Dienstag, 07.05.2002

Rücksturz zur Erde. Erfahrung und Erfahrbarkeit mittels fahrbarer Kameras.

DER RUNNER/Rowitz, Pro7 02.05.02, 20.15 Uhr
WINTERSCHLÄFER/Tykwer, ARD 02.05.02, 23.00 Uhr

EIN/AUS
EIN: Es hat schon angefangen. Aber wie soll man, wie sollen wir, wie soll ich – wer bin ich und vor allem wo? Keine Panik. Das Mobiliar ist übersichtlich, die Geschwindigkeit atemberaubend. Der hastig-irrationalen Choreographie genügt ein Plot: Schöne Frau, sehr gefährlich, will den Körper des unschuldig-ungestümen jungen Mannes zerstören. Perverse Lust kristallisiert sich schnell zu rührender Mutterliebe: Es geht um Organersatz für den kränkelnden Sohn. Zeitdruck! Sauber-praktische Freundin des jungen Mannes – Typ Pfadfinder – ist trotz dieser Besetzungsvorgaben ungeschickt und lässt sich als Geisel gefangen nehmen. Dann gibt es noch den hässlichen Bösen, der eine Armee von Bösewichtern befehligt und nur Böses will. Drehort soll ausdrücklich Berlin sein. Jenes steinerne Berlin, große Hallen aus nahezu vermeintlich unbehauenem Naturstein, das den Faschismus als unentgeltliches Surplus mitschwingen lässt. Wir befinden uns in einer Fernsehproduktion, da schaut man nicht so genau hin. Kälte, Dunkelheit, Technizismus und Gitterrost-Backsteinfabrik-Romantik. Computer strukturieren die Welt, so dass der Gedanke an ein Computerspiel nahe liegt. Aber die hyperaktiven Kamerabewegungen machen es unmöglich zu entscheiden, wann abzudrücken ist. Unterhaltung zweier Personen, die sich gegenüber stehen, führt zum völligen Austicken der Kamera. Angeschnittene Fahrten von oben links nach unten rechts, abgerissene Bewegung, Todesspirale und eingesprungener Axolotl. Die Redenden stehen weiterhin still. Von außen herangetragene Expressivität, die die aufgerissenen Augen der Akteure verdoppelt, denn mehr als Ausdruck zeigen können die schließlich auch nicht. Als sollte Dreidimensionalität, an der es hier gänzlich mangelt, mit aller Kraft behauptet werden, umzingelt sie die Kamera in diskontinuierlichen Kreiselbewegungen: Holographie now! Und wie bei der Holographie in jedem Punkt das vollständige Bild enthalten ist, weiß man hier an jeder Stelle um die schlichte Mechanik von Gut und Böse, weiß immer, wo man sich befindet. Beeindruckend die Konsequenz, mit der dieses Prinzip durchgehalten wird. (Völlig konträr dazu die vor vier-fünf Jahren moderne „rotating freeze-frame“-Technik, bei der die Kamera anscheinend ein eingefrorenes Bild umfahren konnte, wie z.B. in BUFFALO 66. Da wird Raum erzeugt, aber eben auch absoluter Stillstand.) Warum nur ist jeder Comic überzeugender und die Qualität mancher Walter-Hill-Filme unerreicht? So wie der Titel: DER RUNNER sein Hybrid-Sein ausstellt – deutscher Mief trifft auf internationalen Anspruch – bleibt der Film unentschieden zwischen Realismuswollen und künstlicher Schöpfung; die Stilisierung kriegt die Kurve nicht. Selbst für den abstrusesten Mythos bedarf es einer Vorstellung von geschichtlichem Bewusstsein, von Verankerung. Vielleicht beseitigt die Kamerabewegung die Dauer, die Zeit beseitigt sie nicht. Verpatzt also. Die Kür.

ÜBERFLUG: Irgendwo auf einem anderen Kanal kreiselt eine Kamera wiederum um dialogisierende Schauspieler, gerne auch um Vereinzelte. Diesmal handelt es sich nur um den alltäglichen Fernsehspielwahnsinn. Also noch uninteressanter, weil es sich gänzlich ernst nimmt. Erneute Schaltung bei vollem Gas.

VOGELPERSPEKTIVE: Bis weit in die Renaissance hinein galten die Alpen, galt Gebirge allgemein, als terra incognita. Nur wer einen Termin beim Papst hatte, sah sich dieser Strapaze ausgesetzt, freiwillig ging da keiner hin. Wie Menschen vor tausenden von Jahren also in Gletscher geraten konnten und uns damit überbracht wurden, ist der Wissenschaft folglich ein Rätsel. Erst der zu Landschaft ordnende Blick auf die Natur, verbunden mit ästhetischen Setzungen wie dem Erhabenen, machte die Wildnis genießbar. Petrarca hat sich als einer der Ersten literarisch darum verdient gemacht. In der Beschreibung seiner Besteigung des Mont Ventoux zum reinen Zwecke des Genusses von Natur, die damit zu Landschaft gerann, liegt im Grunde der erste Reiseprospekt vor. Das notorische Krämerwesen, das dafür verantwortlich ist und uns seitdem plagt, soll hier nicht weiter erläutert werden. Um die Alpen, ein Gelände, das von Menschen völlig absieht, zu zeigen, fliegt man am besten drüber weg. Das liegt auf der Hand. Selbst Arnold Franck und Leni haben spätestens in den Eisbergen Ernst Udet für sich gewinnen können; insofern sind die eröffnenden Gletscherflüge in WINTERSCHLÄFER Legion. Im Weiteren wird dann eine neue Szene gerne mit einer Kranfahrt eingeführt. Hoch über dem Geschehen, das noch nicht abzusehen ist, haben wir einen Überblick und stürzen dann zu Boden in die Verdichtung: Der Glaube an die Schwerkraft ungebrochen (- das Diktum der schwangeren Hippiefrau aus ATLANTIC CITY missachtend, die – befragt zu eventueller Flugangst – angab: Ich glaube nicht an die Schwerkraft!) Wie sich am Ende herausstellt, hat der Film sehr viel mit „Niederkommen“ zu tun. Zunächst einmal ist diese Art der Einführung die kontinuierliche Variante der gestückelten Billigversion in jeder Soap: Totale Hochhaus – (manchmal Zoom auf ein Fenster/aber nicht unbedingt notwendig) – Schnitt in die Studiodekoration, von der wir dann wissen, dass sie sich hinter einem der Fenster befindet. Was die Kranfahrt suggeriert, ist der allwissende Erzähler: Die Kamera weiß immer schon, was und das etwas Bedeutendes passieren wird. Sie sagt: Unter vielem Volke dieses eine Schicksal. Sie sagt: In der gleichgültigen Natur dieser eine Mensch. Viele Filme finden so ihren Anfang (z.B. TOUCH OF EVIL – in nicht enden wollender Dehnung/THE FABULOUS BAKER BOYS – nach einem one-night-stand der Hauptfigur öffnet Ballhaus den Blick durchs Fenster im ersten oder zweiten Stock auf die Straße, fährt an der Fassade herunter und nimmt die Figur auf der Straße wieder auf, die inzwischen das Haus verlassen hat/BERLIN CHAMISSOPLATZ beginnt so, um etwas Naheliegendes zu nennen), belassen es aber dann dabei, finden einen neuen Rhythmus. WINTERSCHLÄFER konstruiert aus dieser ostinaten Figur seinen Rhythmus. Diese Konsequenz bleibt nicht ohne Komik: Die Frau hat gerade erfahren, dass fern vom Ferienort ihr Vater verstorben ist. Nun fährt sie mit der Limousine auf der Landstraße von A nach B, hält unvermutet an einem Schober, hockt sich hinter ihn und pinkelt. Heulen tut sie auch noch. Die Kamera hat das kommen sehen. Aus dem Überblick schwenkt sie hernieder, nimmt die Frau beim Aussteigen aufs Korn, schwenkt über das heulende Elend – alles fließt – und öffnet in ein Landschaftspanorama. Irgendwie ökologisch, das. Kino technischer Substitute, die ratlos fragen, was sie denn ersetzen sollen. Nach einem Unfall mit Hirnschaden wird eine der Filmfiguren von temporären Absencen heimgesucht. In einem spektakulären Anfall beginnt die Kamera um ihren Kopf zu kreisen. Diesmal ist die Deutung klar: Kreiselt die Kamera um den Kopf, dann ist das Wahnsinn. Zum Schluss, in Panik, richtet der Bösewicht sich selbst. Hier hat der Film bereits Mickey-Mouse-Stadium erreicht. Und – hast Du nicht gesehen – stürzt er von Berges Spitze nieder. Die Kamera – mir nichts, Dir nichts – kurz entschlossen hinterher. Ran an Sarg und mitgeheult! – möchte man ihr noch zurufen, bevor sie in der Gletscherspalte versinkt. Den Bösewicht haben wir inzwischen verloren, will man denn den fliegenden Wechsel in die Subjektive nicht akzeptieren. Aus dieser Versenkungsspalte geht im nahtlosen Anschluss ein Neugeborenes hervor. Wie das so ist. Familienkonstituierend. Kreislaufschließend. Ökologisch eben.
Womit auch geklärt wäre, wie die Leute in den Gletscher kommen.
AUS.

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