August 2015

Donnerstag, 27.08.2015

dokfilmwoche

Sie lesen gerade einen Hinweis auf die dokfilmwoche. Sie beginnt heute im fsk Kino und im Sputnik und geht bis zum nächsten Mittwoch und ich möchte ihnen einen Besuch empfehlen. 19 Filme, größtenteils aus den letzten zwei Jahren, von denen ich nur drei kenne. Kein übergreifendes Thema, bzw. vielleicht doch das im Vorwort genannte Interesse an »peripheren Perspektiven« – und die Miniaturankündigungen zu den Filmen (größtenteils von Sebastian Markt verfasst), diese so heikle Textform des konzisen Erfassens, machen mich wahrscheinlich auch deshalb erwartungsfroh. Immer wieder habe ich davon gelesen, aber ich habe noch nie einen Film von Rainer Komers gesehen (drei, von 1999, 2010 und 2014 werden gezeigt); ich habe viel Gutes gehört von André Siegers »Souvenir«, und von Ruth Beckermanns »Those Who Go Those Who Stay« und von Thomas Heises »Städtebewohner«, von Ivette Löckers »Wenn es blendet, öffne die Augen«; und auf einem Festival sah ich »Stop the Pounding Heart«, den ich sehr mochte (tiefstes Texas!, Pubertätsbeobachtungen!, Tiere!).
Der zweite Film, den ich aus dem Programm kenne, ist Chris Wrights und Stefan Kolbes »Pfarrer« (*). Vor einem Jahr habe ich dazu ein Video-Essay-Seminar gemacht, in Weimar, und zwei der vier dort entstandenen Filme über »Pfarrer«, motivische Lektüren und Annäherungen, werden am Sonntag nach der Vorführung um 16 Uhr im fsk gezeigt. Ich bin dann auch da.

Sonntag, 23.08.2015

Konstruktiver Realismus

Die Konstruktion von King Vidors Wild Oranges (1923) ist bewunderungswürdig, weil sie das Allerunwahrscheinlichste wahrscheinlich werden und das Wahrscheinliche das Allerunwahrscheinlichste bewirken lässt.
Es beginnt mit einem Stück Zeitung auf einem Weg, das hochweht. Pferde scheuen vor dem Papier, gehen durch, eine Frau stürzt aus der Kutsche, bricht sich das Genick, und das Zeitungsblatt treibt ungelesen weiter, den Weg der ewigen Kontingenz hinab. Nicht selten verketten sich Umstände unglücklich, und an einer solch unglücklichen Verkettung werden wir notwendig sterben, aber so beiläufig, ja kühl wie hier stellt sich der Vorgang doch selten dar.
Noch seltener ist dies: An einer Bucht leben in einem verfallenden Herrenhaus ein alter Mann und seine Enkelin. Seit dem Bürgerkrieg leidet er an klappernder Furcht und hat diese Furcht auf seine Enkelin übertragen. In der Nähe des Hauses befindet sich aber auch ein Sumpfland voller hungriger Alligatoren und streunt ein Zwei-Meter-Mann umher, der eine alte Frau umgebracht hat.
Nun könnte einer sagen, auch wenn der Bürgerkrieg, der die Furcht auslöste, lange vorüber ist, gibt es doch gute Gründe, sich zu fürchten, denn Großvater und Enkelin werden von tödlichen Gefahren umlauert. Doch so ist es nicht. Die Alligatoren lassen sich umgehen und der Koloss ist „part man and part child“, tumb, aber solange ungefährlich, solange er nicht gereizt wird.
Er wird aber gereizt, nämlich eifersüchtig, weil der Bräutigam der Frau aus der Anfangsszene, von ihrem Tod in die Einsamkeit der See getrieben, mit seiner Yacht „Yankee“ in dieser Bucht vor Anker geht und auf die Enkelin trifft. Der Zufall, schreibt Balzac, ist die „zweite Vorsehung“. Und so beginnt ein Horror, der seinesgleichen sucht und ebenso überraschend und logisch endet, wie er begonnen hat.
Das Unwahrscheinliche wahrscheinlich zu machen, ist Konstruktion. Das Wahrscheinliche unwahrscheinlich zu machen, ist Kunst. Dieser Film hat beides, er begründet das erstaunliche Genre des konstruktiven Realismus.

Sonntag, 16.08.2015

Schnittmengen, Bruchstellen

In Wiesbaden, der Landeshaupt-, Kur- und Filmstadt, war 1954 die große Welt zu Gast. Zsa Zsa Gabor logierte mit ihrem Liebhaber Porfirio Rubirosa, allen Illustriertenlesern als Playboy bekannt, im ersten Haus am Platz. Sie spielte die Hauptrolle in dem von Karl Ritter inszenierten Film „Ball der Nationen“; jeder in der Filmbranche kannte Karl Ritter, der schon 1925 Mitglied der NSDAP geworden war, als den Regisseur NS-ideologisch durchwirkter Filme wie „Unternehmen Michael“ (1937), „Stukas“ (1941), „Kadetten“ (1941) oder „GPU“ (1942). Ritter sah das 1970 ganz anders: „Ich persönlich habe keine Propagandafilme gemacht.“ „Ball der Nationen“ ist kein gelungener Film, wegen einer schrillen Koinzidenz aber nicht unwichtig. Zur selben Zeit drehte John Brahm in denselben Ateliers „Die goldene Pest“. Brahm war 1933 über England in die USA emigriert und hatte dort eine Reihe von wenig bekannten B-Filmen gedreht. Was mögen Brahm und Ritter übereinander gedacht, was miteinander geredet haben, falls sie sich getroffen haben?

Gerhard T. Buchholz ist der Produzent der „Goldenen Pest“. Er war ursprünglich Maler und Bühnenbildner und hatte als Vertragsautor der Ufa auch an dem Drehbuch des antisemitischen Films „Die Rothschilds“ gearbeitet. Nach 1945 produzierte er Gegenwartsstoffe wie „Weg ohne Umkehr“ (1953) oder „Viele kamen vorbei“ (1955/56). Weil „Die goldene Pest“ mit einer Bundesbürgschaft abgesichert war, bemühte sich Buchholz, nur nicht als Zeitkritiker mißverstanden zu werden. Es geht um ein deutsches Dorf, das durch die Nähe zu einer amerikanischen Garnison und einer den jungen Soldaten quasi natürlich innewohnenden Vergnügungssucht zu einer Lasterhöhle wird. Dafür gab es ein zeitgenössisches Vorbild, das aber im Film nicht erwähnt werden darf. „Die Geschichte des deutschstämmigen US-Sergeanten, der in seine Heimat zurückkehrt und hier in Deutschland auf so verworrene Verhältnisse stösst, die alle der Dämon Geld heraufbeschworen hat, ist ein rein menschliches Filmthema. Dass es zwischen Amerikanern und Deutschen angesiedelt ist, hat im Grunde wenig zu sagen“, flunkert Regisseur John Brahm im Presseheft.

Maja Figge hat in ihrem sehr klugen Buch „Deutschsein (wieder-) herstellen“ mit dem Sezierbesteck der Theorie herausgearbeitet, dass der Gangster (Heinz Hilpert), dem das moralische Desaster in dem Dorf angelastet wird, antisemitisch konnotiert ist. Ich möchte das ergänzen: der Chauffeur des Gangsters wird von Alexander Golling gespielt, der in Ritters „Ball der Nationen“ den Pressesprecher der russischen (sprich: kommunistischen) Delegation darstellt. „Ball der Nationen“ kam vor „Die goldene Pest“ in die Kinos; die Zuschauer könnten doch nahezu zwangsläufig in dem Chauffeur den in eine neue Maske geschlüpften Vertreter des Kommunismus erkennen, so dass wir es in der Kombination Gangster (Jude)/ Chauffeur (Kommunist) eigentlich mit einer jüdisch-bolschewistischen Verschwörung zu tun haben.

Andererseits wurde Golling, so Wikipedia, wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus, auch der „braune Fürst von München“ genannt. Vielleicht ist es auch nicht ohne Bedeutung, dass Zsa Zsa Gabor in „Ball der Nationen“ unter anderem folgende Zeilen singt: „Wir fragen nicht die andern/ wir tun, was uns gefällt/Wir gehen eigne Wege/ uns gehört die weite Welt.“ Komponist Werner Bochmann sei, so schreibt „Der neue Film“, in der Wahl der Texte eben wählerisch.

Ich gebe zu, das ist jetzt alles sehr verwirrend. Zsa Zsa Gabor demonstriert in „Ball der Nationen“, wie es einfacher gehen könnte. Reporter Percy Buck (Gustav Fröhlich) hat auf einer Staffelei ein Großfoto seiner angebeteten Zsa Zsa; sie schneidet das Gesicht heraus und plaziert ihr eigenes in die Fehlstelle. Die Bruchstellen zwischen dem Glamourbild und dem lebendigen Gesicht sind überdeutlich, aber Percy ist überwältigt vor Glück.

 


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