Mittwoch, 28.11.2001

Syrien in Leipzig

1 – ein Film:
ÜBER SIE von Samir Zikra, 1982, 35 mm, 40 Minuten.
Zunächst sieht man eine dicke alte Frau bei der Heuernte. Ein ebenso alter Mann versucht, ihr einen enorm großen, die Frau an Volumen mindestens dreifach übertreffenden Ballen auf den Rücken zu wuchten. In dem Moment, in dem die Frau von der Last praktisch zu Boden gedrückt ist, friert der Film das Bild ein und schneidet zu einer jungen Frau mit Mireille Mathieu-Frisur, enger Jeans und flatternder Bluse. Sie geht durch eine Ruinen-Architektur auf die Kamera zu und präsentiert sich, Mikrophon in der Hand, als Moderatorin für dieses Projekt. In der Folgezeit führt sie mit ihren Interviews durch den Film. (Später, als ihr eine Bäuerin aus der Hand lesend eine ungerade Zahl von Kindern prophezeit und einen Sohn als Ältesten, wird sie sich vorstellen: sie ist als Dramaturgiestudentin nach Bulgarien gegangen, hat dort einen Palästinenser geheiratet und macht nun in Syrien Theater; sie hat einen Sohn…)
Es geht also um das Miteinander und Gegenüber von modernen und traditionellen Frauen in Syrien.
Die Interviews finden in freundschaftlicher Athmosphäre statt. So sitzt man mit der Wahrsagerin in einer Frühsommer-Idylle unter Bäumen, Blumen blühen, der Ausblick geht in die Weite einer flirrend verschwimmenden Landschaft – die Photographie ist stets bemüht, etwas zu erfassen, das über Wortbedeutungen hinausgeht und den Beteiligten eine Aura verleiht, sie in einen größeren Zusammenhang stellt. Man kann leicht erkennen: hier ist das Bild das Ergebnis von Überlegungen, zum jeweiligen Gesprächsgegenstand einen richtigen Rahmen zu finden.
Die Stimmung ist gelöst, aber konzentriert, die Fragen sehr direkt, die Antworten aufrichtig.
Abschweifungen in Themenwahl und Bild stiften viele elegante Übergänge:
Nachdem es in einem ersten Teil um das Leben auf dem Land gegangen war, um Fragen der Sippe, die Rolle von Geld und anderen materiellen Händeln bei der Heiratsanbahnung, auch um Polygamie, befragt der Film zwei Bauern bei der Feldarbeit. Einer von ihnen erläutert, daß er nichts von dem Gerücht halte, wonach Frauen nur den halben Verstand der Männer besäßen. So kommen wir in die Stadt hinein, wo zunächst Frauen bei der Arbeit und junge Lehramtsstudentinnen vorgestellt werden.
Mit dem Versprechen einer Befreiung der Frau durch ihre Beteiligung am Waren herstellenden Prozess gibt sich der Film, geben sich die Frauen selbst überhaupt nicht zufrieden. In einem zügigen Reigen läßt der Schnitt sie einander abwechseln und Kritik üben an Staat und Gewerkschaften, an der herrschenden Lohn- und Rentenpolitik. Als die Bildungsfrage angeschnitten wird, zeigt der Film ultramoderne Staudamm-Anlagen am Euphrat, die ein gleißendes Licht mit messerscharfen Konturen versieht. Dann junge Oberschichtsfrauen. Sie spielen Tennis. Das Bild wird begleitet von der off-Stimme der Moderatorin, die die Feststellung trifft, daß über 80 Prozent der Syrerinnen Analphabetinnen sind. Es folgt das Porträt einer ganzen Klasse älterer Mädchen. Sie tragen militärische Uniform und sind wirklich alle sehr schön.
Im Hof einer Einrichtung für Mädchen, die von zuhause weggelaufen sind, erzählt eine Sozialarbeiterin die tragische Anekdote einer von ihrem Vater erstochenen jungen Frau. Der Hof ist leer, ein Tatort.
Nach Strandbildern, die freizügiges Flanierverhalten westlich orientierter, offensichtlich wohlsituierter Menschen im Kontrast zu Frauen zeigen, die voll bekleidet mit Kopftuch in Schwimmringen aus LKW-Schläuchen im Meer baden, kehrt der Film zu den zukünftigen Lehrerinnen zurück. Die Moderatorin stellt die Frage: ‚Wie soll Euer Mann sein?‘ Schnitt. Das Brustbild einer hübschen jungen Frau mit blondem langen Haar. Sie könnte aus dem Kreis der Studentinnen stammen, aber sie sitzt nicht bei ihnen auf der Terasse, sondern allein in einem Zimmer. Die Wände sind mit Postern bedeckt und das Mädchen blättert in Zeitschriften. Sie zeigt auf Abbildungen ihrer Lieblingssänger und -schauspieler: So müßte ihr Mann sein. Auf die Frage nach ihrer Zukunft weiß sie aber keine rechte Antwort. Dann springt die Filmkamera zurück und erfaßt einen größeren Raumausschnitt. Neben dem Mädchen lehnen Krücken an der Wand. Sie nimmt die Krücken, stemmt sich aus ihrem Stuhl und schleppt sich aus dem Zimmer. Ihre Beine schlackern wie leblos an ihrem Körper herab.
Der Film geht in eine andere Schule: In einer gemischten Klasse spielen kleine Kinder das Märchen von Rotkäppchen nach. Das kleine Mädchen quittiert die Antwort auf die Große-Mund-Frage mit Kreischen. Mitten hinein in den hingebungsvoll gespielten Schrecken friert das Bild wieder ein. Die Moderatorin verläßt die Ruine, durch die sie den Film zu Beginn betreten hatte. Eine Musik begleitet sie und kehrt mit uns zurück zum freeze frame, der die erste Sequenz beendet hatte und jetzt fortgesetzt wird: die alte Frau steht mit großer Mühe auf und trägt den riesigen Heuballen in Zeitlupe aus dem Bild.

2 – Zum 11. September und seinen Voraussetzungen befragt, sagt der Tunesier Meddeb: „Der Märtyrer nährt das Schuldgefühl, nicht bereit gewesen zu sein … zu beschützen und … Tod zu verhindern. (…) Anlässlich des Märtyrertods wird an die Schuld der Tatenlosigkeit erinnert.“ (Abdelwahab Meddeb: Die Krankheit des Islam, Lettre Int. N°54/2001) Meddeb spricht an dieser Stelle über die Bedeutung des Märtyrerkults bei den Schiiten. Aber er verweist selbst auf die großen Parallelen zur christlichen Religion. Eine verallgemeinernde These scheint möglich: Es könnte eine wesentliche Funktion sein von Kunst, von Kino, aus dem (Über-)Leben heraus Zeugnis abzulegen von dieser Schuld den Toten gegenüber.

Ein in Leipzig vorgeführtes Projekt tut das sehr deutlich: In STARBUCK – HOLGER MEINS von Gerd Conradt berichtet ebenfalls einer von der eigenen Schuld daran, einen Freund nicht vor dem frühzeitigen Ableben gerettet zu haben.

Tote beklagen, das tun gleich mehrere gezeigte syrische Filme auch, und zwar jene, die sich mit den palästinensischen Flüchtlingen in Damaskus und Beirut auseinandersetzen. Alle wissen es: das Thema ist mehrfach heikel. Immer steht die Gefahr im Raum, daß das Dauer-Issue zur Herstellung einer arabisch-islamischen Kollektiv-Identität instrumentalisiert wird oder wenigstens zur Behauptung gemeinsamer Interessen. Zum realen Elend einer palästinensischen Diaspora, von dem die Bilder eine Ahnung vermitteln wollen, gesellt sich das Dilemma der (nicht nur) syrischen Filmemacher, verstrickt in Wirrnisse einer alltäglichen Praxis, die geprägt ist vom Wettstreit um geringe Mittel und vom Kampf gegen eine geistlose Zensur. Die Palästinenser-Frage ist ein echtes Anliegen, daran gibt es keinen Zweifel. Aber sie liegt auch aus wie ein Konsens-Köder. Mit minimalistischen Versuchsanordnungen haben die vorgeführten Werke versucht, das Thema in den Griff zu bekommen. Nicht immer gab es dabei Platzverbot für vereinfachende Darstellungsweisen. Auch die feineren Analysen begnügen sich damit, Machtlosigkeit festzustellen. Unausgesprochen legen sie damit nahe, daß Fremdeinflüsse daran die Schuld tragen.
Klipp und klar: Die syrischen Filme, auf die ich mich beziehe, rufen nicht dazu auf, die Juden zu schlachten. Sie liefern Hinweise auf Existenzen, die aus unserem Bilder-Kosmos ausgeklammert bleiben sollen, schon alleine deshalb sind sie auf der Seite des Lebens. Aber nicht immer läßt sich der Verdacht verdrängen, daß einige Regisseure wenn nicht die Faust, so doch den Zeigefinger in der Tasche hatten. Ein Spiegel in offener Hand wäre ergiebiger, für die Suche nach Eigenverantwortlichkeit und gegen die Killer-Loops von Ideologien, die die Toten, die sie brauchen, gleich selber produzieren.

Den Wettbewerb in Leipzig gewann ein Film aus Israel. EINGESCHLOSSEN von Anat Even und Ada Ushpiz erzählt von drei palästinensischen Witwen in Hebron. Der Syrer Omar Amiralay war Mitglied der fünfköpfigen Jury, die den Preis vergeben hat.

Ich wünsche mir syrische Filme, die auch den Toten -und Lebenden- Israels ihren Respekt zollen.

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