Dienstag, 17.05.2016
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Young-Hae Chang Heavy Industries, 2009, 3:52 mins
Samstag, 07.05.2016
London Republic
»By 24th of June, with the count nearly over, it was clear that all of England except London had voted to leave the EU.«
William Raban: London Republic, 2016
Donnerstag, 28.04.2016
Filme der Fünfziger (XVIII): Pikanterie (1950)
Pikant ist ein Wort, das man heute eigentlich nur noch an der Käsetheke hört und dort eine leicht würzige, eigenwillige Geschmacksrichtung bezeichnet. Pikant nannte man früher Anzügliches und Zweideutiges, wenn es eine leicht freche, libertinäre Note hatte. Einen Film 1950 „Pikanterie“ zu nennen und damit ein Versprechen zu geben auf Zweideutiges, war schon etwas gewagt. Damit kamen Nachtclub und Boulevard ins Kino, das doch vorwiegend von Frauen besucht wurde. Damit die Frauen sich mit ihren Jungs in „Pikanterie“ trauten, wurde der Berliner Modeschöpfer Heinz Oestergaard engagiert, der alle Kostüme für den Film entworfen hat und einmal auch in seinem Salon zu sehen ist. Diesem Modeaspekt war es zu verdanken, dass der Film „Pikanterie“ in der kleinen Reihe „Berlin in fashion – Modestadt Berlin“ im April 2006 im Bundesplatz-Kino gezeigt wurde.
An Mode habe ich vor allem pflanzliche Motive gesehen, Blätterdrucke auf Kleidern und Kragen, die übergroß und spitz jeden Herrn beim Tanz auf Abstand halten dürften. Curd Jürgens dagegen läuft in einem Kapuzenmantel herum, wie er noch in den Sechzigern getragen wurde. Der Mantel hat Knöpfe, die wie kleine braune Blätterteigrollen aussehen; die Damenknöpfe dagegen sind fette schwarze Klekse auf weißem Grund. Soll ja auffallen.
„Pikanterie“ ist Hans von Wolzogens zweite und letzte Produktion nach dem Krieg. Mit „Die Treppe“ hatte er sich als ambitionierter Produzent etablieren wollen, „Pikanterie“, sofort im Anschluß an „Die Treppe“ gedreht, sollte eigentlich eine sichere Geldmaschine werden. Das klappte nicht; der Film lief schlecht und wurde auch kaum ins Ausland verkauft. Für 50.000 DM bürgte Wolzogen mit seinem persönlichen Vermögen; das war das Ende der Skala-Produktion. Schon Ende 1950 war der Geschäftsführer Hans Heinz König aus der Firma ausgeschieden. Gut möglich, dass aus ihm der spätere Regisseur wurde.
Paris ist in Deutschland traditionell ein Traum aus Sünde, Seide und Seitensprung. Bei Gabrielle Courtois (Susanne von Almossy) sitzt ein Sportsmann, ein Boxer, am Frühstückstisch; zeitgleich nimmt der Nachtbesuch, ein Bankdirektor (Hans Olden), ein Bad. Der Diener Pierre (Karl Heinz Schroth) ist pikiert ob dieser moralischen Verhältnisse; seine Liebste, die Zofe Angèle (Marina Ried), stört das weniger. Sie ist ganz vernarrt in das Buch „Pikanterie“ von Sascha Borotraz (Curd Jürgens) und schwärmt begeistert: „Da kommt eine Frau vor in dem Roman – wie die mit den Männern umspringt…“ – Pierre weist sie zurecht: „Für ein anständiges Mädchen handelt es sich nicht darum, mit Männern in der Mehrzahl umzuspringen, sondern bei einem Mann in der Einzahl sitzen zu – also – überhaupt zu bleiben.“ Jetzt verlässt der Boxer das Haus, Er muss pünktlich beim Training sein, denn in einer Woche ist sein großer Kampf. Gabrielle macht ihm Mut: „Oh Jill, du machst den Neger sicher in drei Runden fertig.“
Sascha Borotraz hat das Erfolgsbuch „Pikanterie“ geschrieben, ist aber eigentlich ein ernsthafter Lyriker. Sein Verleger Poule (Hubert von Meyerinck) will nur noch pikante Bücher von Sascha; deshalb stapft der Dichter vorwiegend mürrisch durch den Film. Zu einem Autorentreffen auf Schloss Froid Chapelle soll Sascha, seinem Ruf entsprechend, eine Geliebte mitnehmen. Es trifft sich, dass Hortense Clairmont (Irene von Meyendorff), eine alte Freundin von Gabrielle, Zeit und Lust hat. Hortense weiß, dass Sascha früher sehr schöne Gedichte gemacht hat und findet seine „Pikanterie“ etwas degoutant. Natürlich streiten und mißverstehen sich beide und werden deshalb ein glückliches Paar. Auch Pierre und Angèle kommen zusammen und Gabrielle bleibt bei dem Bankdirektor. Als Schlossherrin raunt Elisabeth Flickenschild geheimnisvoll ein paar Sätze und niemand weiss, warum.
Im Grunde ist die Unmoral nur gespielt; Täuschung sind auch Reichtum und internationales Flair mit Paris, Schloss und einer Reise nach Genf. Man merkt der Produktion – alles ist in Tempelhof gedreht – ihre Armut an. Das hat etwas sympathisch Unbeholfenes. Paris ist nichts weiter als eine Rückprojektion und eine Aussicht aus dem Cafehausfenster; beim Dichtertreffen gibt es einen opulent gedeckten Tisch, aber niemand isst. Eine Modell-Bahn ist keine wirkliche Eisenbahn und das Tempelhofer Flugfeld kein internationaler Flughafen. Der Flug nach Venedig ist schon weg? „Dann nehmen wir ein Sonderflugzeug.“ So einer Drehbuchzeile glaubte wirklich niemand mehr. Die Tanzmusik, auf der Terrasse über den Dächern von Paris gespielt, wird live im Radio übertragen. Im Schattenriss inszeniert und zitiert sich Regisseur Alfred Braun als Rundfunkansager. Das Dienerpaar hört die Musik zu Hause im Radio und legt dazu eine tolle Tanznummer aufs Parkett. Da bekommt der Film für einen kurzen Moment sinnfreie Leichtigkeit und plumpst dann aber gleich wieder wegen der blöden Moral auf den Hintern.
Nicht auf Video, nicht auf DVD. Kopie: Bundesarchiv
Präzisierungen und Ergänzungen zum Eintrag in filmportal: Boxer Jill (W. Seidler), Sir Cunningham (Gütlich), Rundfunksprecher (Alfred Braun) – Lieder: Im Park von Monbijou; Immer heiter, immer lächeln; Pariser Luft – Dreharbeiten vom 5. September bis 14. Oktober 1950.
Donnerstag, 14.04.2016
Familiengeschichten – Filme von Tamara Wyss (29.4.1950 – 30.3.2016)
Ein Notizbuch von Clara Westphal aus dem Jahr 1906, das Tamara Wyss aufgefunden hatte, führte dazu, dass sie sich (in ihrer im Mai 1990 für einige Zeit in Berlin bezogenen Wohnung) eingehender mit Moses Mendelssohn zu beschäftigen begann: Moses war der Urgrossvater von Clara, diese die Grossmutter von Tamaras Grossmutter. Daraus wurde der Film Auf der Suche nach Herrn Moses (D 1990, 60 Minuten; Kamera Ingo Kratisch).
Stadtfahrten im Auto, im Fond sitzt Tayfun Bademsoy und liest – später auch an Schauplätzen – aus Moses Mendelssohns Briefen und Texten, aus der Friedrich Nicolaischen Beschreibung der ‚Reise nach Potsdam’, ebenso Offiziöses, königlich Verlautbartes. – Durch welches Tor wurde der 14jährige, aus Dessau herbeigewanderte Jude nach Berlin hereingelassen: bestimmt nicht durch das Hallesche- oder Potsdamer-Tor, am ehesten durch das Rosenthaler Tor (wo in der Nähe schon ‚seinesgleichen’ wohnte). Auch 1990 passiert man Grenzkontrollen in der Stadt – auf dem Weg von Berlin nach Potsdam beispielsweise, den Moses Mendelssohn 1771 an einem Sabath teilweise zu Fuss zurücklegte, um der ‚Herbestellung’ von Friedrich II. Folge zu leisten (ein Kursächsischer Staatsminister wollte mit ihm über Philosophie diskutieren). Es ging auch um die Aufnahme in die ‚Königliche Academie’, die letztlich nicht zustande kam, obschon die besten Geister der Zeit das Genie von Moses Mendelssohn akklamierten. Davor und danach: ständige Beschränkung seines eigentlichen ‚Rechts um Existenz’ (die Zuzugs- und Niederlassungsrechte für Juden waren limitiert), besonders auch, als es um die Heirat mit Fromet Guggenheim ging.
In der westberliner Staatsbibliothek sind Erstschriften und Dokumente Mendelssohns einzusehen: „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“ von 1767, seine Bibel-Übersetzung aus dem Hebräischen (deutsch in hebräischen Lettern), die Abhandlung „Evidenz in metaphysischen Wissenschaften“ von 1763, für die Mendelssohn den ersten Preis der ‚Königlichen Academie’ vor Kant erhielt, ein Geschäftsjournal von 1779-1781, das Mendelssohn als Prokurist führte. – Zwei Familienangehörige konfrontiert Tamara Wyss mit einem Familien-Foto der sieben Kinder von Clara Westphal, die (wie sie sagt) alle getauft waren, diskutiert mit ihnen insbesondere darüber, wie es den da Abgebildeten während der Nazizeit ergangen ist. – Ein Steinmetz arbeitet an einem neuen Gedenkstein für Moses Mendelssohn; eine kleine Zeremonie: auf dem ältesten jüdischen Friedhof in Berlin, an der Grossen Hamburger Strasse, wird der Gedenkstein feierlich enthüllt und eingeweiht.
Der Jangtsekiang und der Drei-Schluchten-Staudamm: Tamara Wyss, indem sie den Spuren ihrer Grosseltern, Fritz und Hedwig Weiss (ab 1951 Wyss) folgt, gerät mitten hinein in die Umsetzung dieses gewaltigen Projekts, findet Zugang zu den Menschen, die da ‚verpflanzt’ werden. (In Still Life, 2006, behandelt Jia Zhang-ke dasselbe Sujet.) Als Kind schon hatte Tamara von ihrer Grossmutter viel über China erzählt bekommen – dann entdeckte sie, beim Aufräumen eines Kellers, Fotografien, Tonaufnahmen, Aufzeichnungen und Briefe der Grosseltern (Fritz Max Weiss stand vor dem Ersten Weltkrieg im konsularischen Dienst des Deutschen Reichs in China, war ab 1911 Konsul in Chengdu, von 1914 bis 1917 in Kunming/Yunnan). Der Fund resultierte erst in einem kleinen Film, dann, über zwei Reisen, im Projekt Die chinesischen Schuhe (D 2000-2004, 105 Minuten); damit verbunden gab es Ausstellungen in China und eine Buchvorstellung („Gestern, im Land von Ba und Shu“, Sichuan University Press 2009) in Chengdu.
Bemerkenswert auch, dass Tamara Wyss 1975-1978 im Zusammenhang der DFFB an einem Langzeit-Projekt auf den Kapverden beteiligt war, bei dem mehrere Filme gedreht wurden. Darunter die 15minütige Dokumentation Ein ehemaliges Konzentrationslager – womit Tarrafal gemeint ist (siehe dazu den Kurzfilm von Pedro Costa von 2007 unter ebendiesem Titel).
Filmografie auf http://www.tamara-wyss.de/deutsch/filme_de.html
Sonntag, 10.04.2016
Lohn der langen Fahrt
Potsdam, Preview des Films „Fritz Lang“ von Gordian Maugg im Filmmuseum. Maugg ist ein großer Bewunderer der deutschen Filme von Fritz Lang, allerdings nur von denen der Weimarer Republik. In Hollywood, so Maugg, hätte Lang dann in einem System gearbeitet, in dem man als Regisseur austauschbar, sozusagen ein Dienstleister war. Auf Lang gemünzt, ist das doch eine schrille These. „Die tausend Augen des Dr. Mabuse“ finden dann natürlich schon gar nicht mehr statt. Einen Film über einen Filmregisseur in der Krise, hier definiert als Übergang vom Stumm- zum Tonfilm, wollte Maugg machen; deshalb steht „M“, Langs erster Tonfilm im Zentrum. Stimmt aber gar nicht; im Zentrum steht die Begegnung von Lang (Heino Ferch) und Peter Kürten (Samuel Finzi), und man fragt sich nach dem Film, ob Lang nicht genauso besessen war wie Kürten. Fritz Lang wird verfolgt vom Dämon seiner ersten Frau, die er – niemand weiß das genau – möglicherweise erschossen hat. Und weil ihn diese Dämonin (Lisa Charlotte Friederich) immer wieder überfällt, leidet Fritz expressionistisch und in schwarz/weiß Höllenqualen, mal eruptiv, mal biestig verschlossen. Die Schauspieler geben ihr Bestes, die Montage von Dokumentar- und Spielszenen ist exzellent, aber was hat das ganze denn nun mit Lang und „M“ zu tun? Der Film ähnelt diesen unendlich langweiligen Kriminalromanen von Volker Kutscher, in denen die Kulissen deutscher Geschichte in banalen Handlungen als Atmosphäre und Zeitgeist herumgeschoben werden. Wahrscheinlich hat Kutscher so einen großen Erfolg, weil seine Leser glauben, dass die Romane kulturgeschichtliches Wissen vermitteln, also nicht „nur Krimis“ sind. So ging es an diesem Abend bestimmt auch den Zuschauern in Potsdam, die sich belehrt und kulturell auf Niveau unterhalten fühlten. Nach dem Film gab es eine Diskussion, die von einem selbstbewussten jungen Mann geleitet wurde, der ohne jeden Anflug eines Zweifels Angelesenes und Mißverstandenes über Lang zum Besten gab; wenn ich es recht verstanden habe, arbeitet er in der neuen Branche der „Kulturvermittler“. Maugg sagte noch, dass es auch irgendwie Zufall und Rätselhaftigkeit des Lebens sei, dass aus Lang ein Filmregisseur und aus Kürten ein Massenmörder wurde. Das wäre dann Schicksal gewesen und hätte deshalb etwas vom Geiste Langs haben können; hatte es aber nicht. War auch nicht so gemeint.
Ein Gutes hatte der Abend. Die Fahrt von Berlin nach Potsdam und zurück dauert mit Bahn und Tram ziemlich lang. Dabei habe ich das unbedingt empfehlenswerte Buch von Philipp Felsch und Frank Witzel „BRD Noir“ gelesen, in dem es um die deutsche Geschichte der letzten 50, 60 Jahre geht. Im Nachwort „BRD Chamois“ analysiert Frank Witzel „Es geschah am hellichten Tag“ (1958) von Ladislao Vajda mit Heinz Rühmann und Gert Fröbe. Eine Kindheitserinnerung, ein Alptraum, der sich durch das Buch zieht und in der Analyse die Farbe wechselt. Das war den Abend wert.
Freitag, 25.03.2016
Harry Smith
Vor nicht allzu langer Zeit erschienen: Paper Airplanes und String Figures, die ersten beiden Bände des Catalogue Raisonné der Sammlungen von Harry Smith.
Sehr vielversprechend klingen etliche der weiteren angekündigten Bücher:
Beggar Signs
Gourds
Papier-mâché Masks
Seminole Textiles
Mit dem Band »Decorated Ukrainian Eggs« ist sicher nicht vor Ostern 2017 zu rechnen.
Dienstag, 23.02.2016
Der Brief (Vlado Kristl; BRD 1966, Farbe, 80 Minuten)
Ein anti-avantgardistischer Film, an dem man sich die Augen verderben kann (und vielleicht auch die eigene Moral). Die Anweisung an den Kameramann lautete: nie auf das Hauptgeschehen draufhalten, immer auf das Nebensächliche, Beiläufige. Die Kamera ist also ständig in Bewegung, schwenkt nach rechts, nach links, nach unten, nach oben – über die Baumwipfel in den Himmel und wieder zurück. Eine Bildebene (35mm, Farbe), die sich so recht dazu leiht, die Tonspur mit Stimmen vollzustellen. Und mit Explosionen, Gewehrsalven, Schlachtlärm (wie schon in Arme Leute, 1963). Einige Einstellungen bleiben, wie zur Erholung, völlig stumm, statisch.
Der mit dem Brief (Kristl selbst) ist frohen Mutes, frohen Sinns (er will den Brief persönlich abliefern), ihm wird auch freundlich der Weg gewiesen – mit so vielen Links und Rechts, dass ihm wirr im Kopf wird. Der Kristl’sche frohe Sinn trifft auf deutschen Frohsinn – das kann natürlich nicht gut gehen, das ist nicht ‚löslich’. Kristl ist allein unterwegs, die andern treten in Gruppen auf: singende Gruppen, winkende Gruppen, rutschende Gruppen (auf dem Ozeandampfer wird kräftig am Steuerrad gedreht), angreifende Gruppen, fliehende Gruppen, robbende Gruppen – es ist Krieg, Revolution (den ganzen Film über). Diese Normalität steht von der andern ungeschieden da.
Froh macht auch (das ist der Kristl’sche Hinterhalt), dass alles Böse völlig ungehemmt rausgelassen werden kann: Flüche, Schimpfkanonaden, sprachliche Kunstwerke an Pöbeleien und Beschimpfungen bis hin zum Spuckwettbewerb als Gespräch (wer spuckt den andern am besten an) – da ist es natürlich nicht weit zur ganz praktisch ausgelebten Zerstörungswut (ein kleiner Gemüseladen wird zerlegt) und der slapstickartig sich steigernden Freude daran. Kristl selbst, nachdem er eine oder seine Frau geküsst hat, übt sich mit ihr im Fingerabhacken mit viel Ketchup und Rumgespritze. Bayrisches Fingerhakeln nach scharfer jugoslawischer Art.
September 1966 ging es los an der DFFB: Der Brief war einer der ersten Filme, den wir da zu sehen bekamen. (Helene Schwarz, die Sekretärin, hatte ein Taxi bestellt, um vom Theodor Heuss-Platz zur Akademie der Künste zu fahren und nahm ein paar von uns mit.) Jetzt scheint mir, dass die Kristl’sche Gestimmtheit doch irgendwie auch abgefärbt hat (der halbe junge deutsche Film ist schliesslich in Der Brief dabei) – das ist zwar nie ‚verbalisiert’ worden, es war einfach da. Unsere Stimmung war gut, aufgekratzt. Die Welt (die Philosophie) schreitet immer auch durch produktive Missverständnisse voran. (Das Unverständnis folgt später.)
(Gesehen im CinemaxX 8 auf der Berlinale, 19.2.2016.)
Sonntag, 14.02.2016
Berlinale: Rekonstruierte Weltpremiere
Im Panorama der diesjährigen Filmfestspiele wurde und wird noch einmal (21.2., 16.30, Zeughauskino) im Rahmen der Retrospektive „30 Jahre Teddy Awards“ die restaurierte Fassung des Richard Oswald Film „Anders als die andern“ (1919) gezeigt. Eine Weltpremiere sei das, die Rekonstruktion besorgte das Film-Archiv der UCLA. Da könnte man sich zu Recht fragen, warum erst ein amerikanisches Archiv darauf kommen muß, diesen ersten deutschen Schwulen-Film zu rekonstruieren. Gibt es etwa in deutschen Filmarchiven Ressentiments gegen Schwule oder liegt es daran, dass die deutschen Filminstitutionen einfach hinter dem Mond leben? Nichts von alledem trifft zu.
Den Film gibt es in einer vom Filmmuseum München rekonstruierten Fassung seit 2006 auf DVD (www.editionfilmmuseum.de); die Fassung, die jetzt als „Weltpremiere“ gezeigt wurde, enthält nicht das Standbild von der Beerdigung Paul Körners (Conrad Veidt), hat dafür aber die Vorlesung von Magnus Hirschfeld etwas verlängert. Neues Bildmaterial gibt es nicht. Im Grunde sahen wir also die Weltpremiere der neu hergestellten amerikanischen Zwischentitel.
Wie kann denn so ein öffentlicher Unfall passieren? Ich spekuliere mal: es liegt an dem Netzwerk. Die amerikanische non-profit Organisation „Outfest“ hat die Rekonstruktion des Films bezahlt und wegen der guten Beziehungen des Panorama zu „Outfest“ hat man die Fassung jetzt programmiert. Ein Blick ins filmportal hätte genügt, dann hätte man den Fehler vermieden. Das wäre dann allerdings keine Weltpremiere und auch nicht wirklich international gewesen. Es hätte nur gezeigt, dass die deutschen Filmarchive auch ganz gut arbeiten.
Jetzt gibt es also in der UCLA auch eine 35 mm Kopie dieser neuen Fassung; das können sich die deutschen Archive nicht leisten. Interessant in diesem Zusammenhang ist der Kommentar von Chris Horak aus dem Jahr 2014 zur neuen Fassung von „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von 2014 (https://www.cinema.ucla.edu/blogs/archival-spaces/2014/02/28/zerst%C3%B6rungswut-saving-german-silent-films). „I dared to ask why the Germans spend millions of Euros repeatedly restoring the five great German classics, while literally hundreds of German nitrate prints from the silent era rot in the archives in Germany and abroad.“ Die Antwort war, mehr oder weniger: „Weil es nur Geld für Restaurierung von Klassikern gibt.“ Und daraus lässt sich auch die Antwort auf die Frage ableiten, warum „Anders als die anderen“ noch einmal restauriert wurde: Weil es das Geld dafür gab. Und Chris Horak wäre kein guter Archivdirektor, wenn er das Geld nicht nehmen würde.
„Anders als die anderen“ gibt es auch auf YouTube; auf der DVD des Filmmuseum München sind noch weitere Zusatzmaterialien. Und auf der DVD „Anders als Du und ich“ (ebenfalls im fillmuseum münchen erschienen) gibt es den Briefwechsel von Richard Oswald mit Veit Harlan.
Freitag, 05.02.2016
Besserwisser
Manchmal werden verdiente Künstler für eine Großtat geehrt, die sie gar nicht vollbracht haben. Schon länger, aber dieses Mal im Grußwort von Dieter Kosslick zur diesjährigen Berlinale, trifft es Michael Ballhaus. Er habe, so Kosslick, der Filmgeschichte die kreisende Kamerafahrt geschenkt. Ja, Pustekuchen. Ballhaus ist ein toller Kameramann, aber die kreisende Kamerafahrt hat uns Richard Angst in dem sehr konventionellen Film „Herz der Welt“ von Harald Braun geschenkt. Das war 1952. Nur hat das damals niemand gemerkt; dann wurde das Geschenk einfach vergessen und verstaubte unter all dem anderen Krimskrams der Filmgeschichte wie weiland 3D.
Vielleicht hat Ballhaus in seinen Kinderjahren den Film sogar gesehen und weiß gar nicht, dass die Kamerafahrt dauernd in seinen Erinnerungsfantasien herumgekreist ist. Oder Fassbinder kannte den Film und hat mal eine Andeutung gemacht.
„Herz der Welt“ gibt es nicht auf DVD, aber hier ist ein Foto von den Dreharbeiten. Da sieht man, wie es gemacht wurde.