Montag, 07.01.2008

Das Leben selbst

„Mit einer von Ironie erfüllten Bewunderung erzählte Stéphane Mallarmé, er habe in einer Londoner Music Hall eine Vorstellung gesehen, die jeden Abend massenhaft Menschen anzog: Die Direktion begnügte sich damit, gegen eine angemessene Vergütung ein Ehepaar auf die Bühne zu bringen, das seinen Abend vor einem Publikum genau so verbrachte, als säße es zu Hause. Man trank Tee, plauderte darüber, was man tagsüber gemacht hatte, besprach Haushaltsfragen, man verbreitete sich vielleicht noch über die Zeitungslektüre: es war das Leben selbst. Und am Ende gingen alle ganz zufrieden zum Schlafen nach Hause. Warum nicht? Ich bin ganz sicher, daß ein Film, dessen Drehbuch sich auf das beschränkte, was die farbloseste gewöhnliche Person der Welt an einem ganz ähnlichen Tag erlebt, und in dem diese Person ganz einfach so gezeigt würde, wie sie den Tag verbringt, durchaus Anklang finden könnte.“

[Paul Valéry: „Meine Theater“ [1942], in: Ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe, Band 2: Dialoge und Theater, hg. von Karl Alfred Blüher, Frankfurt/Main: Insel 1990, S. 434-439: 434f.]

5 Kommentare zu “Das Leben selbst”

  1. David Weber schreibt:

    zu Hause — in Potsdam?

    Zwei Fragen: welcher Art ist die Ironie, die Mallarmés (nicht Tschechows, nicht Bressons, nicht––) Bewunderung erfüllt?
    Warum auf der Bühne (im Gaslicht?, unter den Lüstern des Saales?) — welcher Glanz umspielt dort noch die farbloseste gewöhnliche Person?

    Valéry in Ich sagte manchmal zu Stéphane Mallarmé …: „Infolgdessen wurde die Syntax, die Kalkül ist, wieder in den Rang einer Muse erhoben.“

    Das Leben: saving word? selbst??

    „man müßte sich … irgendeinen unpersönlichen oder fulminanten absoluten Blick denken, etwas wie das Scheinwerferlicht, das seit einigen Jahren die Tänzerin des Eden einhüllt, eine elektrische Grelle mit über-irdischfleischlicher Schminkweiße verschmelzend, und aus ihr in der Tat das allem möglichen Leben entrückte Wunderwesen macht.“ (St. Mallarmé, Im Theater gekritzelt)

  2. Volker Pantenburg schreibt:

    Zu Frage 1: Ich denke, es handelt sich um die herablassende Variante. Zu Frage 2: Genau: Weil es eine Bühne ist. Ob das was mit Lüstern und Gaslicht zu tun hat, weiß ich nicht. Ist ja eine Music Hall, von der die Rede ist.

    Das mit dem S/M-Kursivierungsdings verstehe ich nicht.

  3. David Weber schreibt:

    Ich würde ja gern glauben wollen (kann das aber nicht belegen), dass Mallarmé sich über die vermeintliche Kunstlosigkeit oder Unmittelbarkeit der Darstellung alteriert — als ob eben das „Leben selbst“ auf die Bühne zu bringen wäre (dort statt hätte — oder nur seine Stätte?). Aber eben auch bewundernd, weil, vielleicht, im Ausstreichen der einen Differenz eine andere, ja, augenfälliger?, ’symbolischer‘ würde? Eine „Idee“ vom Leben? Was wäre ein Leben im Gaslicht?

    Meine Fragen waren ja, selbstredend, polemisch gemeint: weil ich einmal unterstellte (auch wieder ohne guten Grund), dass die Stelle mit Blick auf gewisse gegenwärtige ‚Realismen‘ aufgefallen war — oder eben gewisse zeitgenössische ‚Leben‘, z.B. in Potsdam, zumindest im Umland.

    Und dann wollte ich Bedenken anmelden, inwieweit man legitimerweise einen ‚Ultra-Rationalisten‘ wie Valéry oder einen ‚Idealisten‘ wie Mallarmé zu Gewährsleuten des „Lebens selbst“ machen kann: da es beiden z.B. doch so sehr viel mehr um ‚Kalkül‘ und ‚Syntax‘ als etwa um ‚Intuition‘ und ‚Aussage‘ zu tun ist.
    Dennoch glaube ich, dass die Frage nach „dem Leben selbst“ (auf der Bühne/im Text/im Film) in den (relativ) zeitgenössischen Künsten von einer auf eigentümliche Weise nicht stillzustellenden Virulenz ist — etwa insofern man oft Konstellationen beobachtet, wo schwer zu unterscheiden ist (oder sein soll; es geht eben in diesen Fällen dann immer auch um Evidenz, Naivität, Konstruktion, etc.), ob die Direktheit (bzw. ihr Effekt) mit maximalem oder mit minimalem Aufwand: unter Anspannung der Kunstmittel, oder durch ihr Weglassen erreicht worden ist. (Nur der zweite Fall wäre wohl im eigentlichen oder klassischen Sinne als „realistisch“ zu bezeichnen.) Z.B.: James Benning, Jeff Wall.

    „Logisch“ betrachtet, könnte man die Frage als eine nach dem Status von Tautologie bzw. Identität formulieren: das Leben als das Leben? Der Stein als der Stein. Eine bemerkenswerte Zuspitzung dieses Zusammenhangs findet sich in Hubert Fichtes Diskussion von Genet’s ästhetischem Imperativ „einen Stein in die Form des Steines meisseln“ — konsequenterweise im Roman „Forschungsbericht“, der zugleich den Genrewechsel vom „Roman“ zum Forschungsbericht markiert: „Einen Prozeß in der Natur erleben, den man nur herauszulösen braucht, und er ist Kunst.“

    Mallarmés ironische Bewunderung bestünde dann vielleicht darin, noch in der schieren Identität das Symbolische zu ahnen, zu entdecken, zu — lesen.

    Apropos Valéry’s S/M-Kursivierung: mit Blick auf Mallarmé’s Initialen?

  4. Volker Pantenburg schreibt:

    Dann sind es offenbar zwei vollständig unterschiedliche Zusammenhänge, auf die wir das Zitat beziehen. Weder an NACHMITTAG noch an Agamben hab ich gedacht, als ich die Stelle abtippte. Eher an SLEEP oder Teile von CHELSEA GIRLS.

    Mein Impuls war gegenüber Deinen Überlegungen ein ganz schlichter: Derjenige, der den am Schluss vorgestellten Film gern sehen würde (und immer wieder gern sieht), der wäre dann wohl ich. Mir schien es auch — ganz unabhängig davon, wie Mallarmé oder Valéry das bewerten — relativ früh, sich diese Form von Realerzählung 1942 in Frankreich als einen möglichen und interessanten Film vorzustellen. (Unbenommen der faktografischen Entwürfe von Sklovskij, Vertov und anderen in den 20ern; da war das potentiell Tautologische der Wirklichkeitsabbildung aber ja von vornherein als montiert, gebrochen und gestaltet/gestaltend gedacht. Komisch übrigens, dass diese Dinge so oft an Steinen exemplifiziert werden: „So kommt das Leben abhanden und verwandelt sich in nichts. Die Automatisierung frißt die Dinge, die Kleidung, die Möbel, die Frau und den Schrecken des Krieges. ‚Wenn das ganze komplizierte Leben bei vielen unbewußt verläuft, dann hat es dieses Leben gleichsam nicht gegeben.‘ Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt.“ — Sklovskij in Die Kunst als Verfahren —. Bei Sklovskij wäre man aber an einem der möglichen Startpunkte diverser Differenztheorien der Künste, bei der Abweichung, beim Gestellten, bei der Konstruktion, bei dem, was Du „Anspannung der Kunstmittel“ nennst. Wenn beide Modelle, von mir aus: die Maximalisten und die Minimalisten, auf das Leben — nicht vitalistisch, nicht agambenhaft — hinauswollen, finde ich das symphatisch, richtig und — in dieser Allgemeinheit formuliert — beinahe unausweichlich.)

    Dass S/M die Initialen von Mallarmé sind, blieb mir nicht verborgen. Die Kursivierung schien mir nur noch irgendwas anderes zuraunen zu wollen. Aber wenn es nicht raunt, ist es manchmal auch angenehm.

  5. knoerer schreibt:

    Wie schon Gertrude Rose sagte: „A stone is a stone is a stone“.

Schreiben Sie einen Kommentar

Sie müssen angemeldet sein, um zu kommentieren. Ein neues Benutzerkonto erhalten Sie von uns, bitte dazu eine Email mit gewünschtem Username an redaktion(at)newfilmkritik.de.


atasehir escort atasehir escort kadikoy escort kartal escort bostanci escort