Oktober 2015

Montag, 26.10.2015

Fastentuch 1472

Sich mit einem fremden Objekt befassen – nicht aus dem Weltraum, sondern aus dem eigenen Kulturraum, dem europäisch-deutschen (Zittau im Dreiländereck Deutschland, Tschechien, Polen). Ein irdisches Objekt also, von dem wir uns geschichtlich so weit entfernt – uns ihm entfremdet – haben, dass es uns tatsächlich vorkommt wie von einem andern Stern. Ein Objekt allerdings, das eine ganz vertraute Geschichte erzählt, in Bildern und Worten spricht, die an etwas rühren, das uns von altersher bekannt sein müsste.
Mehrfache Arbeit, die dieser Film leistet: er bringt uns optisch / kinematographisch die Bilderzählung nahe, die auf dem Grossen Zittauer Fastentuch in einer Folge von neunzig Bildern dargestellt ist – und findet eine Sprache für dieses (aus dem Alten und dem Neuen Testament) Dargestellte. Er begibt sich in die Bilder hinein, spricht aus ihnen heraus, transponiert den darin enthaltenen Ausdruck samt den Legenden in ein heute verständliches Deutsch. Dann bestimmt er – historisch, materiell, ideell – den Charakter dieses Objekts, situiert es durch Interviews mit Personen, die dazu massgeblich etwas zu sagen haben, aus heutiger Perspektive neu.
Das macht, dass uns dieses fremde Objekt sehr nahe kommt – und doch der notwendige (weil gegebene) Abstand gewahrt bleibt. Ein mittelalterliches Weltbild eröffnet sich, das ganz im Glauben lebt, innig ist, von naiver Frömmigkeit. Den da dargestellten biblischen Figuren haftet überwiegend der Gesichtsausdruck eines kindlichen Staunens an, wie wenn der oder die (anonymen) Maler einfach die schöne Einfalt aufgegriffen hätten des gläubigen Volkes um sie herum.

Schon die Bezeichnungen, mit denen wir diese Welt charakterisieren, entfernt sie von uns, macht den Abstand und die ‚Verlorenheit’ klar. (Es sei denn, wir gucken ein bisschen unseren Kindern und vielleicht den Simpeln und Toren zu.) Aber lautet die Lektion nicht vielmehr: verloren waren nicht die Menschen dieser vergangenen Welt, verloren sind vielmehr wir. Wir haben uns (mit unseren heutigen Fantasmen, im Bann der „Technosphäre“, dem „Diktat des Augenblicks“) gut erheben über ein ‚geschlossenes Weltbild’ (das immerhin für eine gewisse Geborgenheit bürgte) – in ein paar Jahrzehnten schon wird man unser heutiges Weltbild als genauso antiquiert ansehen. ‚Was haben die sich bloss eingebildet, damals!’ (Vorausgesetzt irgendeine Art Urteilsvermögen ist noch in Kraft in der künftigen Menschheitsgeschichte.) Und wenn man sich vor Augen hält, dass der Abstand zum Fastentuch-Weltbild (vor dem Hintergrund der ‚Schöpfungsgeschichte’, den ca. 4,6 Milliarden Jahren Evolution auf dem Planeten) eigentlich nicht mehr ist als ein Wimpernschlag, will einem scheinen, dass diese Art Überstürzung und Überhebung nur im Nichts (woher wir gekommen sind) enden kann.

Fastentuch 1472 – Film von Bernhard Sallmann (D 2015, 93 Minuten).
Der Film läuft am 28., 29. und 31.10.2015 auf der Dok-Leipzig. Und am 24. November 2015 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin.

Dienstag, 20.10.2015

Fünf Punkte, mit denen „Der Marsianer“ ein interessanterer Film hätte werden können

1: Die Handlung wird ausschließlich über die im Film überall vorhandenen GoPros [Achtung: Werbelink] erzählt, wobei darauf verzichtet wird, die GoPro-Einstellungen jedes Mal durch ein darüber gelegtes Raster sowie eingeblendete Schrift kenntlich zu machen. Besonders die Over-shoulder-Kamera, die immer prominent im Bild zu sehen ist, liefert eine dynamische Perspektive, die im aktuellen Film aber kaum eingesetzt wird.

2: Aufgrund der großen Distanz entsteht bei der finalen Rettungsaktion am Schluss eine zwölfminütige Verzögerung beim Funkverkehr vom Mars zu Erde. Diese wird für den Zuschauer des „Marsianers“ natürlich nur kurz erwähnt, aber nicht ausgespielt. Dabei wäre das Insistieren auf den zeitlichen Realismus hier die Gelegenheit gewesen, endlich mal jemanden beim Warten zu zeigen. Mark Watney verbringt über ein Jahr alleine auf dem Mars, statt Kontemplation setzt Scott aber ausschließlich auf Aktion.

3: Als sie auf der Erde mitbekommen haben, dass Mark Watney lebt, fragen sie sich, was er jetzt wohl tut. Daraufhin gibt es einen Schnitt auf einen weiteren schlauen Logbuch-Eintrag des Marsianers, anstatt ihn endlich mal beim Onanieren zu zeigen.

4: Es ist sehr ermüdend fast zweieinhalb Stunden Matt Damon beim Schauspielversuch zuzuschauen. Die Rolle ist für die meisten Schauspieler eine undankbare, weil kaum zu lösende Aufgabe. Warum hier nicht auf vorhandene Passgenauigkeit zurückgreifen und die Rolle des Marsianers mit zwei Schauspielern besetzen? Für den ersten Teil und die dort herrschende Verzweiflung böte sich Nicolas Cage an. Und im zweiten Teil hätte der ausgemergelte und fusselbärtige Mark Watney von Willem Dafoe gegeben werden können.

5: Filmhandlung kann subtil mit Popsongs kommentiert werden. Im „Marsianer“ werden die Songs aber allein aufgrund der überdeutlich passenden Lyrics ausgewählt. Zum Abspann läuft „I will survive“ von Gloria Gaynor! Hier hätte man die Lyrics von jedem Song mittels Karaoke-Untertiteln zum Mitsingen im Film einblenden können, um den Aspekt des Handlungskommentars deutlicher herauszuarbeiten.

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Samstag, 17.10.2015

Liebe – Erinnerung – Stammheim

Aus Karsten Heins Fotoroman „Das vierte Album“ wird ein Kinoereignis: Lesung, Filmmusik und Leinwand-Projektion.

Kino fsk, Oranienplatz, Berlin, Montag, 19. Oktober 2015, 20 Uhr, mit Diskussion.

Montag, 12.10.2015

Marotte eines Filmhistorikers

Am Freitag und Samstag zeigt arte in der „Komischen Oper“ Stummfilme mit Live-Musik in der Art wie sie früher im Kino gezeigt wurden – d.h. mit Vorprogramm und Bühnenschau (Konzept und Produktion: Nina Goslar, Ulrich Lenz, Rainer Simon). Am 16. 10. laufen The Immigrant (1917) von Charles Chaplin, Manhatta (1921) von Paul Strand und Regeneration (1915) von Raoul Walsh.
Am 2. Abend (17.10.) laufen die Kurzfilme „Wenn die Filmkleberin gebummelt hat“, „Die Pritzelpuppe“ und F.W.Murnaus „Tartüff“ (1925).

Frank Strobel, der Dirigent des 2. Abends, hat dem Tip (21/2015) ein Interview gegeben. „Wir sehen Stummfilme heute zu langsam. Mit gemeinhin 18 Bildern pro Sekunde. Dabei gehen wir von einem Realitätsempfinden aus, das vom Tonfilm geprägt wurde. Wir betrachten Bewegungen, die zu schnell erfolgen, als unnatürlich. Nur: Die schnellere Bewegung war ein Stilmittel der d damaligen Zeit.“ Und: „Film, zu Zeiten des Stummfilms, war nicht als reales Abbild unserer Welt gedacht. Sondern als etwas Künstliches. Das ist der Grundirrtum, dem wir heute zumeist unterliegen.“

Das kann man noch etwas zuspitzen. Nicht wir unterliegen diesem Grundirrtum, sondern wir werden in diesem Irrtum gehalten, denn nahezu alle Stummfilme, die auf DVD angeboten werden, laufen in der falschen Geschwindigkeit. Prominentestes Beispiel ist „Metropolis“, der nach Angaben des Komponisten mit 28 Bildern/sec. laufen sollte. Dann wird aus „Metropolis“ ein Ballett, also ein ganz anderer Film.

Hier einige Angaben zu den Laufbildgeschwindigkeiten von Stummfilmen – sozusagen am Wegesrand notiert:
Fridericus Rex (1922/23): 25 B/sec, diverse Einstellungen langsamer
Alt-Heidelberg (1922/23): 14 – 24 Bilder/sec. 24 Bilder werden als Normaltempo bezeichnet.
Zur Chronik von Grieshuus (1925): 25 – 27 Bilder/sec
Metropolis (1925/26): 28 Bilder/sec
Der Mann im Feuer (1926): 26 Bilder/sec
Luther (1927): 27 Bilder/sec
Das Ende von St. Petersburg (1927): 26 – 27 Bilder/sec
Wenn ein Weib den Weg verliert (Cafe Electric) (1928): 30 Bilder/sec
Küsse, die töten (Verheimlichte Sünden): 28 Bilder/sec
Dorine und der Zufall (1928): 28 Bilder/sec
Saxofon-Susie (1928): 28 Bilder/ sec
Die tolle Komtess (1928): 28 Bilder/sec
Aus dem Tagebuch eines Junggesellen (1928): 28 Bilder/ sec

Manche Filmhistoriker glauben, diese forcierte Geschwindigkeit sei auf die Geschäftstüchtigkeit der Filmtheater-Besitzer zurückzuführen. Je schneller der Film läuft, desto mehr Vorstellungen konnten pro Tag angesetzt werden. Da ist was dran und es ist trotzdem falsch. Die Laufbildgeschwindigkeiten, die ich oben angeführt habe, sind zum überwiegenden Teil Angaben des Verleihs und der vom Verleih beauftragten Kapellmeister – unter ihnen übrigens auch Paul Dessau.

Wenn wir Stummfilme überwiegend in falscher Geschwindigkeit sehen – haben wir dann nicht einen ganz falschen Eindruck von der Wirkung dieser Filme? Richten wir uns also die Vergangenheit gemütlich zurecht und reden dabei gleichzeitig von der Beschleunigung der Wahrnehmung, ohne die früherer Zeiten wahrnehmen zu wollen? Und – interessiert das jemanden? Ehrlich gesagt: niemanden. Das ist ja das Dilemma.

Ich bin jedenfalls gespannt, mit welcher Geschwindigkeit „Tartüff“ in der Komischen Oper unter dem Dirigat von Frank Strobel laufen wird.

Dunkle Wahrheit

1923 - Coeur Fidèle - Jean Epstein

1926 Rien que les heures - Alberto Cavalcanti

1926 Jean Epstein - Mauprat

1927 The Show - Tod Browning

1932 - Chandu The Magician - William Cameron Menzies

1934 - Rapt - Dimitri Kirsanoff

1934 Of Human Bondage  - John Cromwell

1935 - Tokyo no eiyu - Hiroshi Shimizu

1936 - The Prisoner of Shark Island - John Ford

1939 Charlie Chan at Treasure Island - Norman Foster.

1939 Charlie Chan at Treasure Island - Norman Foster..

1940 - The Girl In The News - Carol Reed

1940 Contraband Powell

1947 Black Narcissus

1947 John Mills, The October Man, Roy Baker

1951 The Late Edwina Black - Maurice Elvey

1952 - What Price Glory - John Ford

1955 Marianne de ma jeunesse - Julien Duvivier

1957 - The Three Faces of Eve -  Nunnally Johnson 1

1957 - The Three Faces of Eve -  Nunnally Johnson 2

1957 - The Three Faces of Eve -  Nunnally Johnson 3

1957 - The Three Faces of Eve -  Nunnally Johnson - 4

1958 - The Return of Dracula - Paul Landres

1961 Claudelle Inglish - Gordon Douglas

1961 Der Fälscher von London - Harald Reinl

1961- Der Fälscher von London - Harald Reinl

1962 - Confessions of an Opium Eater - Albert Zugsmith

1965 Tausend Takte Übermut - Hofbauer

1966 - Persona - Bergman

1967 Torture Garden Freddie Francis

1968 Deadfall - Bryan Forbes

1969 - Engel die ihre Flügel verbrennen

1969  Pit Stop - Jack Hill

1974 - Teens in the Universe - Richard Viktorov

1976 - Idole - Klaus Lemke

1977 - Derrick Tod des Wucherers - Brynych

1980 - The Changeling - Peter Medak

1994 - L'enfer - Chabrol

2012 - The Grey - Joe Carnahan

2013 - Les recontres d'apres minuit - Yann Gonzalez

1923 – Coeur Fidèle – Jean Epstein
1926 – Rien que les heures – Alberto Cavalcanti
1926 – Mauprat – Jean Epstein
1927 – The Show – Tod Browning
1932 – Chandu The Magician – William Cameron Menzies
1934 – Rapt – Dimitri Kirsanoff
1934 – Of Human Bondage – John Cromwell
1935 – Tokyo no eiyu – Hiroshi Shimizu
1936 – The Prisoner of Shark Island – John Ford
1939 – Charlie Chan at Treasure Island – Norman Foster
1940 – The Girl In The News – Carol Reed
1940 – Contraband – Powell & Pressburger
1947 – Black Narcissus – Powell & Pressburger
1947 – The October Man – Roy Baker
1951 – The Late Edwina Black – Maurice Elvey
1952 – What Price Glory – John Ford
1955 – Marianne de ma jeunesse – Julien Duvivier
1957 – The Three Faces of Eve – Nunnally Johnson
1958 – The Return of Dracula – Paul Landres
1961 – Claudelle Inglish – Gordon Douglas
1961 – Der Fälscher von London – Harald Reinl
1962 – Confessions of an Opium Eater – Albert Zugsmith
1965 – Tausend Takte Übermut – Ernst Hofbauer
1966 – Persona – Ingmar Bergman
1967 – Torture Garden – Freddie Francis
1968 – Deadfall – Bryan Forbes
1969 – Engel die ihre Flügel verbrennen – Zbynek Brynych
1969 – Pit Stop – Jack Hill
1974 – Teens in the Universe – Richard Viktorov
1976 – Idole – Klaus Lemke
1977 – Derrick: Tod des Wucherers – Zbynek Brynych
1980 – The Changeling – Peter Medak
1994 – L’enfer – Claude Chabrol
2012 – The Grey – Joe Carnahan
2013 – Les recontres d’après minuit – Yann Gonzalez

1976 - Taxi Driver - Scorsese

1976 Taxi Driver - Scorsese
1976 – Taxi Driver – Martin Scorsese

Freitag, 09.10.2015

Akerman

„Es ist zu spüren, ob es in Büchern oder Filmen Wahrheit gibt. Selbst wenn die Wahrheit undeutlich bleibt, vor allem, wenn sie undeutlich bleibt. Wenn sie undeutlich bleibt und es zu spüren ist, dass es Wahrheit gibt, geht unterirdisch und langsam, manchmal sehr langsam etwas vor sich, und gerade wenn du nicht groß darüber nachdenkst, erscheint plötzlich diese Wahrheit und das ist ein außerordentlicher Augenblick und er stellt sich nicht alle Tage ein und er ist gut, er ist so gut, dass du dich mit einem Mal leicht und ruhig fühlst.“
Chantal Akerman (19502015), Ma mère rit, Paris 2013, S. 37.


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