„Das letzte Rezept“ kann Endgültiges bedeuten, auch Tragisch – Dramatisches, vielleicht den Tod, auf jeden Fall Unumkehrbares. Im gleichnamigen Film von Rolf Hansen aus dem Jahr 1952 gibt es diese Konnotationen bis hin zur Banalität – eben des letzten Rezeptes, das ein Arzt ausschreibt. Das Rezept kuriert keine Krankheit; es bildet und tilgt Schuld, führt zerstrittene Parteien an den Festtagstisch, macht die kranke Gesellschaft wieder gesund und löst die Atemnot der Bedrückten – „Macht das Fenster auf, es ist so stickig hier“ ruft Carl Wery, der alte Arztvater, der nicht weichen wollte und sich jetzt mit der nachfolgenden Generation versöhnt. Wie Unschuldige schuldig werden und von dieser Schuld erlöst werden durch eine Frau, die sich stärkt mit Gebet und Kunst, mit „Vater Unser“ und Hugo von Hofmannsthal – das alles erzählt Hansen in einem seiner ersten Melodramen der fünfziger Jahre. Der Aufwand an Glaubenskraft und Kunstverehrung, an strahlendem Licht und finsteren Dämonen ist beträchtlich; im Jahr 1952 muß ja auch noch eine große Verdrängungs- und Bewältigungsleistung erbracht werden. Die Schlusssentenz der Gottesstimme verkündet dem deutschen Publikum sieben Jahre nach dem Zusammenbruch: „Eine schwere Zeit ist wie ein dunkles Tor/ gehst Du hindurch, trittst Du gestärkt davor. /Stehst neu vor Gottes Angesicht, wendt‘ sich alles/ vom Dunkel zum Licht.“
Die süchtige Primaballerina Bozena Boroszi (Sybil Verden) will sich zur „Jedermann“-Saison in Salzburg Morphium verschaffen, aber ihr Dealer (Harald Paulsen) wird verhaftet. Sie umgarnt den Apotheker Hans Falkner (O.W. Fischer) und stiehlt aus seinem Safe Morphium-Ampullen. Der ernst gestimmte Dr. Steininger (Rene Deltgen) hält seinen Studienfreund Falkner für einen Hallodri und verdächtigt ihn, der Primaballerina das Rauschgíft verschafft zu haben. Steininger ist immer noch in Anna (Heidemarie Hatheyer) verliebt, die aber Hans geheiratet hat. Der alte Sanitätsrat Falkner (Carl Wery) kreidet seinem Sohn Hans an, dass er nicht Arzt, sondern Apotheker geworden ist. Daran ist Anna Schuld. Die Primaballerina erpresst das Apothekerpaar – nur wenn sie ihr weiter Morphium besorgen, wird sie das Paar nicht bei der Polizei anzeigen. Steininger drängt den alten Arzt, endlich seinen Beruf aufzugeben – in seinem hohen Alter könne man schon mal mit einer Fehldiagnose großes Unglück anrichten. Diese vielen Geschichten kulminieren: Die Primaballerina wird ohnmächtig, der alte Sanitätsrat verschreibt ihr irrtümlich eine tödliche Dosis Strychnin und die Apothekerin Anna Falkner muss nun entscheiden, ob sie die richtige oder die tödliche Dosis anmischt.
Rolf Hansen ist ein Frauenregisseur; in den 40er Jahren inszenierte er Zarah Leander, jetzt spielt Heidemarie Hatheyer Erlöserin, Mutter eines kleines Sohnes, Ehefrau eines bübischen Ehemanns, und schließlich die große, alles entscheidende Figur. Sie geht durch hohe, enge Gassen, wird in Licht und Dunkel getaucht, wendet die Augen in Großaufnahme zum Himmel und steht im Fensterrahmen als Ikone der Reinheit. Die Räume der Apotheke und des Wohnhauses sind zwar eng und bedrückend, aber die Außenwelt ist noch viel bedrohlicher. Durch die Straßen von Salzburg und in die Handlung hinein klingen die Stimmen der „Jedermann“ Aufführung.
Wie unreif die Männer sind und wie sehr sie es geniessen! Nur die Frauen haben die Macht, Konflikte zu verschärfen oder zu entschärfen. Falkner verteidigt gegenüber seinem Vater die Entscheidung, statt Arzt Apotheker geworden zu sein, damit, dass seine Frau die Apotheke geerbt habe. Er eilt zur Ballerina und erklärt ihr, dass seine Frau sich wundere, wie das Morphium aus dem Safe verschwinden konnte. Als Anna Falkner ihren ehemaligen Geliebten Dr. Steininger um Hilfe bittet, vermutet der, dass Anna von ihrem Mann geschickt wurde. Anna ist empört: „Das ist so geschmacklos, so grenzenlos gemein.“ Damit könnte sie auch das Verhalten ihres Mannes charakterisieren.
Hansen und sein Kameramann Weihmayr inszenieren mit Fahrten, Kadrierungen, unaufdringlichen Unter- und Aufsichten Enge, Überlastung, Abhängigkeiten und Befindlichkeiten. Rene Deltgens Gesicht ist gelegentlich wir dämonisch ausgeleuchtet, Verden ermattet auf Kissen gelegt und Hatheyer ins sanfte Licht einer irdischen Schmerzens-Madonna getaucht.
Sechs Filme mit O.W. Fischer wurden 1952 in der Bundesrepublik uraufgeführt. Mit Charme, Frechheit und Künstlertolle bezauberte er die Fräulein und Damen gleichermaßen. Die Last der Vergangenheit hat in seinem Spiel keinen Platz; er ist der Vertreter der heiteren Lebenslust, mit flatterndem Apothekerkittel, fesch gebundenem Schal und etwas manierierter Zigarettenspitze ausgestattet. Binnen eines Jahres wurde Fischer nach Dieter Borsche zum Publikumsliebling Nr. 2.
Der Film lief als deutscher Beitrag beim Filmfestival Cannes 1952. Sybil Verden war die Titelgeschichte des „Spiegel“ Nr.23 vom 4.6.1952. In den USA lief „Das letzte Rezept“ unter dem Titel „Desires“; „Desires is the first German film in several years that is worth the expense of its subtitles.“ Time (2. 8. 1954)
Was nicht in „Filmportal“ und auch nicht in IMDB steht:
Liesl Karstadt spielt Frau Berger, die Haushaltshilfe von Sanitätsrat Dr. Falkner (das ist sogar in der Illustrierten Film-Bühne falsch). Heini Göbel spielt den verdächtigen Herrn aus einem Cafe, Franz Muxeneder einen der Detektive, Bum Krüger einen Kompagnon des Rauschgifthändlers, Bobby Todd den Theaterinspizienten. Heinz Hölscher und Richard Weihmayr waren Kamerassistenten, Oskar Schlippe Regieassistent.
Nicht als Video, nicht als DVD erhältlich.