2003

Montag, 21.07.2003

TV-Hinweis

Heute, 22:25 Uhr – 23:00 Uhr, 3satEin Bauer der Photographie. Der französische Kameramann Raoul Coutard

Regie: Jürgen Heiter und Hans-Heinz Schwarz
BRD1982/99, OmU

Samstag, 12.07.2003

TV-Hinweis:

Heute Nacht (13.7.), 1.20 – 2.00 Uhr im WDR:Das Land (The Land)
Regie: Robert Flaherty

„Flaherty, gewohnt Filme über Individuen und Gruppen in einem begrenzten Bereich zu drehen, reiste Tausende von Meilen durch die USA und belichtete Tausende von Metern. Was er festhielt, waren Bilder eines fruchtbaren Landes, das durch den Zugriff des Menschen zu einer Wüste zu werden drohte. Wie Bilder eines Körpers, der zu einer einzigen Wunde wird. Dazu die Zerstörungen, die die Technisierung der Landwirtschaft im Leben der Farmer und Landarbeiter angerichtet hatte, die Arbeitslosigkeit und die Landflucht. Noch während der Produktion änderte sich die politische Lage radikal. Der schrittweise Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, der nach dem Überfall auf Pearl Harbour im Dezember 1941 endgültig war, änderte die Perspektive auf die Landwirtschaft. Es galt jetzt, aus naheliegenden Gründen die Produktion auf Hochtouren zu bringen. So erklärt sich, dass Flahertys bedrückendes Panorama ziemlich unvermittelt in einen positiven und pathetischen Schluss einmündet. Dieses Ende dementiert den Film nicht, es macht die Situation eher noch verzweifelter. Das müssen auch die Auftraggeber so gesehen haben: der Film wurde öffentlich nicht verbreitet. Das kam einem Verbot gleich, das bis heute nachgewirkt hat. Kaum Jemand kennt den Film.“ (Von den WDR-Seiten im Netz)

Samstag, 05.07.2003

Zeitschrifts-Hinweis

shomingeki Filmzeitschrift, Nr. 13/14, Frühling/Sommer 2003

Inhaltsverzeichnis
Stefan Flach – Empörung, Kontaktaufnahme, etwas stellt sich ein
Helmut Färber – Drei Minuten in einem Film von Ozu
Rüdiger Tomczak – Die Ozu-Berlinale
Johannes Beringer – Varia – Notiertes zu Film und Kinematographie
Bettina Klix – Film, Farbe, Verdrängung – über Frieda Grafe
Rüdiger Tomczak – Über vier Filme von Dang Nhat Minh
Dang Nhat Minh – Im Reich der Dunkelheit und des Lichts
Johannes Beringer – Der Autodidakt: Maurice Pialat
Rüdiger Tomczak – Das geschlagene Kind – über Hou Hsiao Hsien
Bettina Klix – Zensur
Stefan Flach – Eine Geste (Wilde Erdbeeren)
Claude R. Blouin – Spielen oder Leben – Eine Interview mit Makiko Esumi und Etsushi Toyokawa
Johannes Beringer – Ein Kabel, eine Mauer – Filme von Chantal Akerman und Rithy Panh
Christian Hanussek – what you lose on the swings you gain on the roundabouts von Anette Rose

Der Autodidakt: Maurice Pialat, von Johannes Beringer ist auch auf unserer Langtextseite zu lesen, der Rest der Texte im Heft. Bezugsadressen entweder hier, oder via e-mail.

Samstag, 28.06.2003

Fernseh-Hinweis
Heute Nacht, Samstag/Sonntag 29.6., 1:40 – 3:30, ZDF
DIE ABENTEURER
Frankreich/Italien 1966
Regie: Robert Enrico
Mit: Alain Delon, Lino Ventura, Joanna Shimkus

Freitag, 27.06.2003

Klagenfurt, Blicke

Beim morgendlichen Kontrollblick, ob der Recorder den Spätfilm auf einem der Dritten vollständig mitgeschnitten hat, kann es passieren, daß man plötzlich („kurz mal durchschalten“) irritiert hängenbleibt bei jemandem, der liest und einer soundsovielköpfigen Jury, die zuhört und danach darüber richtet.

Klagenfurt, Bachmann-Preis, schon wieder ein Jahr vorbei.

Dass es das noch gibt, wundere ich mich dann, und bin zugleich abgestossen und fasziniert von den Mechanismen, die da alle Jahre wieder am Werk sind. Auf mich wirkt die Veranstaltung immer obszön, auf eine irgendwie perfidere Art als die Nachmittags-Talkshows, wo die gespielte Erregung zumindest immer wieder zu lustigen Entgleisungen führt und die Leute auf eine interessantere Art uninteressant sind.

„Literatur im Fernsehen.“ Eigenes Thema, das überleben die besten Texte nicht. Ist mir ohnehin noch nie passiert, daß ich im Fernsehen (oder überhaupt: bei einer „Lesung“) einen Text kennengelernt hätte, von dem ich dachte: wow, das ist es, mehr davon.

Die größte Überraschung in diesem Jahr war für mich, daß Thomas Steinfeld so aussieht wie Wolfgang Niedecken. Ich hatte ihn mir eher so vorgestellt wie Klaus Meine.

Mittwoch, 18.06.2003

Weerasethakul

Kinotipp Berlin, Donnerstag, 19.6., Arsenal, 19:00

Reihe Text und Film, Mike Holboom kombiniert Marguerite Duras („La Pute de la côte normande“) und Apichatpong Weerasethakuls „Mysterious Object at Noon“, über den Jonathan Rosenbaum schreibt:

The entire film is a heady mix of fiction and nonfiction, with fantasy and actuality rubbing shoulders at every stage, and what emerges from the collective unconscious of the participants is surprising and fascinating. Weerasethakul packages his findings in diverse and inventive ways: as an improvised outdoor musical performance, as a game played by school children, as a collaborative description in sign by two teenage deaf-mutes. I can’t think of another film remotely like it. (hier)

Weerasethakuls zweiter Film – „Blissfully yours“ – war einer der schönsten des letzten Jahres (mehr dazu, von mir, hier)

Jaal, Guru Dutt, 1952

Jaal, Guru Dutt, Indien 1952

Eine Stunde fehlt mir, am Anfang (Dank an die taz, die das Kleingedruckte im Arsenal-Programm nicht zu lesen versteht) und als ich ins Kino komme, badet Dev Anand in einem kleinen Trog im Freien, bedrängt von zwei Scheichs, von denen nicht klar ist, wie sie da hin kommen, und einem kleinen Mann mit vielen spanischen Namen, der zwischen Hindi und Arabisch übersetzt. Es geht um Gold. Und es geht um Maria, die Frau, die Tony, den Dev Anand spielt, sich kurz darauf mit einem Seil, das er zum Lasso schlingt, auf den Baum zieht, in dem er sitzt. Sie singen. (In Sangam – von 1964 – sitzt Raj Kapoor, neben Guru Dutt der zweite große Schauspieler&Regisseur des klassischen Bollywood, im Baum, mit einem Dudelsack, und singt. Die Frau, die er begehrt, auch eine Dreiecksgeschichte, schwimmt im Fluß.) Hier nun, in Jaal, brandet das Meer an den Strand, Palmen überall, Fischernetze, Jaal heißt Netz. Die Kamera umspielt den Baum, rückt Maria ins Bild, rückt Tony ins Bild und erklärt ohne Worte, dass es um die beiden geht und gehen wird, nach der Vorgeschichte, die ich verpasst habe. Die Vorgeschichte, von der ich naturgemäß nicht weiß, wie ausführlich der Film sie verhandelt hat, bringt das gestohlene Gold ins Spiel, Gier und Lisa, eine andere Frau, die Tony zugrunde gerichtet hat. Tony ist der romantische Held des Films, gespielt von Dev Anand, den Guru Dutts erster Film, Baazi, im Jahr zuvor zum Star gemacht hat. Eine zwielichtige Figur, um das mindeste zu sagen. Zwanzig Jahre später erst wird dieser Heldentypus Amithabh Bachchan, in Deewar oder Sholay, zur Legende machen, Jaal war kein Erfolg beim indischen Publikum. Danach spielte Dutt seine Hauptrollen meist selbst, bis zum Desaster, das Kagaaz Ke Phool war, sein 8 1/2, das schwerblütige Melodram um den auf ganzer Linie gescheiterten Bollywood-Regisseur.

Das Gold, der Mann, die Frau, die ihm verfallen ist, ihr blinder Bruder Carlo, Simon, der Maria liebt mit der Hoffnungslosigkeit der Aufrechten (die Namen wie der Schauplatz bleiben mir ein Rätsel). Große pathetische Szene: der Lockgesang Tonys, die Gitarre in der Hand, der Wind stößt die Tür des Balkons auf, zum Zimmer, in dem Maria widerstehen will und widerstehen will und, natürlich, zuletzt, nicht widerstehen kann. Er singt, sie singt, sie stürmt hinunter, hinaus ins Freie (des Studios, die Palmen an die Wand gemalt), zu ihm, sie küssen sich. Sie will dann zum Meer, eine letzte, verzweifelte Bewegung, Versuch einer Flucht, sie verfängt sich im Netz, das den Titel gibt und hier, in schöner Überdeutlichkeit, für den Sex steht, den sie haben werden, das Verfallensein, das in lieblicher Musik Ausdruck findet und Bilder braucht (einmal filmt Dutt den Beginn einer Einstellung durch ein Fischernetz, kriecht mit der Kamera darunter hervor). Der Knoten, der sich zum Ende hin schürzt: Sie will mit Tony fliehen, übers Meer – an Hemingway muss ich denken, eigentlich schon die ganze Zeit -, der Bruder aber und Simon, mit dem sie verlobt ist, notverlobt, muss man sagen, eilen hinterher, Schüsse von Boot zu Boot, Schüsse an Land und Maria wirft sich dazwischen, hindert Tony, der nun sich entscheidet, fürs Gute, am Töten. Sie wird auf ihn warten. Auf uns wartet, als letzte Einstellung, ein Kreuz auf Uferfelsen, denn dies ist, noch ein Rätsel, ein durch die gesamte katholische Ikonografie gespieltes Melodram. Vielleicht klärt sich manches in der ersten Stunde, die ich nicht gesehen habe. Schöner wäre es, wenn nicht.

Fernseh-Hinweis
„So there would not be another film by Barbara Loden.“
WANDA, von Barbara Loden, USA 1970
Donnerstagnacht, 20.6.03 um 0:45 Uhr, ARD

Mittwoch, 11.06.2003

Was mir gerade einfiel:

Es geht nicht mehr darum, dieses bürgerliche Verbrechertum zu beweisen, sondern unverschämte Behauptungen in die Welt zu setzen.

Herbert Achternbusch, Frankfurter Rundschau, 3.01.1981, S. IV

Sehen und Sterben

oder: Wie viel Überlebenschance hat der Tod?
Zu SOLARIS/Soderbergh und THE HOURS/Daldry

The likeness of the thought is, for some reason, more beautiful, more comprehensible, more available than the thought itself.
Virginia Woolf, The Cinema, 1926

Zu den spontanen Erinnerungen beim Aufrufen des Films SOLARIS von Tarkowski zählt die Gegenwart des Alterns und die Vergegenwärtigung von Ewigkeit mittels stetig fließenden Wassers. Es ist das Wasser eines Flusses nahe dem Elternhaus des Psychologen. Pflanzen schlängeln sich unter der Oberfläche in andauernder Strömung. Ich habe den Film lange nicht gesehen, aber daran erinnere ich mich. Das Altern ist den Darstellern eingeschrieben. Augenringe und Tränensäcke, zuweilen Weniges zuviel der Korpulenz für an amerikanische Schönheitsstandards gewöhnte Augen – alle bezeugen, dass sie ein Leben gelebt haben und dieses auch weiterhin tun. Man kann ihnen sozusagen beim Altern zuschauen und dem Tod bei der Arbeit. Die Ewigkeitsmetaphern können als Rückkehr der Zeitfreiheit eingestuft werden (Axel Holm), die eine Unterscheidung von tot oder lebendig obsolet werden lassen und als Thema das Werk Tarkowskis durchziehen. Was nicht bedeutet, dass der Tod sein Numinoses nicht behielte. Mit Theweleit könnte man vielleicht auch hiesiger auf die Allgegenwart von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in jedem Punkt des Jetzt verweisen, was dieser nicht müde wird zu tun. Die Erzählung hat gerade diesen Aspekt von Zeitfreiheit zum Gegenstand: Die Protagonisten träumen ihre Vergangenheit, die sich mit Hilfe eines intelligenten Planeten soweit konkretisiert, dass ihnen diese Vergangenheit in identischen Wiedergängern einst nahestehender, aber jetzt toter Personen gegenübertritt. In deren Leben und Sterben waren die Träumenden zumal schuldhaft verstrickt. Die Bewegungsrichtung erscheint dabei wichtig: Aus sich heraus schöpfen die Träumenden die Vergangenheitsvorstellung, einzig die Materialisierung besorgt der Planet. Als seien sie zwei Kontrahenten im Kalten Krieg wurde SOLARIS zumeist mit Kubricks 2001-A SPACE ODYSSEE konfrontiert. Hier ist die Bewegungsrichtung eine andere. Alle Ewigkeitsaspekte werden von außen herangetragen, von einer höher entwickelten Intelligenz, die die Dinge richtet. Wie üblicherweise das Böse in amerikanischen Filmen kommt hier auch die Heilsbotschaft von außerhalb. So steht der Verweis auf den inneren Kosmos bei SOLARIS kosmisch-allumfassendem Expansionsdrang bei 2001 entgegen. Der rasante Alterungsprozess der Hauptfigur wird im Kubrick-Film maßgeblich vom Maskenbildner beherrscht. Alles ist mit der entsprechend aufgebrachten Anstrengung – herstellbar. Alter erscheint als Zeichen, dessen Künstlichkeit den spekulativen Charakter der Erzählung unterstreicht, bewusst eingesetzt, um an Natur vielleicht gerade noch zu erinnern. Insofern werden die Anforderungen erfüllt, die Barthes schon Anfang der fünfziger Jahre erhebt: „Das Zeichen sollte sich nur in zwei extremen Formen geben: entweder eindeutig intellektuell, durch seinen Abstand reduziert auf eine Algebra, wie im chinesischen Theater, wo eine Fahne voll und ganz ein Regiment bedeutet; oder tief eingewurzelt, jedes Mal gewissermaßen erfunden, einen inneren geheimen Aspekt liefernd, Signal eines Augenblicks und nicht mehr eines Begriffes …“ Roland Barthes, Die Römer im Film, in: Mythen des Alltags, Frankfurt/M 1981.

In der Soderbergh-Neuverfilmung von SOLARIS und dem Film THE HOURS (Stephen Daldry; deutscher Verleihtitel: Von Ewigkeit zu Ewigkeit) geht es vorgeblich ebenfalls um Aspekte von Zeitfreiheit, Ewigkeit und Tod. Beiden jedoch gelingt dabei die spurlose Abschaffung des Todes, obwohl fortwährend von ihm geredet wird. Das Nicht-Hinterschaubare wird kolonisiert, für unbedeutend erklärt zum einen und damit nichtig, zum anderen als gute Idee suggeriert, die ‚problematischem’ Leben als Lösung zur Verfügung steht, eine Glücks- und Erlösungsstrategie geradezu. Beide wetteifern in dem Bemühen, den Tod um die Ecke zu bringen. Aber der Reihe nach.

„…and death shall have no dominion.“ Um diese Gedichtzeile von Dylan Thomas herum, die in der deutschen Version mit „…und dem Tode bleibt kein Reich mehr.“ übersetzt wird, gruppiert sich die Handlung des Films SOLARIS bei Soderbergh. Obwohl damit eindeutig christliche Konnotationen vorliegen, ist die Erdenwelt gen Himmel mit konstanter Boshaftigkeit leicht eingetrübt. Zu ungefähr 10 % des projizierten Filmbildes ragt von oben ein Magenta-Verlauffilter in die Szene hinein, solange wir uns im Freien befinden. Wie in der Werbung, wo dieses Filter vermehrt Anwendung findet, kündet es von einer unbestimmten aber eher unheilvollen Dramatik. Der Weg nach oben ist versperrt, die Verbindung zum Jenseits, zum Unbewussten, auf Grund einer Kommunikationsstörung unterbrochen. Das Bild wird in eine Dauerspannung versetzt, die wie eine monochromatische Einfärbung mit der Zeit erlahmt. Am Ende sieht man eben doch nur George Clooney auf der Straße. Ähnliche Effekte stellen sich in deutschen Krimiserien wie DERRICK ein, in denen die Lichtkegel im Kommissariat in Permanenz nur bis zur halben Raumhöhe reichen, um Suspense herzustellen, um zu zentrieren. Das Ergebnis aber ist eher ein Eindruck steter Deckelung und Miefigkeit. Ganz nüchtern betrachtet führt dieses technische Verfahren zu einer Aufhebung der Vertikalen im Bild und im Denken. Und es handelt sich um ein Zeichen, dass ostinat Natürlichkeit behauptet, wie ein Chinchillaimitat mit zertifizierter Echtheitsgarantie.

Wie spiele ich, dass ich träume, und wie forme ich aus diesem Spiel ein Bild? Soderbergh setzt in seinem Versuch noch einmal auf die Aura seiner beiden Hauptdarsteller, weiß aber auch, dass sie nicht tragen wird. So wählt er die Nahaufnahme. Von hinten über den Kopf Teile des Gesichtes filmen und die Hautporen dabei zählen können, ermöglicht, dem Innern der Person vermeintlich sehr nahe zu sein. Zweimal wagt er sich daran, emotionale Dramatik in Totalen zu kleiden und beide Male lässt er seinen Schauspieler damit völlig allein und scheitern. Zum einen im Michelangelozitat der ‚Erschaffung Adams’, ein Sterblicher berührt die Hand einer geträumten Konkretion, deren träumender Erzeuger bereits verstorben ist. Godard hat in NOUVELLE VAGUE ein ähnliches Zitat gemeistert, indem er es als solches ausgestellt hat. Zum anderen in dem Augenblick, da sich das Liebespaar gegenseitig als geträumte Konkretion erkennt und nunmehr weiß, dass es ewig ‚leben’ wird. Clooney muss Erstaunen spielen gegenüber seiner Frau, die er tot wähnt, hinter einem Küchentresen hervorkommen und ihr – mittlerweile völlig ungeschützt – mit offenen Armen entgegen treten. Es mag bessere Schauspieler geben; diese Situation allerdings auch noch in Überhöhung ohne Peinlichkeit über die Leinwand zu bringen, wird auch denen nicht leicht fallen.

Im letztgeschilderten Fall offenbart sich zugleich die neue Ausdeutung dieser Solarisversion. Zurück auf der Erde erkennt der Psychologe, dass er nur eine geträumte Version seiner Person ist – geträumt von wem? – und auf die Frage an seine ihm erscheinende Frau, von welcher Natur sie denn sei, erhält er die Antwort, dass das ja nun keine Rolle mehr spiele. Ihr beider Zustand erinnert an das Wesen von Zombies. Doch während Zombies körperliche Konkretionen von Toten sind, denen es gänzlich an Lebensgeist mangelt und die deshalb alles Lebendige verschlingen müssen, einverleiben und verdauen, handelt es sich hier um körperliche Manifestationen voll des Lebensgeistes, sozusagen gar nicht tot zu kriegen. Woran es ihnen aber fehlt, ist jede Art von Todesgeist. Wer den Tod nicht mehr vor Augen hat, dem bleibt nichts mehr, als zu konsumieren, sich Totes einzuverleiben. Turbo-Christentum, gereinigt von Nächstenliebe und Demut gegenüber der Schöpfung, einzig das ewige Leben verheißend, und – auf der anderen Seite – ungebremste Warenproduktion, auf der Suche nach dem perfekten Endverbraucher fündig geworden, gehen in dieser Figur in eins. „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ 1.Kor.;15,55

„The visionary must die!“ – so spricht Virginia Woolf in THE HOURS, nachdem sie sich entschieden hat, Mrs Dalloway in ihrem gleichnamigen Roman nicht durch Selbstmord sterben zu lassen, sondern den Erzähler, der sie selber ist. Der Roman wurde 1925 geschrieben, der tatsächliche Selbstmord Virginia Woolfs datiert auf 1941. Ob die Aussage verbrieft ist, spielt letztlich keine Rolle – es ist der Basissatz, auf dem sich THE HOURS entfaltet. Neben Virginia Woolf stirbt ein weiterer Erzähler zwei Generationen später. Kompromisslose Schriftsteller beide – ihre Werke werden im Verlauf der Handlung immer wieder als schwierig eingestuft – wissen sie, wann es Zeit ist, ihrer Freiheit durch Selbsttötung Ausdruck zu verleihen. Wobei sich der zweite Erzähler, der im zeitgenössischen New York lebt und stirbt, als Opfer seiner Mutter herausstellt, die nach der Lektüre von MRS DALLOWAY ebenfalls Hand an sich legen will, später jedoch davon absieht. Sie weicht dem Problem ihres Lebens aus, verlässt ihre Familie ohne Angabe von Gründen und vererbt ihrem Sohn die Todessehnsucht, der sie sich als einfache Leserin entziehen konnte. Diesem als Schöpfendem, dem Tode Näherem, wird sie schließlich zum Verhängnis. Gewinner bleiben die erfolgreichen Verdränger, die sich einzurichten wissen.

Eine sich wiederholende Bildmetapher muss etwas zu bedeuten haben. In allen drei Episoden des Films spielt die Zubereitung von Essen eine gewichtige Rolle. Im Mittelteil, der von der unglücklichen Leserin des Romans MRS DALLOWAY handelt, dient dies einzig dazu, die Unfähigkeit der Köchin vorzuführen. In der Küche wirkt sie deplaziert, Unglück allerorten. Die ummantelnden Geschichten dagegen weisen jeweils Frauen aus, für die Kochen sowohl Arbeit als auch Leidenschaft ist. Da ist zum einen die Köchin von Virginia Woolf, zum anderen die gute Freundin des Schriftstellers im heutigen New York, dargestellt von Meryl Streep. Während die Küchenangestellte von Frau Woolf Lambs Pie zubereitet, kreiert Meryl Streep Pasteten und Salate für eine bevorstehende Party. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei Dingen gewidmet, die den Köchinnen durch die Hände gleiten. Das sind in Virginia Woolfs Küche die Nierchen und Innereien des Lamms, bei Meryl Streep Eidotter, während der Extraktion vom Eiweiß. Beide Frauen sind gleichzeitig im Verlauf dieser Arbeit in Gespräche eingebunden, die sie innerlich aufrühren. Nahaufnahme: Etwas flutscht durch die Finger – glitschig, fassungslos, Verzweiflung, Wut, Hilflosigkeit. – Es gibt in England ein Sprichwort: Don’t cry over spilt milk! Dieses Sprichwort kommt im Film nicht vor.

Wie alle anderen Künste auch scheint die Kinematografie nicht in der Lage zu sein, das Wesen von Schaffensprozessen eins zu eins darzustellen, es sei denn, sie findet dafür eine gattungsspezifische Form; die bloße Abbildung allerdings tut gar nichts dazu. Legionen von filmischen Maler-, Musiker- und Schriftstellerbiografien lassen den Zuschauer, was diesen Punkt betrifft, hilflos und peinlich berührt zurück, indem sie sich in eine Kombination aus Genie- und Wahnsinnsdarstellung flüchten. Das betrifft aber nicht nur den künstlerischen Schaffensprozess, sondern alle Nahtstellen zum Tod, zum kleinen Tod, dem Schlaf, und zum Unbewussten, wie da wären: Sterben, Einschlafen, Erwachen, Schlafen, Mit-Jemand-Anderem-Schlafen, alle Formen des Geschlechtsverkehrs, etc.. Sie bleiben heikel in der Repräsentation. In Situationen, in denen wir so etwas wie der Schöpfung am nächsten sind, versagt die einfache Darstellung. Über Gott zu sprechen ist anmaßend – wo ist da der eigene Standpunkt zu verorten – man kann nur von ihm sprechen. (Silverman/Farocki nannten ihr Godard-Buch deshalb: VON GODARD SPRECHEN; dieser Hinweis erscheint hier trotz der zwangsläufigen Pointe.)

Der Film THE HOURS zeigt sich gegenüber den obigen Überlegungen als naiv. Er lässt Virginia Woolf schaffen. Das ist um so bedauerlicher, als THE HOURS von einer Schriftstellerin handeln möchte, die mich durch ihre erhellenden Ausführungen zum Wesen des Kekses nachhaltig beeindruckt hat. In EIN ZIMMER FÜR SICH ALLEIN – oder war es in DREI GUINEEN – beschreibt sie dieses Gebäck, das als Nachtisch zu einer Mensamahlzeit in einer oxforder Universität gereicht wird, ungefähr wie folgt: Es liegt im Wesen von Keksen trocken zu sein – und diese hier waren Kekse durch und durch. Nicole Kidmans durchgehend trotzig-pubertäre Woolfdarstellung lässt von dieserart anarchischem Humor nichts spüren. Die Schriftstellerin im Film erscheint einseitig instrumentalisiert in einer Art Zum-Tode-Sein. Selbst zur Romanfigur geworden unterliegt ihre Darstellung einer plumpen Zeichenhaftigkeit, vor deren die Kinematografie unterschätzenden Gefahren Woolf selbst bereits 1926 gewarnt hat. „ … the picture-makers seem dissatisfied with such obvious sources of interest as the passage of time and the suggestiveness of reality. … They want to be improving, altering, making an art of their own – naturally, for so much seems to be within their scope. So many arts seemed to stand by ready to offer their help. For example, there was literature. … The cinema fell upon its prey with immense rapacity, and to this moment largely subsists upon the body of its unfortunate victim. But the results are disastrous to both.“ Was ihr als zu entwickelndes filmisches Mittel vorschwebt, ist ein Verfahren der visuellen Einkreisung des Gedankens, ohne ihn aussprechen zu müssen – ein Verfahren, das sie in DAS KABINETT DES DR CALIGARI entdeckt zu haben meint und dessen sich eröffnender Reichtum Grundlage der neuen Kunst bilden wird. „The exactitude of reality and its surprising power of suggestion are to be had for the asking.“ Bemerkenswert daran scheint mir, dass die Schwatzhaftigkeit des Mediums schon beanstandet wird, bevor es sich überhaupt verbal äußern kann. Der Film THE HOURS, in dem sie als Person zitiert wird, ist in diesem Sinne betont schwatzhaft und unerwachsen. Überall okkupieren eindeutige Zeichen, die als Natur daherkommen, die gemeinte Wirklichkeit, erwürgen sie. Dass es den Tod tatsächlich geben könnte und was das bedeutet, dieser Gedanke kommt dem Film nicht, und er nähert sich ihm auch nicht an – was um so erstaunlicher ist, als es sich um sein eigentliches Thema handelt. Muss aber nicht von jeder Kunst als Grundvoraussetzung gefordert werden, des Todes angesichtig zu sein? Oder geht der Anspruch des Kinogehers vor: Egal wovon mir der Film erzählt, er erzählt mir, dass ich unsterblich bin?

„For a strange thing has happened – while all the other arts were born naked, this, the youngest, has been born fully clothed. It can say everything before it has anything to say. It is as if the savage tribe, instead of finding two bars of iron to play with, had found, scattering the seashore, fiddles, flutes, saxophones, trumpets, grand pianos by Erard and Bechstein, and had begun with incredible energy, but without knowing a note of music, to hammer and thump upon them all at the same time.“ Virginia Woolf, 1926

Die Reorganisationsversuche dauern an.

Anhang:
Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten, das, was die Kraft erfordert. Die kraftlose Schönheit hasst den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.

G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes
gefunden bei:
Roman Lesmeister: Der zerrissene Gott, Zürich 1992
Kritik zu dem Hegelwort findet sich bei:
Karl Heinz Bohrer: Ekstasen der Zeit, München 2003


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