November 2001

Montag, 19.11.2001

In der Nacht, gestern

In der Nacht, gestern, liefen auf West3 zwei Filme von Joseph H. Lewis, Western, B-Filme, schwarz-weiß, der eine mit Joseph Cotton und Ward Bond und der andere mit Sterling Hayden. Ich hatte meinen Videorecorder angeschaltet, auf record gedrückt und bin ins Bett gegangen, mit Schnupfen und Kopfschmerzen. Am Nachmittag, heute, beim Lesen für eine andere Sache, habe ich die Aufnahmen stumm laufen lassen und hin und wieder einen Blick auf den Bildschirm geworfen. Zwischen den beiden Filmen, voller Gewalt und Verzweiflung und drastischer Geschwindigkeit, kam plötzlich etwas anderes, ein Interview mit Joseph H. Lewis, 1997 aufgenommen, drei Jahre vor seinem Tod 2000, natural cause nennt die Biographie der Internet Movie Database als Ursache. Da saß Lewis auf einer gepolsterten Bank an einem Tisch, halbnah aufgenommen, so dass im Hintergrund noch eine Kücheneinrichtung zu sehen war. Ich mußte an Christians Einwurf von Zuhause denken, über den Ärger mit den TV-Slots.

Die Sendung dauerte keine 15 Minuten, Lewis saß da mit einer Baseballkappe auf dem Kopf und beantwortete allerhöflichst Fragen, erzählte mit blitzenden Augen Geschichten, die er bestimmt schon tausendmal erzählt hatte, wieso sie ihn Wagon-Wheel-Joenannten (weil er immer Wagenräder dabei hatte für den Bildvordergrund, seinen Einstellungen Tiefe zu geben) und wieviel Geld die Studios ihm gezahlt haben für seine Western („Oh, you just hurt me with that question. They paid me 600 Dollars for an entire picture“)und zwischendrin waren Ausschnitte zu sehen aus seinen Filmen und Texte eingesprochen, die klug und präzise die Bilder kommentierten. Der Film war von Christian Bauer, von dem ich noch nicht gehört hatte.

Für einen Moment war da die Ahnung eines anderen Fernsehens, für 15 Minuten. Nicht 15 Minuten Ruhm, von denen immer zu lesen ist, sondern 15 Minuten Wissen, wirklicher Text, eine Zur-Verfügung-Stellung zwischen zwei tollen Filmen, die keiner heute üblichen Längennorm entsprechen. B-Filme. Neben den Kranken, den Alten, den Betreuten und den Einsamen, den Menschen, die Tabak in Hülsen stopfen und die fertigen Zigaretten in Reih und Glied auf das Tischtuch legen, sind die Videorecorder der Republik die einzigen Wahrnehmungsorgane, die von solchen 15 Minuten und solchen Filmen „live“ etwas mitbekommen. Ich stelle mir vor (weil ich an die Umsturzlust der Alten und Kranken nicht glauben mag): wie die Videorecorder einmal miteinander sprechen werden während ihrer einsamen Tätigkeit und eine Revolution abmachen in der Nacht- oder Nachmittagsschiene, keiner kriegt davon „live“ was mit, aber am anderen Tag ist das Fernsehen anders und alle wundern sich, dass es nicht schon vorher so war. Zum Schluß noch ein Bild aus einem anderen Film von Joseph H. Lewis, aus „Gun Crazy“ (USA 1949), auch bekannt als „Deadly is the female“. Jörg Becker hat in einer späten Filmkritik darüber geschrieben.

Eine Frage ist allerdings, ob das Versagen der Elektrik beim Langtextposten [M.B.] nicht auch als ein ernstzunehmender Hinweis auf die Beschränkung des Mediums zu deuten wäre, ob also grundsätzlich ein solch langer Text unsere Bereitschaft fürs Lesen im Internet nicht sehr fordert.
Ja! Meine jedenfalls. Fast alles, was mehr Platz als einen Screen einnimmt erregt die Ungeduld des „Flaneurs, der über die Strasse will und warten muss, bis die Rollerblader vorbeigezogen sind“ (Benjamin). Diese Texte, so sie interessant sind, kopiere ich oder drucke sie aus und lese später .
Dazu kommt dass -das fällt mir erst jetzt auf- jeder neue Text sich über die Vorhergehenden stellt, sich also mit je länger um so breiteren Ellenbogen Platz schafft und die anderen somit immer näher an das Fegefeuer des Archivs herandrängt.
Auch das ist nicht nett.
Wie also damit umgehen?
Ich gehe mit gutem Beispiel voran und stelle erst mal nur die Frage in den Raum.

Heute steht in der FAZ wieder etwas zur Kooperation von „Hollywood“ und „Washington“ („Gemeinsamer Feldzug: Wieder einmal haben sich Politiker aus Washington und Studiochefs aus Hollywood zusammengesetzt, um gemeinsam über die Rolle der Unterhaltungsindustrie im Krieg gegen den Terrorismus nachzudenken. VERENA LUEKEN, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.11.2001, Nr. 269 / Seite 52. Das seltsame Comeback von Hollywood als handlungs- und kriegsfähiges Subjekt hält an – bzw. eine ehemalige Sicherheit im Gebrauch des Begriffs Hollywood scheint wiedergefunden. Ich hatte mir dazu vor ein paar Wochen anläßlich des Film PASSWORT SWORDFISH Gedanken gemacht, der in den deutschen Kinocharts so auf Platz 4 liegt derzeit:
Mittendrin statt nur dabei,
nochmal editiert, hier in der knappesten, trotzdem vollständigen Form.
[11/19/2001 2:29:41 PM | Jan Distelmeyer]

Sonntag, 18.11.2001

Zuhause

Wenn man verletzt und krank ist, Kreuzbandriss und Grippe, und man liegt zwischen Säften und Zeitungen und Büchern und Fernbedienungen, dann kann man hineingeraten in einen anderen TV-Slot, in eine andere Programmschiene. Man schaut Fernsehen zu bisher unmöglichen Zeiten. Samstagnachmittag. Freitag früh. Die anderen, die Gesunden, die machen weiter, mit Harald Schmidt und Relegation und Frankfurter Sonntagszeitung.
Gestern geriet ich um 16 Uhr 15 in eine Sendung des bayrischen Rundfunks. Zuvor hatte ich Apache von Aldrich gesehen, im WDR. Der Kinofilm ist ja aus dem Fernsehen verschwunden, eben wegen der Slots. Das Programm muß ablaufen und die einzelnen Programmteile müssen identische Längen haben, damit das Schema unverrückbar und unverschiebbar bestehen bleibt. Die Kinofilme, die richtigen, nicht die Movies, haben diese exakten und identischen Längen nicht. Sie passen nicht. Sie finden in den dritten Programmen oder sonst nach 23 Uhr statt. (Daran hängt filmpolitsich eine Menge: Die Verleiher können die Lizenzen von Filmen, der neue Chabrol, der neue neue von Claire Denis, nach Auswertung im Kino, was meistens Zuschussgeschäft ist, nicht mehr weiter an Fernsehen verkaufen, zu einem halbwegs anständigen Preis, weil die Filme dort nicht mehr in oder wenigstens der Nähe der Prime laufen und die Sender für so was nichts mehr zahlen. So kommen die Filme oft gar nicht mehr ins Kino. Nur die kleinen Verleiher, die auf diese Lizenzverkäufe nicht angewiesen sind, schaffen da noch kinematographische Öffentlichkeit.)
Also, Apache findet im WDR um 15 Uhr statt, am Samstag, und ich denke mir, dass ist die Zeit der Kranken, der Alten, der Betreuten und der Einsamen. Der Menschen, die Tabak in Hülsen stopfen und die fertigen Zigaretten in Reih und Glied auf das Tischtuch legen. Heimarbeit, der Rest davon. Sonst findet die ja im östlichen Trikont statt. Aber vielleicht sind die Kranken und Verletzten und Gepflegten und Alten ein wirkliches Kinopublikum, eines, das früher auch schon in die Nachmittagsvorstellungen gegangen ist, als es noch Kinos in den Städten gab und die Einsamkeit ein Teil der Öffentlichkeit.
Also, Apache fand statt, da wo es hingehörte und es ist ein großartiger Film. Ich kannte ihn schon und ich kannte ihn nicht und das Maisfeld am Schluß, dass vom Sesshaftwerden eines umherdriftenden Kämpfers erzählt, und in dem er sich noch einmal verbergen will, als die Häscher kommen, das ist schon toll. Burt Lancaster sowieso.
Nachher auf Bayern 3. Ein Film, 45 Minuten. Über ein Weinanbaugebiet am Main, wo der beste fränkische Spätburgunder gemacht wird.
Normalerweise werden ja auch die 15UhrKucker von den Programmmachern vorgeplant. Die schon beschriebenen Alten und Sterbenden und Kranken und auf die Enkel Wartenden. Für die gibt es Kalenderbilder. Nebel im Chiemgau. Am Main. Klarinetten dazu. Ein sinnender Vogel, der kurz sein Gefieder zeigt. Ein mit Köstlichkeiten aus der Umgebung gefüllter Fresskorb.
Der Film hier war jedoch anders und vielleicht gibt es viele davon.
Auch er zeigte den Nebel. Im Morgenlicht. Aber der Nebel bedeutet, dass man die Trauben noch nicht ernten kann. Das man warten muß. Und so ernten sie Kürbisse. Und suchen Pilze, Steinpilze. Und der Film zeigt, was aus dieser kleinen Ernte entsteht. Wie der Koch mit den geernteten Früchten und Gemüsen umgeht. Der Film folgt dieser Schleife. Erst dann kommt er zum Wein zurück.
Er folgt dem Handwerk, den Tätigkeiten. Er ist still. Er beobachtet. Setzt zusammen. Zeigt, was Tradition ist. Und was der Moderne geschuldet. Nebenbei setzt sich eine ganze Genealogie einer Winzerfamilie zusammen. Wenn der Winzer erklärt, was dieses Anbaugebiet ausmacht, auszeichnet (Der Main, am Fuß der Weinberge, wie ein Sonnenreflektor, der Fichtenwald am Kopf der Hänge wie eine Mütze usw.), dann zeigt das der Film. Aufwändig. Er versucht, eine Einstellung zu finden. Und diese Suche und Arbeit war sichtbar. Dem Handwerk, dass die Winzer verrichten, setzt er sein eigenes Handwerk entgegen.
Weil die Trauben noch nicht gekeltert werden können, wird Schnaps destilliert. Der Film beobachtet den Winzer, der Williamsbirnenmus in die Brennerei schaufelt. Dann, nach der Arbeit, steht er still neben dem Becken, in das der Schnaps rinnt. Auch das beobachtet der Film. Jetzt tritt der Autor vor die Kamera, tritt auf den Winzer zu. Der Winzer steckt einen Zeigefinger in den Schnaps, fordert den Autoren auf, es ihm gleichzutun. Beide kosten. Dann nicken sie sich zu. Der Autor sagt: „JA!“ Ganz für sich. Der Winzer sagt einen Bruchteil später auch ja. Auch er ganz für sich. Schöner habe ich die Begegnung zwischen der sogenannten Wirklichkeit und den sogenannten Bildern lange nicht gesehen. Es war die zwischen Herstellern, Produzenten. Es ging um den Respekt der eigenen Arbeit und der der anderen. Und die Begegnung ist Genuß. Und Geschmack.
Der Film, der sich im Abspann auch so nannte und nicht Reportage, war von Alexander Samsonow.
Die Old Filmkritik hatte Mitte der 70-er Jahre auch diesen Begriff der Arbeit als Analysebegriff und Werkzeug gebraucht. Für einen Moment dachte ich, dass das auch ein Film von Bitomski hätte sein können (Wenn ich ihn nochmals sehe und alles hier geschriebene bricht zusammen, kann ich mich über den Tablettenkonsum herauswinden). Aber vielleicht ist das wirklich so, dass eine bestimmte Art von Kino und eine bestimmte Art von Bilderherstellung und auch eine bestimmte Art von Genuss in merkwürdigen Slots verschwunden ist. Währenddessen macht die Simulation von Kino da draußen weiter. Man muß die Majors angreifen. Dazu nächstesmal mehr.

Samstag, 17.11.2001

autofahren [2]

„Seine ganze Sorge ist jetzt, nach Westen zu kommen, weg von Baltimore, Washington, das wie ein zweiköpfiger Hund die Küstenstraße nach Westen überwacht. Er will nicht mehr am Wasser entlang fahren, er sieht sich jetzt anders: er will in die Mitte des Landes vorstoßen, mitten hinein in den breiten, weichen Bauch, und die dämmernden Baumwollfelder mit seinem nördlichen Nummernschild überrraschen.
Vorläufig ist er aber noch irgendwo hier. Ein Stück weiter aber geht eine mit 23 bezifferte Straße nach links ab – nein, nach rechts. Die führt wieder nach Pennsylvania zurück, aber wenn er sie erstmal hat, kann er eine kleine, schmale, blaue Straße nehmen, die keine Nummer hat. Auf der kann er ein Stückchen südlich fahren und dann auf die 137 überwechseln. Dann kommt eine lang sich ziehende, holprige Kurve, auf die 482 und 31 stoßen. Rabbit fühlt sich schon durch diese Kurve lavieren und dann auf die rote Linie einbiegen, die die Zahl 26 trägt und dann auf eine andere mit der Zahl 340. Auch eine rote. Er fährt mit dem Finger darüberhin, und plötzlich weiß er, wohin er will. Links drüben laufen drei rote Straßen parallel nebeneinander her, von Nordost nach Südwest. Und Rabbit sieht deutlich vor sich, wie sie die Täler der Appalachen durcheilen. Auf eine von ihnen muß er kommen, und sie wird wie eine Rutschbahn sein, die ihn in liebliches, morgendlich sich dehnendes Baumwollland schüttet. Ja. Dort will er hin, und dann kann er alle Gedanken an den Wirrwarr hinter ihm auslöschen.“
[John Updike: Hasenherz]

Kino-Hinweis [1]

Am Sonntag, 18.11., zeigt das Arsenal um 21 Uhr Eric Rohmers Revolutionsfilm
„L’anglaise et le duc“, von 2001.
Rohmer scheint dafür bekannt, Royalist zu sein und alle waren froh, dass er den Royalismus nicht öffentlich vertrat in seinen Filmen. Und dann hat er diesen Film gemacht, seinen teuersten, mit Kostümen und im Studio, und mit Digitalkameras aufgenommen, als Hohn auf die Dogmaleute, wird gesagt. Und alle sind entsetzt, hat man mir gesagt; ich habe aber nicht nachgeschaut, was geschrieben wurde darüber.
Davor, um 19 Uhr, gibts Filme vom Wasser, von Oliveira, Rouch, aus dem Kongo (D.P. Fila) und aus den USA (P. Hutton).

Versuche mit dem Vakuum

Frau vom Stadtmagazin ruft an, Umfrage: „Kapielski, was wird, wenn Gysi Bürgermeister wird?“ – „Alles besser!“ – „Ernsthaft?“ – „Ja, oder alles schlechter! Oder man merkt gar nichts. Denn wenn man kein Fernsehn guckt und Zeitung liest, merkt man nicht, wer, wo, was Gysi und besser oder schlechter ist. Schreiben Sie das!“
thomas kapielski in ZEIT 35/2001

Donnerstag, 15.11.2001

jesse james und heidegger
für j.d.

Samstag, 10.11.2001

autofahren [1]

Sie haben das Dispositiv des „autofahrenden Menschen“ (l’homme en voiture) erfunden. Bezieht sich das auf die kulturelle oder religiöse Tradition der Suche, der Idee des suchenden Menschen?

Wir haben eine Religion zweier Geschwindigkeiten: eine zurückbleibende/zurückblickende, in der so etwas wie die Suche/die Frage nicht existiert, und eine andere, entwickeltere, wo die Suche/die Frage existiert. In der ganzen mystischen Poesie des Irans gibt es so etwas wie die initiatorische Reise, die zur Vervollständigung führen soll. Das kommt aus der/ das ist der Vorzug der iranischen Kultur, mit ihrem Reichtum, und die religiöse Kultur läßt solche Ideen erscheinen. Die Religion macht nichts anderes, als das iranische Denken wieder aufzunehmen/zu beantworten.
Zudem ist das Auto einfach eine schöne Idee. Es ist nicht nur ein Beförderungsmittel, etwas, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Es repräsentiert auch eine kleine Wohnung, ein sehr intimes Zimmer, mit einem großen Fenster, dessen Ausblick sich von Moment zu Moment verändert. In der Realität gibt es solche Wohnungen überhaupt nicht, der Blick, den man aus dem Fenster seiner Wohnung hat, ändert sich nie. Die Wohnung ist dazu verdammt, ewig den gleichen Blick zu zeigen. Die Windschutzscheibe des Autos aber hat eine viel größere Dimension; und sie kann außerdem die Bewegung reflektieren-wie ein Scope-Schirm/eine Scope-Leinwand. Autos haben einen weiteren Vorteil: wenn man aus dem Inneren des Autos filmt, haben die Leute draußen keine Ahnung, dass sie Teil deines Films werden. Das ist wie ein permanentes Travelling, mehr noch: wie eine Kranfahrt. Wenn der Mann im Auto [in Geschmack der Kirsche] den Hügel hinauffährt, macht er eine Kranfahrt, mit einem Kran, der sehr lange Arme hat. Außerdem ist das Auto eine Art Sitzbank. Zwei Leute können nebeneinander sitzen und sich die selbe Landschaft anschauen, den selben Blick teilen. Selbst wenn sie nicht miteinander sprechen, heißt das nicht, dass sie sich verkracht haben. Man kann jemanden in seinem Auto mitnehmen, ohne dass man befreundet ist oder sich anfreunden muss. Der andere kann von einem Moment auf den anderen aus dem Auto aussteigen.
[Cahiers du Cinéma Nr. 518 (1997), Gespräch zu „Geschmack der Kirsche“; hier aus: Abbas Kiarostami – Textes, Entretiens, Filmographie Complète, Pétite bibliothèque des Cahiers du Cinéma, 1997; S. 82f)]
übersetzung michael baute

Fernseh-Hinweis [1]

arte, 11.11.01
00:05 – 01:20 Uhr
Yervant Gianiklan und Angela Ricci: „Über allen Gipfeln ist Ruh'“ (Italien 1998)


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