2001

Sonntag, 18.11.2001

Zuhause

Wenn man verletzt und krank ist, Kreuzbandriss und Grippe, und man liegt zwischen Säften und Zeitungen und Büchern und Fernbedienungen, dann kann man hineingeraten in einen anderen TV-Slot, in eine andere Programmschiene. Man schaut Fernsehen zu bisher unmöglichen Zeiten. Samstagnachmittag. Freitag früh. Die anderen, die Gesunden, die machen weiter, mit Harald Schmidt und Relegation und Frankfurter Sonntagszeitung.
Gestern geriet ich um 16 Uhr 15 in eine Sendung des bayrischen Rundfunks. Zuvor hatte ich Apache von Aldrich gesehen, im WDR. Der Kinofilm ist ja aus dem Fernsehen verschwunden, eben wegen der Slots. Das Programm muß ablaufen und die einzelnen Programmteile müssen identische Längen haben, damit das Schema unverrückbar und unverschiebbar bestehen bleibt. Die Kinofilme, die richtigen, nicht die Movies, haben diese exakten und identischen Längen nicht. Sie passen nicht. Sie finden in den dritten Programmen oder sonst nach 23 Uhr statt. (Daran hängt filmpolitsich eine Menge: Die Verleiher können die Lizenzen von Filmen, der neue Chabrol, der neue neue von Claire Denis, nach Auswertung im Kino, was meistens Zuschussgeschäft ist, nicht mehr weiter an Fernsehen verkaufen, zu einem halbwegs anständigen Preis, weil die Filme dort nicht mehr in oder wenigstens der Nähe der Prime laufen und die Sender für so was nichts mehr zahlen. So kommen die Filme oft gar nicht mehr ins Kino. Nur die kleinen Verleiher, die auf diese Lizenzverkäufe nicht angewiesen sind, schaffen da noch kinematographische Öffentlichkeit.)
Also, Apache findet im WDR um 15 Uhr statt, am Samstag, und ich denke mir, dass ist die Zeit der Kranken, der Alten, der Betreuten und der Einsamen. Der Menschen, die Tabak in Hülsen stopfen und die fertigen Zigaretten in Reih und Glied auf das Tischtuch legen. Heimarbeit, der Rest davon. Sonst findet die ja im östlichen Trikont statt. Aber vielleicht sind die Kranken und Verletzten und Gepflegten und Alten ein wirkliches Kinopublikum, eines, das früher auch schon in die Nachmittagsvorstellungen gegangen ist, als es noch Kinos in den Städten gab und die Einsamkeit ein Teil der Öffentlichkeit.
Also, Apache fand statt, da wo es hingehörte und es ist ein großartiger Film. Ich kannte ihn schon und ich kannte ihn nicht und das Maisfeld am Schluß, dass vom Sesshaftwerden eines umherdriftenden Kämpfers erzählt, und in dem er sich noch einmal verbergen will, als die Häscher kommen, das ist schon toll. Burt Lancaster sowieso.
Nachher auf Bayern 3. Ein Film, 45 Minuten. Über ein Weinanbaugebiet am Main, wo der beste fränkische Spätburgunder gemacht wird.
Normalerweise werden ja auch die 15UhrKucker von den Programmmachern vorgeplant. Die schon beschriebenen Alten und Sterbenden und Kranken und auf die Enkel Wartenden. Für die gibt es Kalenderbilder. Nebel im Chiemgau. Am Main. Klarinetten dazu. Ein sinnender Vogel, der kurz sein Gefieder zeigt. Ein mit Köstlichkeiten aus der Umgebung gefüllter Fresskorb.
Der Film hier war jedoch anders und vielleicht gibt es viele davon.
Auch er zeigte den Nebel. Im Morgenlicht. Aber der Nebel bedeutet, dass man die Trauben noch nicht ernten kann. Das man warten muß. Und so ernten sie Kürbisse. Und suchen Pilze, Steinpilze. Und der Film zeigt, was aus dieser kleinen Ernte entsteht. Wie der Koch mit den geernteten Früchten und Gemüsen umgeht. Der Film folgt dieser Schleife. Erst dann kommt er zum Wein zurück.
Er folgt dem Handwerk, den Tätigkeiten. Er ist still. Er beobachtet. Setzt zusammen. Zeigt, was Tradition ist. Und was der Moderne geschuldet. Nebenbei setzt sich eine ganze Genealogie einer Winzerfamilie zusammen. Wenn der Winzer erklärt, was dieses Anbaugebiet ausmacht, auszeichnet (Der Main, am Fuß der Weinberge, wie ein Sonnenreflektor, der Fichtenwald am Kopf der Hänge wie eine Mütze usw.), dann zeigt das der Film. Aufwändig. Er versucht, eine Einstellung zu finden. Und diese Suche und Arbeit war sichtbar. Dem Handwerk, dass die Winzer verrichten, setzt er sein eigenes Handwerk entgegen.
Weil die Trauben noch nicht gekeltert werden können, wird Schnaps destilliert. Der Film beobachtet den Winzer, der Williamsbirnenmus in die Brennerei schaufelt. Dann, nach der Arbeit, steht er still neben dem Becken, in das der Schnaps rinnt. Auch das beobachtet der Film. Jetzt tritt der Autor vor die Kamera, tritt auf den Winzer zu. Der Winzer steckt einen Zeigefinger in den Schnaps, fordert den Autoren auf, es ihm gleichzutun. Beide kosten. Dann nicken sie sich zu. Der Autor sagt: „JA!“ Ganz für sich. Der Winzer sagt einen Bruchteil später auch ja. Auch er ganz für sich. Schöner habe ich die Begegnung zwischen der sogenannten Wirklichkeit und den sogenannten Bildern lange nicht gesehen. Es war die zwischen Herstellern, Produzenten. Es ging um den Respekt der eigenen Arbeit und der der anderen. Und die Begegnung ist Genuß. Und Geschmack.
Der Film, der sich im Abspann auch so nannte und nicht Reportage, war von Alexander Samsonow.
Die Old Filmkritik hatte Mitte der 70-er Jahre auch diesen Begriff der Arbeit als Analysebegriff und Werkzeug gebraucht. Für einen Moment dachte ich, dass das auch ein Film von Bitomski hätte sein können (Wenn ich ihn nochmals sehe und alles hier geschriebene bricht zusammen, kann ich mich über den Tablettenkonsum herauswinden). Aber vielleicht ist das wirklich so, dass eine bestimmte Art von Kino und eine bestimmte Art von Bilderherstellung und auch eine bestimmte Art von Genuss in merkwürdigen Slots verschwunden ist. Währenddessen macht die Simulation von Kino da draußen weiter. Man muß die Majors angreifen. Dazu nächstesmal mehr.

Samstag, 17.11.2001

autofahren [2]

„Seine ganze Sorge ist jetzt, nach Westen zu kommen, weg von Baltimore, Washington, das wie ein zweiköpfiger Hund die Küstenstraße nach Westen überwacht. Er will nicht mehr am Wasser entlang fahren, er sieht sich jetzt anders: er will in die Mitte des Landes vorstoßen, mitten hinein in den breiten, weichen Bauch, und die dämmernden Baumwollfelder mit seinem nördlichen Nummernschild überrraschen.
Vorläufig ist er aber noch irgendwo hier. Ein Stück weiter aber geht eine mit 23 bezifferte Straße nach links ab – nein, nach rechts. Die führt wieder nach Pennsylvania zurück, aber wenn er sie erstmal hat, kann er eine kleine, schmale, blaue Straße nehmen, die keine Nummer hat. Auf der kann er ein Stückchen südlich fahren und dann auf die 137 überwechseln. Dann kommt eine lang sich ziehende, holprige Kurve, auf die 482 und 31 stoßen. Rabbit fühlt sich schon durch diese Kurve lavieren und dann auf die rote Linie einbiegen, die die Zahl 26 trägt und dann auf eine andere mit der Zahl 340. Auch eine rote. Er fährt mit dem Finger darüberhin, und plötzlich weiß er, wohin er will. Links drüben laufen drei rote Straßen parallel nebeneinander her, von Nordost nach Südwest. Und Rabbit sieht deutlich vor sich, wie sie die Täler der Appalachen durcheilen. Auf eine von ihnen muß er kommen, und sie wird wie eine Rutschbahn sein, die ihn in liebliches, morgendlich sich dehnendes Baumwollland schüttet. Ja. Dort will er hin, und dann kann er alle Gedanken an den Wirrwarr hinter ihm auslöschen.“
[John Updike: Hasenherz]

Kino-Hinweis [1]

Am Sonntag, 18.11., zeigt das Arsenal um 21 Uhr Eric Rohmers Revolutionsfilm
„L’anglaise et le duc“, von 2001.
Rohmer scheint dafür bekannt, Royalist zu sein und alle waren froh, dass er den Royalismus nicht öffentlich vertrat in seinen Filmen. Und dann hat er diesen Film gemacht, seinen teuersten, mit Kostümen und im Studio, und mit Digitalkameras aufgenommen, als Hohn auf die Dogmaleute, wird gesagt. Und alle sind entsetzt, hat man mir gesagt; ich habe aber nicht nachgeschaut, was geschrieben wurde darüber.
Davor, um 19 Uhr, gibts Filme vom Wasser, von Oliveira, Rouch, aus dem Kongo (D.P. Fila) und aus den USA (P. Hutton).

Versuche mit dem Vakuum

Frau vom Stadtmagazin ruft an, Umfrage: „Kapielski, was wird, wenn Gysi Bürgermeister wird?“ – „Alles besser!“ – „Ernsthaft?“ – „Ja, oder alles schlechter! Oder man merkt gar nichts. Denn wenn man kein Fernsehn guckt und Zeitung liest, merkt man nicht, wer, wo, was Gysi und besser oder schlechter ist. Schreiben Sie das!“
thomas kapielski in ZEIT 35/2001

Donnerstag, 15.11.2001

jesse james und heidegger
für j.d.

Samstag, 10.11.2001

autofahren [1]

Sie haben das Dispositiv des „autofahrenden Menschen“ (l’homme en voiture) erfunden. Bezieht sich das auf die kulturelle oder religiöse Tradition der Suche, der Idee des suchenden Menschen?

Wir haben eine Religion zweier Geschwindigkeiten: eine zurückbleibende/zurückblickende, in der so etwas wie die Suche/die Frage nicht existiert, und eine andere, entwickeltere, wo die Suche/die Frage existiert. In der ganzen mystischen Poesie des Irans gibt es so etwas wie die initiatorische Reise, die zur Vervollständigung führen soll. Das kommt aus der/ das ist der Vorzug der iranischen Kultur, mit ihrem Reichtum, und die religiöse Kultur läßt solche Ideen erscheinen. Die Religion macht nichts anderes, als das iranische Denken wieder aufzunehmen/zu beantworten.
Zudem ist das Auto einfach eine schöne Idee. Es ist nicht nur ein Beförderungsmittel, etwas, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Es repräsentiert auch eine kleine Wohnung, ein sehr intimes Zimmer, mit einem großen Fenster, dessen Ausblick sich von Moment zu Moment verändert. In der Realität gibt es solche Wohnungen überhaupt nicht, der Blick, den man aus dem Fenster seiner Wohnung hat, ändert sich nie. Die Wohnung ist dazu verdammt, ewig den gleichen Blick zu zeigen. Die Windschutzscheibe des Autos aber hat eine viel größere Dimension; und sie kann außerdem die Bewegung reflektieren-wie ein Scope-Schirm/eine Scope-Leinwand. Autos haben einen weiteren Vorteil: wenn man aus dem Inneren des Autos filmt, haben die Leute draußen keine Ahnung, dass sie Teil deines Films werden. Das ist wie ein permanentes Travelling, mehr noch: wie eine Kranfahrt. Wenn der Mann im Auto [in Geschmack der Kirsche] den Hügel hinauffährt, macht er eine Kranfahrt, mit einem Kran, der sehr lange Arme hat. Außerdem ist das Auto eine Art Sitzbank. Zwei Leute können nebeneinander sitzen und sich die selbe Landschaft anschauen, den selben Blick teilen. Selbst wenn sie nicht miteinander sprechen, heißt das nicht, dass sie sich verkracht haben. Man kann jemanden in seinem Auto mitnehmen, ohne dass man befreundet ist oder sich anfreunden muss. Der andere kann von einem Moment auf den anderen aus dem Auto aussteigen.
[Cahiers du Cinéma Nr. 518 (1997), Gespräch zu „Geschmack der Kirsche“; hier aus: Abbas Kiarostami – Textes, Entretiens, Filmographie Complète, Pétite bibliothèque des Cahiers du Cinéma, 1997; S. 82f)]
übersetzung michael baute

Fernseh-Hinweis [1]

arte, 11.11.01
00:05 – 01:20 Uhr
Yervant Gianiklan und Angela Ricci: „Über allen Gipfeln ist Ruh'“ (Italien 1998)

Irgendwo steht bei Julie Burchill, in einem der frühen Texte, die noch Clara Drechsler übersetzt hat, dass früher die Mädchen, die Stars werden wollten und zum Film drängten, unzählige Bewerbungscouches und Blow Jobs hinter sich bringen mussten, aber dann, wenn sie oben waren, im Sternenhimmel, da mussten
sie das nicht mehr, nie mehr. Die heutigen Stars sind verheiratet mit den Regisseuren, was heisst, dass sie weiter auf die Couch müssen, für immer.
Figuren wie Amelie sind wie Feen. Die haben keine eigene Geschichte. Die kommen herbeigewünscht, ins Elend, in die Ausweglosigkeit und entschwinden wieder. Erzählt wird immer die Geschichte der Wünschenden, der Verzweifelten und die der Bösartigen und Ausbeuterischen.
In einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat.
Vielleicht hilft es heute nicht mehr, nicht einmal mehr in der Geschichten.
Aber ich denke, dass es auch keine Geschichten geben kann von Personen, die sich nichts wünschen und nichts sind. Selbst der Pinocchio, der nichts ist, wunschloses Holz, wird ja, im Märchen. Am Ende ein Mensch. Der schönste Film und der härteste, der Deiner Idee am nächsten kommt, ist Vivre sa Vie. Nichts ist die Nana. Kein Nachname. Ein Tauschwert. Aber aus ihm brechen die Tränen und die Verhältnisse machen weiter. Der andere ist WANDA. Auch Wanda ist nichts. Driftet. Und der Film erzählt, wie in diesem Drift zwei Menschen, die gar nicht gut sind, eine Wölbung finden, unter der sie sich einen Moment lang verbergen und leben können.
c.p. posted von l.b.

Freitag, 09.11.2001

Amélie

Amélie fungiert ja seit Wochen als running gag bei Schmidt, klar auch warum, Schmidt wuchert ja ständig mit seinem sozialästhetischen Sensorium, und manchmal ist das ja auch nervend, weil dessen Parameter so deutlich von den 80ern geprägt sind und den damaligen Distinktionen. Was Schmidt nicht bedenkt: die Doofheit der deutschen Verleiher, die erst die 4 Millionen Zuschauer in Frankreich abwarteten vorm Importieren, so dass Amélie mit ihrem lustig gepunkteten Sommerkleid und ihrer durch Altruismus herbeigeführten Liebesinitiation gar nicht zum Rolemodel werden konnte für den Sommer, sondern höchstens für den Herbst 2001. Schmidt hat ja dann auch den ganzen Herbst über versucht, eine Haßliebe gegen den Film in seiner Sendung zu positionieren, vermutlich weil er vermutete, dass Amélie so funktionieren würde wie Béatrice Dalle in den späten 80ern durch ihre Rolle als Betty Blue in Betty Blue. Mädchen haben jetzt Schnupfen wegen Amélies lustig gepunkteten Kleidern und der gesundheitsschädigenden Unangemessenheit, sowas bei dieser Saukälte anzuziehen. Über den Schnupfen der Mädchen hätte Schmidts Häme sich gefreut, als Anlass auch, Minuten auszufüllen mit Diagnosen zum neuen Frauenbild. Amélie: der soziale Altruismus führt zum individuellen Glück / Betty Blue: der hedonistische Individualismus führt zum sozialen Ausschluß (zum Schluß sitzen die Liebenden sich anödend traurig am französischen Meer in einer Hütte, die von der letzten Baccardibewerbung noch da rum stand). Eben meinte Schmidt, Amélie hätte wie Isabelle Huppert in die Boxes der Pornokinos gehen sollen und an spermagetränkten Papiertüchern riechen, was irgendwann einmal als Zitat auftauchen wird in einer Magisterarbeit über Harald Schmidts Frauenbild.

Donnerstag, 08.11.2001

Stelle mir vor ein Märchen mit einem Mädchen, das nix kann und nichts weiss und nichtmal besonders schön ist und nach oben kommt, weil sie das irgendwann aus neugier und abenteuerlust und langeweile einfach so beschlossen hat. So wie ne Wette mit sich selbst. Alle sagen: aus dir wird nix, wollen wir doch mal sehen! Und dann geht’s los, auch mit sex und sich verkaufen und mit allen fiesen Schwindeln die dazugehören. Hochgeschwindigkeitspop. Das würde in Wirklichkeit ja auch funktionieren. Erstaunlicherweise wird das Mädchen bei diesen ganzem aber immer klüger und geschickter und schöner und reicher.
Affirmativ bis man es kaum noch aushalten kann, schöner, bösartiger aber wahrer Kitsch.
Denn in Wirklichkeit ist es ja genau so. Die Blöden und Bösen, wenn sie nur die Augen offen halten: lernen, hören mit der Zeit auf böse zu sein und werden gut und klug.
Das Falsche ist eigentlich, wie uns diese Geschichte sonst immer erzählt wird, moralisch, mit hochgezogenen Augenbrauen. Verbrechen zahlt sich nicht aus. Genau das stimmt aber nicht, ist die Lüge. Das hätten die Herrschaften gerne, dass wir das glauben. Stimmt nur für blöde und gierige Verbrecher.
Die Geschichte könnte gleichzeitig zeigen wie einfach und schlicht dieser gesellschaftliche Aufstieg ist, vielleicht kann das ganze wie ein Zwillingsexperiment funktionieren. Neben dem Glamourgirl beschliesst die Schwester Spiesserin zu werden wie jemand anders Steuerberater. Das ist aber nicht unbedingt einfacher, weil die Spiesser werden langsam wirklich exoten. Und sind ja irgendwie auch gefährlicher, wie der 11.9. gezeigt hat. Sie könnten Schläfer sein. Aber beide Mädchen sind klug.


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