vom 5. September bis 14. Oktober 1950.

Donnerstag, 14.04.2016

Familiengeschichten – Filme von Tamara Wyss (29.4.1950 – 30.3.2016)

Ein Notizbuch von Clara Westphal aus dem Jahr 1906, das Tamara Wyss aufgefunden hatte, führte dazu, dass sie sich (in ihrer im Mai 1990 für einige Zeit in Berlin bezogenen Wohnung) eingehender mit Moses Mendelssohn zu beschäftigen begann: Moses war der Urgrossvater von Clara, diese die Grossmutter von Tamaras Grossmutter. Daraus wurde der Film Auf der Suche nach Herrn Moses (D 1990, 60 Minuten; Kamera Ingo Kratisch).
Stadtfahrten im Auto, im Fond sitzt Tayfun Bademsoy und liest – später auch an Schauplätzen – aus Moses Mendelssohns Briefen und Texten, aus der Friedrich Nicolaischen Beschreibung der ‚Reise nach Potsdam’, ebenso Offiziöses, königlich Verlautbartes. – Durch welches Tor wurde der 14jährige, aus Dessau herbeigewanderte Jude nach Berlin hereingelassen: bestimmt nicht durch das Hallesche- oder Potsdamer-Tor, am ehesten durch das Rosenthaler Tor (wo in der Nähe schon ‚seinesgleichen’ wohnte). Auch 1990 passiert man Grenzkontrollen in der Stadt – auf dem Weg von Berlin nach Potsdam beispielsweise, den Moses Mendelssohn 1771 an einem Sabath teilweise zu Fuss zurücklegte, um der ‚Herbestellung’ von Friedrich II. Folge zu leisten (ein Kursächsischer Staatsminister wollte mit ihm über Philosophie diskutieren). Es ging auch um die Aufnahme in die ‚Königliche Academie’, die letztlich nicht zustande kam, obschon die besten Geister der Zeit das Genie von Moses Mendelssohn akklamierten. Davor und danach: ständige Beschränkung seines eigentlichen ‚Rechts um Existenz’ (die Zuzugs- und Niederlassungsrechte für Juden waren limitiert), besonders auch, als es um die Heirat mit Fromet Guggenheim ging.
In der westberliner Staatsbibliothek sind Erstschriften und Dokumente Mendelssohns einzusehen: „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“ von 1767, seine Bibel-Übersetzung aus dem Hebräischen (deutsch in hebräischen Lettern), die Abhandlung „Evidenz in metaphysischen Wissenschaften“ von 1763, für die Mendelssohn den ersten Preis der ‚Königlichen Academie’ vor Kant erhielt, ein Geschäftsjournal von 1779-1781, das Mendelssohn als Prokurist führte. – Zwei Familienangehörige konfrontiert Tamara Wyss mit einem Familien-Foto der sieben Kinder von Clara Westphal, die (wie sie sagt) alle getauft waren, diskutiert mit ihnen insbesondere darüber, wie es den da Abgebildeten während der Nazizeit ergangen ist. – Ein Steinmetz arbeitet an einem neuen Gedenkstein für Moses Mendelssohn; eine kleine Zeremonie: auf dem ältesten jüdischen Friedhof in Berlin, an der Grossen Hamburger Strasse, wird der Gedenkstein feierlich enthüllt und eingeweiht.

Der Jangtsekiang und der Drei-Schluchten-Staudamm: Tamara Wyss, indem sie den Spuren ihrer Grosseltern, Fritz und Hedwig Weiss (ab 1951 Wyss) folgt, gerät mitten hinein in die Umsetzung dieses gewaltigen Projekts, findet Zugang zu den Menschen, die da ‚verpflanzt’ werden. (In Still Life, 2006, behandelt Jia Zhang-ke dasselbe Sujet.) Als Kind schon hatte Tamara von ihrer Grossmutter viel über China erzählt bekommen – dann entdeckte sie, beim Aufräumen eines Kellers, Fotografien, Tonaufnahmen, Aufzeichnungen und Briefe der Grosseltern (Fritz Max Weiss stand vor dem Ersten Weltkrieg im konsularischen Dienst des Deutschen Reichs in China, war ab 1911 Konsul in Chengdu, von 1914 bis 1917 in Kunming/Yunnan). Der Fund resultierte erst in einem kleinen Film, dann, über zwei Reisen, im Projekt Die chinesischen Schuhe (D 2000-2004, 105 Minuten); damit verbunden gab es Ausstellungen in China und eine Buchvorstellung („Gestern, im Land von Ba und Shu“, Sichuan University Press 2009) in Chengdu.

Bemerkenswert auch, dass Tamara Wyss 1975-1978 im Zusammenhang der DFFB an einem Langzeit-Projekt auf den Kapverden beteiligt war, bei dem mehrere Filme gedreht wurden. Darunter die 15minütige Dokumentation Ein ehemaliges Konzentrationslager – womit Tarrafal gemeint ist (siehe dazu den Kurzfilm von Pedro Costa von 2007 unter ebendiesem Titel).

Filmografie auf http://www.tamara-wyss.de/deutsch/filme_de.html

Sonntag, 10.04.2016

Lohn der langen Fahrt

Potsdam, Preview des Films „Fritz Lang“ von Gordian Maugg im Filmmuseum. Maugg ist ein großer Bewunderer der deutschen Filme von Fritz Lang, allerdings nur von denen der Weimarer Republik. In Hollywood, so Maugg, hätte Lang dann in einem System gearbeitet, in dem man als Regisseur austauschbar, sozusagen ein Dienstleister war. Auf Lang gemünzt, ist das doch eine schrille These. „Die tausend Augen des Dr. Mabuse“ finden dann natürlich schon gar nicht mehr statt. Einen Film über einen Filmregisseur in der Krise, hier definiert als Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, wollte Maugg machen; deshalb steht „M“, Langs erster Tonfilm im Zentrum. Stimmt aber gar nicht; im Zentrum steht die Begegnung von Lang (Heino Ferch) und Peter Kürten (Samuel Finzi), und man fragt sich nach dem Film, ob Lang nicht genauso besessen war wie Kürten. Fritz Lang wird verfolgt vom Dämon seiner ersten Frau, die er – niemand weiß das genau – möglicherweise erschossen hat. Und weil ihn diese Dämonin (Lisa Charlotte Friederich) immer wieder überfällt, leidet Fritz expressionistisch und in schwarz/weiß Höllenqualen, mal eruptiv, mal biestig verschlossen. Die Schauspieler geben ihr Bestes, die Montage von Dokumentar- und Spielszenen ist exzellent, aber was hat das ganze denn nun mit Lang und „M“ zu tun? Der Film ähnelt diesen unendlich langweiligen Kriminalromanen von Volker Kutscher, in denen die Kulissen deutscher Geschichte in  banalen Handlungen als Atmosphäre und Zeitgeist herumgeschoben werden. Wahrscheinlich hat Kutscher so einen großen Erfolg, weil seine Leser glauben, dass die Romane kulturgeschichtliches Wissen vermitteln, also nicht „nur Krimis“ sind. So ging es an diesem Abend bestimmt auch den Zuschauern in Potsdam, die sich belehrt und kulturell auf Niveau unterhalten fühlten. Nach dem Film gab es eine Diskussion, die von einem selbstbewussten jungen Mann geleitet wurde, der ohne jeden Anflug eines Zweifels Angelesenes und Mißverstandenes über Lang zum Besten gab; wenn ich es recht verstanden habe, arbeitet er in der neuen Branche der „Kulturvermittler“. Maugg sagte noch, dass es auch irgendwie Zufall und Rätselhaftigkeit des Lebens sei, dass aus Lang ein Filmregisseur und aus Kürten ein Massenmörder wurde. Das wäre dann Schicksal gewesen und hätte deshalb etwas vom Geiste Langs haben können; hatte es aber nicht. War auch nicht so gemeint.

Ein Gutes hatte der Abend. Die Fahrt von Berlin nach Potsdam und zurück dauert mit Bahn und Tram ziemlich lang. Dabei habe ich das unbedingt empfehlenswerte Buch von Philipp Felsch und Frank Witzel „BRD Noir“ gelesen, in dem es um die deutsche Geschichte der letzten 50, 60 Jahre geht. Im Nachwort „BRD Chamois“ analysiert Frank Witzel „Es geschah am hellichten Tag“ (1958) von Ladislao Vajda mit Heinz Rühmann und Gert Fröbe. Eine Kindheitserinnerung, ein Alptraum, der sich durch das Buch zieht und in der Analyse die Farbe wechselt. Das war den Abend wert.

 

Freitag, 25.03.2016

Harry Smith

Vor nicht allzu langer Zeit erschienen: Paper Airplanes und String Figures, die ersten beiden Bände des Catalogue Raisonné der Sammlungen von Harry Smith.

Sehr vielversprechend klingen etliche der weiteren angekündigten Bücher:

Beggar Signs
Gourds
Papier-mâché Masks
Seminole Textiles

Mit dem Band »Decorated Ukrainian Eggs« ist sicher nicht vor Ostern 2017 zu rechnen.


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