Januar 2005

Montag, 31.01.2005

Viel zu spät aber immer wieder

Meine 17 Kinoinseln 2004 (ohne Hierarchie):

DIES IRAE – Carl Theodor Dreyer; MYSTIC RIVER – Clint Eastwood; THE FUGITIVE – John Ford; THE SUN SHINES BRIGHT – John Ford; WAGONMASTER – John Ford; EIN BESUCH IM LOUVRE – Straub/Huillet; LAND DER VERNICHTUNG – Romuald Karmakar; BIG BUSINESS – Leo McCarey; WHAT TIME IS IT THERE? – Tsai Ming-Liang; SOBIBOR – Claude Lanzmann; ELEPHANT – Gus Van Sant; ALBUM – Matthias Müller; JARMARK EUROPA – Minze Tummescheit; HAT WOLF VON AMERONGEN KONKURSDELIKTE BEGANGEN? – Gerhard Friedl; DOWN WITH LOVE – Peyton Reed; NICHT OHNE RISIKO – Harun Farocki; 21 GRAMS – Alejandro Inarritu.

MICHAEL GIRKE

Freitag, 28.01.2005

Tropical Malady (100 Worte)

„Der Tiger folgt dir wie ein Schatten“, sagt der Affe auf dem Baum zu Keng. Dabei ist es der Film selbst, der mit seiner Schattenwelt uns schließlich gefangen nimmt. Bild und Tonspur erzeugen eine körperliche Präsenz und sinnliche Emphase, bei der im Dickicht der Erzählung thailändische Fabel, schamanistische Mythologie, moderne Metropole und die Liebesgeschichte zwischen dem Soldaten Keng und dem jüngeren Tong als Orte und Motive der Handlung aufeinandertreffen. Der originale Titel des Films (Sud Pralad) legt die Vermutung nahe, dass dieses hybride Monster den Blick des Zuschauers aufsaugt, um ihn als Jäger nach dem Rätsel der Bilder wieder auszuspeien.

Tropical Malady (Sud Pralad)
Thailand/F/D/I 2004
Regie: Apichatpong Weerasethakul

Samstag, 22.01.2005

Milchwald (Christoph Hochhäusler) D 2003

So riesig, übermannshoch, daß es, beim Radlabsperren, mim Kopf nach unten, also mit kopfstehenden Buchstaben, in fremder Sprache, sich reindrückt, das Plakat im Kinofoyer: „Les Bois Lacté“ – den Euro-Markt im Visier.

Eine Reminiszenz an Dylan Thomas‘ „Unterm Milchwald“ sei es nicht, sagt Christoph Hochhäusler.
Der Titel macht die Vorgabe, es handele sich um Sowaswiengedicht.

Milchwald – Weißwasser, immerhin scheut sich Hochhäusler nicht vor geographischer Bestimmtheit; eine Landkarte spielt mit, auf der dieser Ort verzeichnet ist. Der große Anspruch des Überall, die allgemeine Gültigkeit, also nicht.

Daß die Pampa unserer Breitengrade ein prima Gelände für eine Erzählweise abgibt, die eher Bericht ist als dramaturgisches Quetschwerk, indem sie sich zunächst von selbst der Übertreibung entzieht, war schon in Petzolds „Wolfsburg“ zu sehen.

Hochhäusler ist nah an die Grenze gegangen, Deutschland-Polen. Da fliegen die Pollen bollenweise, von der Windmaschine übers Feld getrieben der Stiefmutter um die Ohren, als sie vergebens nach den Kindern ruft, die sie zuvor wütend aus dem Auto warf.

Die Straße, über die sie in der ersten Einstellung gefahren kommt, hat Wellenform, ein ungewöhnliches Auf und Ab, auf das die Kamera mithilfe langer Fingerzeigbrennweite angeberisch hinweist. Der Schwenk mit dem Fahrzeug kurz darauf endet unvermeidlich mit dem Blick in die Hochspannungsleitungsraumtiefe.

Dann aber wieder das herrlich trübe Haus mit aufgeklebten Fensterkreuzen, gefliesten Fluren, Zimmern aus gipsverspachtelten Trockenbauwänden, in dem gevögelt und die Vermißtengeschichte durchlitten wird.

Gerne steigt man gelegentlich, wie Wim, aufs Hoteldach und nimmt die Leuchtschrift von hinten.

Das rotzige Mosern der Kinder, die strichmündige Betrübtheit der Stiefmutter, die dem Mann und sorgenvollen Vater nicht verrät, daß sie selbst die Bälger ausetzte und ihr von Filmen abgegucktes Leidenschaftsspiel im Sexgebiet – das von Hochhäusler ungebremste oder herausgeforderte Overacting wird in seiner Übertriebenheit spätestens erkennbar, wenn es sich messen muß mit dem Mittelmaß an Erregbarkeit von Miroslaw Baka, bekannt aus z.B. Kliers „Überall ist es besser, wo wir nicht sind“ und Kieslowskis “ … Töten“ – eine ihm aus der Erinnerung zugewiesene Rolle, die mich kindisch auf eine sich entpuppende Grausamkeit warten läßt. Hochhäusler sagt, daß – in seinem Film – dieser reisende Auffüller von Seifenspendern ein freies Leben führe. Vielleicht muß er deshalb Kuba heißen.

Weil es wirklich sehr gut gemeint ist, gibt es Musik nicht aus der Konserve und auch nicht vom Synthi, sondern eigens komponiert und eingespielt, mit Pauken und später auch Trompeten – nicht jedoch kitschig symphonisch, sondern kitschig angeschrägt, daß der Wald auch recht unheimlich märchelt.

Mir schien, als habe sich bei diesem „Kunstfilm“(M.H. in taz, 11.11.2004) der eine Hochhäusler nicht gegen den anderen durchsetzen können. Der Vorsatz zur Schlichtheit war im Ringen mit dem Marketingspekulanten nicht durchzuhalten.

Nun glaube ich zu wissen, warum im Veranstaltungsprogramm stand: Wir freuen uns auf den nächsten Hochhäusler-Film.

Freitag, 14.01.2005

Return to the Real

„The evidence of cinema is that of the existence of a look trough which a world can give back to itself its own real and truth of its enigma (which is admittedly not its solution), a world moving of its own motion, without heaven or a wrapping, without fixed moorings or suspension, a world shaken, trembling, as the wind blows it. That is how Kiarostami’s cinema is a metaphysical mediation (to play on Descartes ’s title). But this does not mean a cinema treating of metaphysical themes (for example, in the sense that Ingmar Bergman’s „Seventh Seal“ does); it means cinematic metaphysics, cinema as the place of mediation, as its body and its realm, as the taking-place of a relation to the sense of the world.

[…]

The capturing of images in a film […] captures nothing if it is not to let free again. The framing, the light, the length of a take, the camera’s movement contribute to free a motion, which is that of a presence in the process of making itself present. The film’s ‚maker‘ makes nothing other than a making-real and a realization of the real: of the real that a respectful gaze makes possible.“

(aus: Jean-Luc Nancy „L’Évidence du film. Abbas Kiarostami“. Brüssel: Yves Gevaert, S.44, 38)

Montag, 10.01.2005

My Camp is my Bollwerk

Manchmal schließen sich Kreise, von denen ich gar nicht mehr wußte, daß sie offen sind: In einem Mail lese ich, daß im Februar ein Film von Uwe Boll startet, mit dem Titel ALONE IN THE DARK und mit Christian Slater in der Hauptrolle. Ein kanadischer Zombiefilm von einem deutschen Regisseur. Ich bin mir ziemlich sicher, daß es sich dabei um denselben Mann handelt, mit dem ich 1994 beim Festival in Saarbrücken ein wenig abgehangen bin. Ich war damals ein bloody greenhorn in der Filmwelt, und war einigermaßen unvorbereitet auf einen deutschen Slasherfilm, der mit der Musik von Richard Strauß operiert und mit Benny Beimer aus der Lindenstraße – den richtigen Namen dieses Schauspielers habe ich mir ebensowenig gemerkt wie den Titel des Films von Uwe Boll. Ich habe Saarbrücken damals nicht sonderlich gemocht, die Stadt wie das Festival, und Boll war auch irgendwie ein Außenseiter. Jetzt dreht er mit Christian Slater, weil die Wege des Investitionskapitals im Horrorkino so verschlungen sind wie die beruflichen Loyalitäten von Günter Netzer. In Wien, wo wir gestern noch waren, haben wir in drei Tagen drei Lubitsch-Filme gesehen, die nicht aus Zucker waren. Der unbekannteste war der schärfste: CLUNY BROWN aus dem Jahr 1946 handelt von der britischen Klassengesellschaft, die 1938 so unvorbereitet auf Adolf Hitler und den Blitzkrieg ist, daß sie den Führer für einen Pfadfinder halten kann: My Camp, so war doch der Titel von dessen Hauptwerk, is it not? In diese Gegengesellschaft zum Michael-Powell-Enlightenment kommt ein tschechischer Schriftsteller, den Charles Boyer spielt. Er wird von aufgescheuchten, ahnungslosen Antifaschisten für einen höchst gefährdeten Nazi-Gegner gehalten, und sofort auf ein Landgut verfrachtet, wo er auf Cluny Brown (Jennifer Jones) trifft, die dort als Dienstmädchen arbeitet, lieber aber Klempnerin wäre. Sie fällt mehrmals großartig aus der Rolle, wenn es etwas zu hämmern gibt. Die Vorstellung im Österreichischen Filmmuseum war ausverkauft – es war mein erster Film in diesem Jahr.

Samstag, 01.01.2005

The Clearing (Pieter Jan Brugge) USA 2004

In den ersten Szenen erinnerte mich Helen Mirren an Romy Schneider in Les Innocents aux mains sales, Chabrol, 1975. Die nouveau riches sind alt geworden, aber immer noch schöne Menschen. Minimal irritierte Gesten verraten die sorgfältig kaschierten Zumutungen performativer Bürgerlichkeit. Noblesse oblige. Jeder Auftritt wird als öffentlicher begriffen, gerade im privaten Raum, gerade wenn der erreichte Status kein tradierter ist. Nicht für die ‚Fassade‘ dieses Lebensstils interessiert sich Brugge, der erstaunlicherweise auch Heat produziert hat, sondern wie dieser körperlich gefüllt wird.
Upper-class-Biographien als Geschichten der Einübung in kontrollierte, gemessene Bewegungen. Throwing Like a Girl, würde man in den Gender-Studies dazu sagen. Die Klassendifferenz zwischen Redford und Dafoe, die ich beide lange nicht mehr so zurückgenommen und präzise gesehen habe, zeigt sich allein schon darin, wie ersterer Manschettenknöpfe zu bedienen gewöhnt ist.
Auch erzählökonomisch ist der Film von seltener Klarheit; eine eigentlich simple dramaturgische Entscheidung – die Unterwanderung der impliziten Gleichzeitigkeitsbehauptung ‚parallel‘ montierter Handlungsstränge – wendet den Thriller schleichend aber transparent ins Melodramatische. Der entstehende Riss bilanziert vor allem ein denkbar nüchternes Liebesmodell. Die gelassene Aufrichtigkeit, mit der Redford seiner abwesenden Frau eine finale Liebeserklärung macht, ähnelt jenem Tonfall, in dem Maggie Cheung in Clean gegenüber ihrem kleinen Sohn genossene Drogenexzesse erklärt, nicht rechtfertigt.
Blicke in den Himmel; Mirrens gefasster Abschied von Redford. Mit kalkuliertem Understatement, wie zuletzt Nicole Kidman in der erbaulichen Wagner-Szene bei Glazer, liefert sie ihr Gesicht indiskreten Großaufnahmen aus.
Die tausendmal ideologiekritisch zerlegte und doch immer wieder stupende faciale Souveränität der Hollywood-Stars, die genau hier ihren Mehrwert erzeugen.
Im Wald ist Redfords Körper ein letztes Mal Träger der Distinktionspolitik des Arrivierten; am Ende wird er nicht zuletzt als sozialer ausgelöscht. Material Ghost: erst sie für ihn, dann er für sie. Mit Patrick Swayze und Demi Moore hat das allerdings wenig zu tun. Fast möchte ich sagen: 20 +1 toller Film 2004; ein Schauspielerfilm.


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