Von heute abend bis übermorgen werden in Lyon unter dem Titel De la télévision au cinéma die drei Kinofilme Philippe Grandrieux‘ sowie einige seiner Fernseharbeiten aus den 80er Jahren gezeigt. Zusammengestellt wurde das Programm von Raymond Bellour, der die Filme dort auch vorstellt und gemeinsam mit Grandrieux kommentiert. Auch die Serie LIVE, 14 einstündige Sequenzeinstellungen, die Grandrieux für den Sender LA SEPT konzipierte und bei Filmemachern und Künstlern in Auftrag gab, wird dort vollständig zu sehen sein. In der aktuellen CARGO-Ausgabe schreibe ich über die TV-Vergangenheit Grandrieux‘, vor allem über LIVE und die Entwicklung von Fernsehformaten am Institut National de l’Audiovisuel (INA); hübscher Zufall, dass ein Teil der Sachen quasi zum Erscheinungstermin des Hefts – wenn auch weit weg – zu sehen ist.
Ergänzend zu diesem Text hier ein längeres Zitat von Grandrieux aus dem Jahr 1983. Die Ausbildung in Brüssel macht auch seine Sonderstellung in der französischen Filmlandschaft verständlich, wo die Neigung zur Fetischisierung der Mise-en-scène dem Experimentalfilm traditionell wenig Aufmerksamkeit schenkte.
»Ich hatte immer das Verlangen, Bilder herzustellen. Die einzige Möglichkeit, dieser Lust eine Form zu geben, war das Studium – deshalb habe ich Kurse am INSAS (Institut National Supérieur des Arts du spectacle) in Brüssel belegt. Diese Hochschule stellte den Studenten zahlreiche technische Geräte zur Verfügung und besaß schon früh ein Videostudio. Das erlaubte es mir, über das Bild auf eine Weise nachzudenken, die nicht notwendigerweise an Filmmaterial gebunden war. Aber man darf sich nichts vormachen, die meisten Leute (auch ich gehöre dazu), sind weiterhin von der Idee angezogen, Kino machen zu wollen. Die Faszination des Kinobildes, der Dispositive, die das Kino begleiten: die Dunkelheit, das Warten, die Zeremonie, der psychologische Zustand. Das Verhältnis zum Fernsehbild dagegen ist ganz anders, und es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein. Man darf beides nicht verwechseln: Fernsehen machen ist nicht Kino machen. Zu oft vergisst man, dass es ein anderes Medium ist, die Artikulation ist nicht die selbe, die Körper sind kleiner, die »Écriture« ist eine andere, genau wie der technische Ablauf und die Produktionsverhältnisse andere sind. Die mangelnde Kenntnis dessen erklärt teilweise, warum die aktuellen Fernsehfilme so langweilig sind. […]
Es gab am INA auch die Serie JUSTE UNE IMAGE, die es mir ermöglicht hat, die neuen Technologien besser kennenzulernen und punktuell Erfahrungen mit anderen Schreibweisen zu machen. Wir haben zwei Montagen über das japanische und das mexikanische Fernsehen produziert. Wir hatten das Projekt, das ägyptische Fernsehen zu präsentieren, aber dem wollte ich eine etwas andere Dimension hinzufügen: Das Fernsehen im Akt des Zuschauens. Also bin ich mit einem einfachen Fotoapparat und einem Kassettenrecorder in der Tasche nach Kairo aufgebrochen und haben vier Tage lang in den Souks, im Café und bei Leuten zuhause Fernsehzuschauer fotografiert. Gleichzeitig ließ ich bestimmte Fragmente von Fernsehsendungen über den Koran aus dem ägyptischen Fernsehen mitschneiden, dazu einige Minuten eines Kulturmagazins, eine Bildungssendung. Zurück in Paris fügte ich die bewegten Bilder in die Fotos hinein, die ich gemacht hatte. Das ganze hat wenig gekostet und verdankte sich einer völlig anderen Produktionsweise.
Das Wichtige ist, über verschiedene Praktiken zu verfügen. Man muss vier Tage lang mit einem Fotoapparat durch Kairo laufen können, aber auch eine komplizierte Kranfahrt mit Dekor und Schauspielern im Studio oder draußen drehen können, man muss sich zwischen den Genres zu bewegen wissen, Reportagen ebenso wie Fiktionales machen.
Ich habe Lust für das Fernsehen zu arbeiten, aber nach meinem Verständnis. Man muss schnell agieren, denn das alles ändert sich beinahe von einem auf den nächsten Tag. Auch Video ist nur ein Zwischenschritt, morgen wird es die Digitalisierung geben und übermorgen…
Man kann sich fragen, wozu all diese Fortschritte gut sind. Auch heute kann man noch überwältigende Filme auf 16mm und ohne jede Trickaufnahme machen. Kein Videoclip hat in mir ein ähnliches Gefühl ausgelöst wie UN CHIEN ANDALOU von Bunuel. Aber das Fernsehen ist unser Zeitalter – ein anderes Zeitalter – und wer dafür arbeiten will, darf die neuen Technologien nicht ignorieren.«
[Philippe Grandrieux, Gespräch mit Michèle de Brussière, November 1983, abgedruckt in: problèmes audiovisuels 17 (1984) (Übersetzung VP). Über die Utopie eines »Experimentalfernsehens von oben«, für die das INA nach seiner Gründung 1975 für eine Weile stand, kann man hier Weiteres lesen: Olivier Curchod: Das Institut National de l’Audiovisuel. Ein Gespräch mit Jean Collet, in: CICIM 15 (Mai 1986), S. 6-28; Susan Boyd-Bowman: Imaginary Cinémathèques: The Postmodern Programmes of INA, in: Screen 28.2 (Spring 1987), S. 103-117.]