Januar 2002

Mittwoch, 30.01.2002

Trouble everyday

Beatrice Dalle steht neben einem Spannungshäuschen, am Rande einer Landstraße. Sie raucht und es dämmert und sie friert in ihrem Trenchcoat. Ein Truck fährt vorbei. Sie schaut kurz auf. Der Truckfahrer hat sie gesehen. Und ihren Blick. Er hält seinen Wagen an.
Dieses Anhalten des Wagens wird gezeigt in einer komplizierten Kameraoperation. Alle Einstellungen zuvor waren fest. Einfach. Jetzt aber fährt die Kamera. Ein wenig hinter dem haltenden LKW her. Eine Kranbewegung kreuzt das Heck. Die Bewegung hält inne, als der Fahrer die Tür seines Wagens öffnet.
Merkwürdig fremd ist diese ganze Operation. Sie scheint nichts geschuldet. Sie erzählt nichts. Eine Auflösung in zwei oder drei Einstellungen hätte das Anhalten des Wagens und die Frau, die das Anhalten hervorgerufen hat, klarer und einfacher erzählt. Die Plansequenz jedoch steht allein und losgelöst da.
Später sieht man einen Motorradfahrer. Auch er fährt die Landstraße entlang. Er passiert den geparkten LKW. Er stoppt seine Maschine. Hält neben dem LKW an. Der Mann ist irritiert. Er schaut sich um. Er sucht etwas. Später wird er den zerrissenen LKW-Fahrer finden. Und eine blutverschmierte Beatrice Dalle, die ganz abwesend ins Leere starrt.
Die Irritation, die den Motorradfahrer beim Passieren des abgestellten LKWs überkommt, diese Irritation verstehen wir, weil sie entstanden ist aus der oben beschriebenen Kameraarbeit, der Plansequenz. Denn es gab nichts, was einem an diesem am Straßenrand abgestellten LKW innehalten ließ. Keine offene Fahrertür, die der Wind bewegte. Kein Motor, der lief. Keine Kleidungsstücke unter der Fahrerkabine.
Aber weil das Abstellen des Wagens so kompliziert und unökonomisch ins Bild gebracht wurde und eigentlich kein Bild war hält der Motorradfahrer an. Das Bild des abgestellten LKWs trägt das sinnlos Aufwendige, das nicht zu Ende und zur Auflösung gebrachte, in sich. Deshalb hält er an. Der Motorradfahrer fährt eine Landstraße entlang. Aber er fährt auch einen Film entlang. Das kam in diesen Sequenzen zusammen. Und das hat mir gefallen. Das die Darstellung einen Protagonisten beeindruckt. Und nicht das Dargestellte.
Eine halbe Stunde später fiel der Strom aus. Die Videolibrary des Festivals in Rotterdam war dunkel. Alle Monitore schwarz. Ich musste dann zum Flughafen.
Der Film ist von Claire Denis und die anderen im Wagen zum Flughafen sagten, dass er nicht gut sei. Die 38 Minuten, die ich gesehen habe, waren großartig.

Sonntag, 27.01.2002

ein filmtip zum gedenken an bourdieu (der mich immer ein wenig an tommy lee jones erinnert hat) wäre REPRISE von herve le roux, den ich heute abend im berliner arsenal versäumt habe wiederzusehen: ausgehend von einem kurzen film aus 1968, in dem eine frau zu sehen ist, die sich vehement weigert, die batterienfabrik wonder zu betreten und damit den streik gegen das unternehmen zu brechen, ist REPRISE eine recherche, die primär dieser frau gilt (ob sie noch lebt, und unter welchen umständen), die aber in dieser suchbewegung ein großes epos der französischen arbeiterbewegung entstehen läßt, bei dem ich immer an Das Elend der Welt denken mußte, diesen kollektiv-balzacischen versuch eines teams um bourdieu, die soziologie nicht in die vororte zu tragen, sondern sie dort zu finden. REPRISE lief einmal auf arte, es sollten also videos around sein

langtexthinweis

Ein längerer Text zu Spike Jonzes “Being John Malkovich”, von Bert Rebhandl verfasst, ist jetzt auf unserer Schwester- und Langtextablageseite, hier, zu lesen.

Samstag, 26.01.2002

Bei Malorama gesehen:
The black-and-white photographs of the Farm Security Administration-Office of the Office of War Information Collection are a landmark in the history of documentary photography. The images show Americans at home, at work, and at play, with an emphasis on rural and small-town life and the adverse effects of the Great Depression, the Dust Bowl, and increasing farm mechanization. Some of the most famous images portray people who were displaced from farms and migrated West or to industrial cities in search of work. In its latter years, the project documented America’s mobilization for World War II. The collection includes about 164,000 black-and-white negatives; this release provides access to over 160,000 of these images. The FSA-OWI photographers also produced about 1600 color photographs. Two illustrated lists of frequently requested images from the FSA-OWI Collection, ‚Migrant Mother‘ Photographs and Photographs of Signs Enforcing Racial Discrimination„, are also available from the Prints and Photographs Reading Room.
Das Foto oben -”Getting ready to serve the barbeque dinner at the Pie Town, New Mexico Fair”- hat Russel Lee im Oktober 1940 aufgenommen. Für ein paar Dollar kann man sich bei der Library of Congress einen Abzug davon bestellen.

Donnerstag, 24.01.2002

Gerade eben erreicht mich die schockierende Nachricht, dass Pierre Bourdieu gestern Nacht an Krebs verstorben ist, was ich gar nicht recht glauben will. Ich hatte mich mit Bourdieu – vor allem mit seinen Gedanken zur Ideologie und zur Frage der Konstruktion von Autorität – intensiv für meine Arbeit zur Autorentheorie in der Filmkritik und Filmwissenschaft beschäftigt. Bourdieus Texte über den „symbolischen Kampf“ scheinen mir sehr wichtig gerade für eine kritische Diskussion der Filmkritik zu sein. Von der Bedeutung Bourdieus für die Politisierung von akademischen Intellektuellen ganz zu schweigen. Dieser Verlust ist gerade jetzt außerordentlich traurig.

Samstag, 19.01.2002

Hier noch ein Link zu einem Onlinefilmtheoriemagazin, in dem man vor allem längere Aufsätze und fußnotenbewährte Essays finden kann: cinetext.
Und weil ich gerade dabei bin, hänge ich noch einen Text zu „Herr der Ringe“ an, für den ich die bitterbösesten E-Mails und Leserbriefe von erklärten Tolkien-Freunden und -Kennern bekommen hab – es hagelte persönliche Angriffe und radikale Unmutsbezeugungen. Weil diese Form von Filmkritikkritik („intellektueller Scheiß“, „lassen sie uns mit ihrem Müll in Ruhe“ etc.) mir zum ersten Mal begegnet ist, will ich den Text hier zur Diskussion stellen.
Noch ein Programmhinweis: Interessant für die Rolle von afroamerikanischen Helden im Hollywood der späten 50er und frühen 60er (also noch vor Norman Jewisons Sidney Poitier-Thriller „In the heat of the night“ und Stanley Kramers hochproblematischem „Guess who’s coming to dinner“) sind zwei Filme, die der Hessische Rundfunk am Freitag den 25. ab 0Uhr30 im Doppelpack sendet: Der Gansterfilm „Odds against tomorrow“ von Robert Wise mit Harry Belafonte und Ralph Nelsons Western „Duel at Diabolo“ mit Sidney Poitier.

Freitag, 18.01.2002

mein lieblingsmoment aus mulholland drive, entdeckt beim zweiten sehen im babylon in kreuzberg, in einer vorstellung, in der auch der berühmte produzent florian körner war: schon in der neurotischen handlung fährt die blonde frau im fonds eines wagens den mulholland drive entlang, dann hält das auto an in wiederholung und variation des beginns, und nun tritt aus dem wald die dunkelhaarige, nimmt ihre freundin an der hand („this is a shortcut“) und die beiden gehen durch einen zauberwald, in dem für einige schritte alles suspendiert ist, was diesen film ausmacht. lynch entscheidet sich sonst meistens für das theater wenn er eine auszeit braucht, dabei gehen wir doch selbst auch meistens spazieren, wenn wir durchatmen müssen.

Donnerstag, 17.01.2002

pickpocket
supertest

Fernseh-Hinweis

Eric Zoncas “La vie rêvée des anges” (dt.: “Liebe das Leben”), 18.1., 0:50 – 2:40, im ZDF.
In einer Szene im letzten Drittel des Films liest Elodie Bouchez das Tagebuch eines Mädchens. Dieses Mädchen liegt bewußtlos im Krankenhaus, eine zum Schluß des Films immer bedeutender werdende, obwohl nur effektiv, kaum szenisch weiträumig ausgebaute Parallelgeschichte handelt von der Begegnung zwischen Elodie Bouchez und dem bewußtlosen Mädchen.
Die Bewußtlosigkeit dieses Mädchens stellt der Film durch das trotzige Engagement Elodie Bouchezs in Frage, dem es darum geht, dass man mit psychisch Abwesenden kommunizieren können müsse. Es gibt dazu eine sakral anmutende Szene im Kerzenschein einer Krankenhauskapelle, die vielleicht einzige unmittelbar symbolische Darstellung dieser Empathieversuche Elodie Bouchezs. Bestimmt gibt es in der Theologie Diskurse, die mich den Titel des Films besser verstehen ließen, von Kirchenvätern, die darüber nachgedacht haben, ob Leben etwas von Engeln geträumtes ist. Während des Filmguckens sind mir damals, 1998, als der Film in den deutschen Kinos zu sehen war, solche metaphysischen Fragestellungen nicht aufgefallen, weil die Figuren so hart miteinander umgehen und deren Beziehungen so konsequent physisch und bisweilen hastig erzählt werden. Elodie Bouchezs Beziehung zu dem bewußtlosem Mädchen spiegelt ihre Beziehung zu Natacha Régnier.
Irgendwie, und ich weiß nicht mehr wie genau, hat das bewußtlose Mädchen etwas mit der Wohnung zu tun, in der Natacha Régnier wohnt und die sie für einen Großteil des Films mit Elodie Bouchez teilt. Elodie Bouchez tritt am Anfang in diesen Film wie die Wiedergeburt von Sandrine Bonnaire aus Agnès Vardas “Sans loi ni toit” (Frankreich 1985), lernt in der nordfranzösischen Stadt bei einer Arbeit Natacha Régnier kennen und zieht bei ihr ein. Agnès Godard hat die Kamera geführt für diesen Film, und trotz der dreieinhalb Jahre, die vergangen sind seit ich den Film zum letzten Mal sah, kann ich mich an diese Szenenfolge erinnern, in der Elodie Bouchez zufällig das Tagebuch findet und heimlich den Tabubruch begeht, von der ersten Liebe des Mädchens zu lesen in deren Tagebuch. Die Handkamera zeigt lange ein Bild einer handschriftlich verfassten Seite darin.
Es gibt noch eine andere Sequenz aus dem Film, an die ich mich erinnere. Damals hatte ich viel zu tun mit Büchern, die das Drehbuchschreiben beizubringen suchen und in einem der besseren aus Nordamerika wird der Autor ärgerlich und wütend über eine Szene in einem Film von Téchiné, ich glaube seine Wut traf “Ma saison préférée” (Frankreich 1993). Das Buch habe ich inzwischen schon wieder verkauft und kann also nicht daraus zitieren. In jener Szene, die ausdrücklich mit dem erbosten Bann des amerikanischen Drehbuchschreibtrainers belegt wird, geht es darum, dass eine Figur in einen Raum tritt und eine andere Person tot im Bett vorfindet; der darauffolgende Schnitt offenbart aber, dass die eben noch tote Person lebendig am Fenster steht. Das -zwei Versionen einer identischen Begegnung zu zeigen-, sagte der amerikanische Autor, darf man nicht machen, sinngemäß sei es so etwas wie eine Todsünde, weil der Zuschauer auf eine falsche Fährte gelockt würde, verwirrt von der Wahl. Durch diesen Bann war ich natürlich neugierig geworden auf jene Szene, ein paar Wochen später sah ich sie auf Video.
Es gibt das oft in Filmen von Téchiné, dass eine Figur freiwillig aus dem Leben treten will und das darüber sich Beziehungen verändern und aufschließen für Entwicklungen. Wie zeigt man das in Filmen, dass es immer zumindest diese eine Wahl gibt, weiter oder nicht mehr weiter wählen zu wollen. Deleuze hat darüber im ersten Kinobuch geschrieben und Téchiné hat in einem anderen Film, “Les Voleurs” (Frankreich 1996), Catherine Deneuve einen Abschiedsbrief schreiben lassen, den Daniel Auteuil liest, nachdem er von ihrem Selbstmord erfahren hat, und der einen Grund für ihren Selbstmord gibt. Catherine Deneuve schreibt da: “Ich will nicht mehr ersetzen”, was zu tun hat mit Verletzungen und Enttäuschungen, mit einer Beziehung, die gegen Ende des Films nicht mehr aufrechtzuhalten ist. In “La vie rêvée des anges” gibt es das auch, man sieht da den Moment kurz nach der finalen Entscheidung von Natacha Régnier, sich aus dem Fenster zu stürzen. Man sieht nicht, wie sie aus dem Fenster springt, man sieht, dass sie gerade gesprungen ist.

Mittwoch, 16.01.2002

ein sehr empfehlenswertes onlinefilmmagazin findet man hier


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