Robert Desnos verweigert bei seinen Texten zu Filmen (1923-1930) die üblichen Inhaltsangaben – seine Kunst besteht darin, die Filme kenntlich zu machen durch starke Ablehnung und Zustimmung. Er greift dabei natürlich Details aus dem jeweiligen Film auf und lässt es für den ganzen Film sprechen. Hie und da kommt er allerdings nicht umhin, trotzdem ein gedrängtes Resümee zu geben: etwa bei Pudowkins Tempête sur l’Asie / Sturm über Asien, 1928. (Le Merle, 10.5.1929)
Als Les Mystères de New York (The Exploits of Elaine, USA 1914/15) von einem Kino in Paris 1929 aufs Programm gesetzt wird – „verhunzt“ von einem „miserablen französischen Regisseur“ – macht Desnos in starken Worten seinen Lesern klar, was dieser Film der Generation von 1900 (also seiner) während der Deprivation der Kriegszeit bedeutet hat. Das sei die Generation gewesen, die das Kino ganz angenommen habe und „von ihm erzogen worden“ sei. Pearl White, die schöne Heroine der Serie, habe die Gemüter der Kino-Jünglinge durch ihre Sinnlichkeit vollkommen in Bann gezogen und beherrscht. „Und dann folgte ein Film auf den anderen, nach Pearl White kam Musidora, nach Musidora kam Nazimova und danach noch viele andere …“ „Wunderbare Figuren der Liebe, der Bezauberung … Das waren Frauen, wahre Frauen. Ihr Leben war nicht mittelmässing, sondern kostbar, und sie setzten es aufs Spiel.“ (Le Merle, 3.5.1929)
Es versteht sich, dass das Augenmerk des Surrealisten Desnos auf die ‚Zwischenwelten’ des Kinos gerichtet ist – das Traum- und Wachtraumartige der Laufbilder im Dunkel des Kinosaals. Er hat einen Sinn für das ‚unabsichtlich Poetische’ gerade der populären Produktionen und des naiven Ausdrucks: er votiert für die Poesie und gegen die Kunst (das Theatralische der Comédie Française im französischen Kino ist ihm ein Greuel). Unzufrieden ist er allerdings mit den Versuchen, Träume im Film explizit darzustellen – er findet das abstrus und lächerlich und und ruft nach der Imagination eines Marquis de Sade. Er will auch die Wunschvorstellungen und die Begierden, das Triebhafte und den Schrecken der Träume mitverwirklicht sehen. „Der Film von Monsieur Buñuel geht auf die bestgehüteten Geheimnisse der menschlichen Seele in poetischer Weise ein. Ich kenne keinen Film, der so unmittelbar auf den Zuschauer einwirkt, für ihn gemacht ist und mit ihm ein Gespräch, eine intime Beziehung aufnimmt.“ (Un chien andalou, Le Merle, 28.6.1929.)
Gegen den Strich geht ihm natürlich das Moralisierende auf der Leinwand und ausserhalb des Kinos: an den Zehn Geboten (Cecil B. de Mille, 1924) anerkennt er zwar „die Wunder, die der Regisseur und der Kameramann realisiert haben“, verabscheut aber die „puritanische Einfalt“ („niaiserie puritaine“), die der Film vor sich herträgt. (Journal Littéraire, 31.1.1925) Und was die französische Zensur betrifft, nimmt er kein Blatt vor den Mund: der Zensor, ein „Reaktionär“ im Greisenalter, verdamme das französische Kino durch seinen Einfluss dazu, „nur Sentimentalitäten niederster Art und Gemeinplätze eines absurden Nationalismus auszudrücken.“ Den Zensor, den zuständigen Minister, wie auch den dritten im Bunde, den „glücklichen Industriellen“ und „König des Kinos von Frankreich“ („zwischen zwei Ideen, wählt er unfehlbar die stupide“), nennt er bei ihren Namen. (Le Soir, 27.4.1928)
Dann gibt es da das Problem der „figurants“, auf das er öfter zurückkommt: das sind die Neben- und Kleindarsteller im französischen Film, die von „Menschenhändlern“ vermittelt werden, welche dabei unanständig viel von deren Verdienst in die eigene Tasche stecken. (U.a. Le Soir, 25.7., 1.8., 2.8., 5.10.1928)
Hat Desnos nur den Stummfilm geliebt? Nach Einführung des Tonfilms gibt es bei ihm die sinnvolle Unterscheidung zwischen ‚film parlant’ und ‚film sonore’. Er meint, ein ‚Sprechfilm’, der ihm gefallen habe, sei ihm bislang noch nicht begegnet, aber mit dem Ton könne er durchaus etwas anfangen.
„Alles, was auf die Leinwand projiziert werden kann, gehört der Domäne des Kinos an“ (1923 von ihm als Argument zur Beibehaltung der Zwischentitel gesagt): das ist ein Satz, der durchaus weiter trägt, weit in die Filmgeschichte hinein, und formuliert scheint wie für Godard und einige andere. – Desnos hatte ja etwas übrig für die Lakonie von Zwischentiteln wie diesen: „An jenem Abend …“, „Eines Tages …“, „Währenddessen …“; aber auch für die Wucht von „Brüder“ aus dem Panzerkreuzer Potemkin; und aus Nosferatu von Murnau hebt er ausgerechnet jenen Titel hervor, der es auch Serge Daney so angetan hat: „Und sobald er die Brücke überschritten hatte, kamen die Gespenster ihm entgegen.“ (Paris-Journal, 13.4.1923; Le Soir, 26.3.1927, 15.6.1928) Sollte es da vielleicht ‚geheimnisvolle Korrespondenzen’ gegeben haben, Ideenstränge, die unterirdisch oder ganz irdisch verlaufen sind?
(Und siehe da: bei André Breton, in „Die kommunizierenden Röhren“, zuerst 1932, taucht genau diese Stelle ebenfalls auf, sogar mit einem Foto aus Nosferatu und der Legende: „An der Biegung der Kleinen Brücke“.)