Sonntag, 10.02.2008

Der Ätna, vom Kinematographen her betrachtet

Ein Mann sitzt in einem hell getäfelten Büro, tippt Verschiedenes in seinen Rechner, überlegt ein paar Mal kurz, macht dann einen Strich unter einige Zahlen und schreibt „2 Milliarden“ darunter. Die Zahl wandert durch ein paar Gremien, wird in einem Meeting abgesegnet und landet schließlich auf den spülungslosen Pissoirs zwischen CinemaxX 5 und CinemaxX 7. Sie drückt nun aus, dass auf diese Weise jährlich 2 Milliarden Liter Wasser gespart werden. Möglicherweise soll diese Zahl aber auch einfach nur „sehr viel“ heißen und es hat nie einen Mann in einem hell getäfelten Büro gegeben. ### Die Woche des deutschen Films ging zu Ende. Sie hatte begonnen mit der fast ganzseitigen Anzeige, die Constantin-Film auf der ersten Seite des SZ-Feuilletons geschaltet hatte. „Die Gesichter des Baader-Meinhof Komplexes“, darunter etliche Vergleichsfotos: links das historische Vorbild, rechts das ausstaffierte, nach der Vorlage zurechtgemachte Schauspielgesicht. Tobias Kniebe und Andrian Kreye hatten in einer gemeinsamen Recherche herausgefunden, dass es Eichinger und Edel bei der Auswahl der Schauspieler um Detailgenauigkeit gegangen sei. Die Geschichte der RAF ist, konnte man lesen, das einzige noch nicht gelöste „Kapitel“ der deutschen Geschichte. Austs Buch wiederum dürfe als der einzige „unumstrittene“ Beitrag zum Thema gelten. ### Am gleichen Tag kam die Einladung zur Akademie-Veranstaltung, auf der Senta Berger und andere über die fehlende Leidenschaft im Deutschen Kino reden würden. In der Einladung war von einer „rücksichtslosen Revolte gegen die Mittelmäßigkeit“ die Rede. ### Bei der Berlinale-Eröffnung sagte Dieter Kosslick immer wieder, die Witze wären selbst geschrieben. Man wusste aber nicht, von welchen Witzen er sprach. ### Idee für einen Text nach dem Muster von Serge Daneys Aufsatz über das Travelling in Gillo Pontecorvos KAPO. Es würde in diesem Text nur um eine einzige Kranfahrt gehen, nämlich jene, die auf die Fassade des Delphi-Kinos hinführt, an der AUGE IN AUGE. EINE GESCHICHTE DES DEUTSCHEN FILMS angeschlagen ist. ### Bei Doillons LE PREMIER VENU musste ich nicht an LE PETIT CRIMINEL denken. Dabei ist es derselbe Schauspieler, der die Hauptrolle spielt, aber 17 Jahre später erkennt man ihn kaum wieder. Mir kam stattdessen TEOREMA in den Sinn: Jemand kommt von irgendwoher und wirbelt die Beziehungen auf eine sehr unklare Weise durcheinander. Über diesen Jemand erfahren wir nichts, und trotz der Signale sozialer Erdung, die der Film aussendet, hängt die Konstellation unbestimmt in der Luft wie die Fäden, die spielende Kinder zwischen ihren Fingern aufspannen und durch geschickte Drehungen der Hände in neue Muster verwandeln. Mal ist das angenehm, dann wieder wünscht man sich etwas, von dem man nicht weiß, was es ist. ### In MY BROTHER’S WEDDING kann ein Mann seine Kleidung nicht aus der Reinigung abholen, weil er vergessen hat, unter welchem Namen er sie abgegeben hat. Er nennt verschiedene Namen, aber keiner davon ist in der Auftragskladde zu finden. Die resolute Besitzerin der Reinigung sagt ihm ins Gesicht, man müsse doch wohl Dreck am Stecken haben, wenn man sich unterschiedliche Namen zulege. Aber kurz darauf, als er fahrig und verloren zwischen den zellophanverpackten Hosen und Jacken nach seiner Kleidung sucht, denkt man, dass er vielleicht auch einfach nur zerstreut ist. ### Ebenfalls in MY BROTHER’S WEDDING: Die Szene, in der sich Pierce nach dem Eklat, den er beim Abendessen der zukünftigen Schwiegerfamilie seines Bruders herbeigeführt hat, beim mexikanischen Dienstmädchen bedankt und dann schweigend am Hausherren vorbei zur Haustür geht. ### Was sind das für Bahnstrecken, an denen die Flüchtlinge zwischen El Salvador, Honduras, Guatemala, Mexiko auf vorbeifahrende Güterzüge warten, auf die sie aufspringen können? Wenn die Waggons mit viel Ächzen und Ruckeln hinten langsam aus dem Bild verschwinden, sind hinter ihnen keine Schienen zu erkennen; das Gras und Gestrüpp schließt sich zu einer grünen Fläche, und es sieht aus, als schwebe der Zug durch die Landschaft. Der Regisseur sagt nach dem Film (LA FRONTERA INFINITA), das seien normale, wenn auch wenig und sehr unregelmäßig befahrene Strecken. Scheinbar ohne Schienen durch die Landschaft gleitend wirken die Eisenbahnen jedoch wie Geisterzüge; als wären die Menschen nicht nur aus ihren Ländern geflohen, sondern auch aus der Zeit gefallen. ### Die Italiener in Rosis I MAGLIARI verdienen ihr Geld damit, den Leuten Teppiche und Stoffe zu verkaufen, die sie nicht benötigen. Der Film spielt in Hannover, wo 1959 erstaunlich viele Kutschen auf den Straßen unterwegs sind, und in Hamburg. Bei Ihren Verkaufsgesprächen benutzen die Verkäufer ein radebrechendes, weitgehend unverständliches Gemenge aus harten teutonischen Brocken. Ab und an ragt daraus ein „Bitteschön“ oder ein „Fräulein“ heraus. Vielleicht könnte man alle Beiträge über die Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart des „deutschen Kinos“ von nun an in dieser Sprache verfassen.

2 Kommentare zu “Der Ätna, vom Kinematographen her betrachtet”

  1. Stefan Ripplinger schreibt:

    Zur zweiten Notiz siehe auch diesen Blogeintrag, in dem ein Dummer einem noch Dümmeren begegnet: http://taz.de/blogs/lottmann/2008/02/10/berlinale/

  2. Michael Althen schreibt:

    Lieber Volker Pantenburg,
    Bei der Kranfahrt für den Vorspann von „Auge in Auge“ an die Zufahrt auf die tote KZ-Insassin im Stacheldraht zu denken, finde ich als Reflex ja etwas befremdlich, aber den Text würde ich gerne lesen – vor allem, weil er bei Serge Daney in eine Erinnerung an seine Sozialisation als Cinephiler mündet. Ich ahne schon, was Sie mit dem Vergleich meinen wollen – da lassen der Verweis bei Daney auf Rivette und Godard ja wenig Zweifel-, und schicke Ihnen deshalb in Vorfreude auf Ihren Text trotzdem meinen Lieblingssatz zum Thema, auch wenn Sie ihn vermutlich schon kennen. Harun Farocki schrieb in der „Filmkritik“ über die Kamerafahrten in „Diva“: “So muss es zugehen, wenn der Hofbegatter und seine vier Eunuchen den Schwanz des Königs in die Königin führen, um den Erbprinzen zu zeugen.”
    Herzlichen Gruß, Michael Althen

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