Dezember 2019

Montag, 23.12.2019

Filme der Fünfziger LIV: Moselfahrt aus Liebeskummer (1953; R: Kurt Hoffmann)

Die Moselfahrt gehörte in den Fünfzigern zum Bildungs- und Kulturfahrten-Pflichtprogramm. Für die Winzer waren die Fahrten ein gutes Geschäft, kistenweise sollte der bestellte Wein später für trunkene Erinnerungen sorgen.
Rudolf Binding hatte 1932, ein Jahr bevor er gegenüber Adolf Hitler das Gelöbnis „treuester Gefolgschaft“ erklärte, die Novelle „Moselfahrt aus Liebeskummer“veröffentlicht. Sie bildet die literarische Vorlage für diesen Film, ohne dass es wirklich zwingend einer literarischen Vorlage bedurft hätte. Doch wir sind hier nicht zum Vergnügen, sondern wegen der Kultur. Das Presseheft will uns „an das Werk heranführen, das Beachtung und Liebe verdient. … Der Geist des schmalen Büchleins, seine Besinnlichkeit, seine Wahrheiten, seine Menschen und seine Schauplätze haben Gestalt gewonnen, ohne die Unantastbarkeit eines literarischen Kunstwerks von überzeitlicher Bedeutung zu verletzen.“ Oha – der Gang ins Kino soll etwas Besonderes werden – so lasset uns denn sehen, was das Lichtspiel uns Beglückendes anheim gibt.

Thomas (Will Quadflieg) ist eifersüchtig

Dr. Thomas Arend (Will Quadflieg), man hört es en passant, wurde gerade bei einer Universität als Dozent für Kunstgeschichte angestellt; mit seiner Freundin, der Opernsängerin Dorette Sorel (Renate Mannhardt), will er nun eine Moselfahrt machen. Dorette mault etwas, sie möchte lieber nach Paris oder nach Italien und was vom Leben haben. Das kommt nicht in Frage, Thomas freut sich doch so darauf, ihr die Sehenswürdigkeiten zu zeigen und zu erklären. Jetzt muss Dorette schnell in die Oper zur „Hochzeit des Figaro“, sie singt den Cherubino, singt von der „Liebe, die so brennt“ und grüßt diskret einen unbekannten Herrn in einer Loge.. Thomas steht, ganz Herr des Geschehens, in ebendieser Loge und beobachtet alles genau; im Auge glimmt der Zorn.
Am nächsten Morgen ist Dorette nicht zu Hause, ihr Bett ist unbenutzt. Ganz gekränkte Primadonna fährt Thomas nun allein los.
Werbeheft: „Thomas Arend wird leichter ums Herz, als er mit seinem Wägelchen [ein VW Cabrio] den Windungen der Straße an der Mosel folgt. Wanderer winken ihm freundlich zu, Winzer heben bedächtig die Hand, dem Fremden Gruß und Willkomm bietend. Da wird Toms – seine Freunde nennen ihn nur Tom – Kummer kleiner und kleiner, der ihm gestern noch als nicht zu verwindende Endgültigkeit erschien.“

Mutter (Elisabeth Müller)

Angela Schaefer (Elisabeth Müller), Verlegerwitwe und junge Mutter, ist mit ihrem Sohn Kaspar (Oliver Grimm) ebenfalls auf Moselfahrt. Sie geht in den Dom in Trier, da braust die Orgel, Kaspar versinkt im Gebet, geht daraufhin verloren und wird von Thomas gefunden. Wenn das nicht Schicksal ist! Mit einem Mal sind wir in einem Kulturfilm über Land und Leute und Weine wie das Erdener Treppchen, das Trittenheimer Altärchen oder die Wehlener Sonnenuhr, wir schunkeln und singen auf einem Weinfest und gehen mit Quadflieg und Albert Florath in ein Lokal, wo man in Ruhe einen guten Tropfen trinken kann. Ach, der Bürgermeister (Bum Krüger) ist auch schon da; Frau Bürgermeister möchte, dass ihr Mann nach Hause kommt, aber jetzt trinken die Männer noch ein Fläschchen, har-har. Die Kamera steht auf Höhe der dicken Männerbäuche – so sieht Gemütlich- und Behaglichkeit aus. Am Nachbartisch blättert Angela im Gästebuch und sieht den alten Eintrag von sich und ihrem verstorbenen Mann –es seufzt die Erinnerung.

Vater (Will Quadflieg)

Thomas und Kaspar freunden sich an, streifen singend durch die Lande; Angela und Thomas sehen sich ein Madonnenbild an und Thomas staunt nicht schlecht, dass Angela so gebildet ist. Er nimmt ihre Hand, sie lächelt schüchtern; sieht sie nicht aus wie eine Madonna? Da taucht mit einem Mal wieder Dorette auf, die ein fescher Holländer in seinem Wägelchen [einem Mercedes Cabrio] an der Mosel herumkutschiert hat. Aber Thomas bekennt sich zu Angela, drei Jahre mit Dorette sind wie ausgelöscht. Thomas, Angela und Kaspar gehen ihren Weg jetzt gemeinsam.
Will Quadflieg ist der hoffnungsvolle Mann mit dem romantischen Blick; mal stemmt er die Hände in die Hüften, dann wieder versenkt er sie fast trotzig entschlossen in den Anzugtaschen. Er lebt in den Männlichkeitsposen der Vergangenheit und spielt

Kind (Oliver Grimm)

Kaspar gegenüber eine Vaterrolle als falscher Kinderkamerad. In der ersten Krise – der Diskussion mit Dorette über das Reiseziel – wird er schon autoritär und unleidlich. Die Opernsängerin sitzt ihm zwar zu Füßen , will aber auch eine eigene Karriere. Angela dagegen, der Witwe eines Kunstverlegers, fehlt der Mann, ihrem Sohn der Vater. Bei ihr kann Thomas Karriere machen.
Kurt Hoffmann inszeniert Angela als vorsichtige, aber überwältigungswillige junge Witwe. Die Moselfahrt ist auch eine Phantasie über das angerichtete Nest, in das sich geschickte und einfühlsame junge Männer setzen können. Der träumende Blick deutscher Innerlichkeit richtet sich wie verzaubert auf zukünftigen Wohlstand, die Beherrschung der scheuen Frau und ein Leben im Geiste der Vergangenheit. Der Gedanke an eine Geschichte über einen bösartigen Heiratsschwindler wäre reizvoll, da doch der ganze Film eine einzige Hochstapelei ist. Gunther Groll konstatierte: “Der Kummer beginnt, als der junge Kunsthistoriker seinem Fräulein Braut solange Binding vorliest, bis sie etwas nach ihm wirft.“ Groll hat das mal eben so erfunden, der Film inspiriert zu solchen sonderbaren Geschichten. Groll fügt hinzu: “Mit Recht.“

Das Werbeheft bietet einen Artikel für die „Frauenseite“ an, im Internet gibt es eine webseite https://moselfahrt.film/ zu dem Film, der mit Mitteln des Förderprogramms Filmerbe restauriert wurde.

Ursprünglich war Victor Tourjanski als Regisseur vorgesehen, als Darsteller wurden Karl Heinz Böhm, Rolf Pinegger und Willi Fritsch genannt.

Nicht als DVD, nicht als Video

Präzisierungen zu filmportal:
Requisite: Otto Garden, Hans Pewny; Dreharbeiten vom 21. August 1953 bis 3. Oktober 1953; Außenaufnahmen in Trier, Bernkastel, Lieser an der Mosel, Bayreuth; Atelier: Geiselgasteig; Ateliersekretärin: Irmgard Palz.

Donnerstag, 19.12.2019

Peter Wollen, 1938 – 2019

„His ‚Signs and Meanings in the Cinema‘ was the first seminal book I read about film that actually made sense while bopping you to bits with its braininess and taking the engine of cinema completely apart in front of you while making you even more excited to jump in and go racing about in it just as soon as you possibly could.“

(aus Tilda Swintons Erinnerungen an Wollen)

„O is for Online. Strictly speaking, we are moving away from cinema now, yet the cinema itself is clearly mutating into a digital art, with its dependence on special effects and its potential for home delivery and interactivity. Digital technology is changing the whole nature of image-capture, allowing images to be changed, combined and appropriated. When cinema goes online, we will be able to download films and simultaneously summon up clips from other films for comparison, back- ground information from research libraries and archives, even out-takes that we can use privately to make our own revised versions of sequences.“

(aus Peter Wollens „An Alphabet of Cinema“, Buchstabe „O“, new left review 12, Nov/Dec 2001)

Paratexte der FILMKRITIK (14): Beuys, blätternd

Joseph Beuys, bei Minute 13:45 in Lutz Mommartz‘ Film 400 m IFF von 1969 (21 min, 16mm, s/w).

Schon beim notdürftigen Einrichten der Beleuchtung blättert Beuys kurz im Heft, dann setzt er sich, nimmt es erneut zur Hand, legt es nach erneutem Blättern wieder weg.

Es handelt sich um die Februarausgabe von 1969, auf dem Cover Marlene Dietrich in Shanghai Express. Beuys scheint nicht zu interessieren, was Enno Patalas über Godards Week-End schreibt oder Frieda Grafe über Gertrud. Auch die Texte über „Acht Filme von Josef von Sternberg“ lassen ihn kalt.

Dank an Michael Baute für den Hinweis.

Dienstag, 10.12.2019

Kinohinweis Köln

Wer in Köln wohnt und morgen, am 11. Dezember um 20.00 Uhr nicht in den FILMCLUB 813 geht, ist selber schuld.

Gezeigt wird

DER CHAMPAGNER-SPRINGBRUNNEN
D 1996 – 47 Min. – digital
Kamera und Regie: Herbert Fell
in Anwesenheit von Herbert Fell

sowie

HAT WOLFF VON AMERONGEN KONKURSDELIKTE BEGANGEN?
D 2004 – 73 Min. – 35mm
Kamera, Buch und Regie: Gerhard Benedikt Friedl

Beides aus Anlass des ersten Todestags von Werner Dütsch, der die Filme als WDR-Redakteur betreut hat.

Über DER CHAMPAGNER-SPRINGBRUNNEN hat Dütsch geschrieben:

»Freizeit gibt es immer mehr. Aber was damit tun? Müsste sie nicht organisiert werden? Als die Arbeit an diesem Film begann, stellte sich schnell heraus, dass unzählige Unternehmen damit beschäftigt sind, den Freizeitlern die Zeit zu ordnen und Vergnügungen verschiedenster Art anzubieten. Eine neue blühende Branche, die offenbar einen großen Bedarf zu decken hat. Der Film gibt Anlass zum Gelächter. Aber ist das wirklich zum Lachen?«

Einen Tag später, am 12. Dezember, erneut im FILMCLUB 813 zur gleichen Zeit ein Lieblingsfilm Dütschs.

Sonntag, 08.12.2019

Paratexte der FILMKRITIK (13): Ein aktuelles Angebot

Wer wissen will, welches aktuelle Angebot die Leser der FILMKRITIK in diesem DIN A5-Umschlag erwartete, muss hier klicken.

Der Umschlag war im Februarheft 1974 (Nr. 206) – dem mit der fantastischen Montage von Wolf-Eckart Bühler auf dem Titel („Zur Kulturgeschichte des Planeten Erde – Eva, Adam, die Schlange, die natürliche Natur und Onkel Donald.“) Im Hauptteil des Hefts der zweite Teil der Übersetzung des CAHIERS-Texts zu YOUNG MR. LINCOLN VON JOHN FORD, dazu kommentierende Texte des Übersetzers Paul B. Kleiser sowie Bühlers, der das Heft redaktionell betreut hat.

Mittwoch, 04.12.2019

Gerhard Friedl – Operativer Film

Von Gerhard Benedikt Friedls ebenso schmalen wie verblüffenden Werk war hier schon häufiger die Rede. Inzwischen ist ein Buch erschienen, das sich als Arbeitsbuch versteht und Gespräche, Fotografien und Dokumente zu Friedls zwischen 1992 und 2009 entstandenen Filmen und Videoarbeiten versammelt.

Im Berliner Kino Arsenal wird am 5. und 7. Dezember Gelegenheit sein, alle fertiggestellten Arbeiten Friedls in drei Programmen wiederzusehen oder kennenzulernen. Zu Gast ist am 5.12. Ivette Löcker (*), die 2001 als Rechercheurin und Produktionsleiterin mit Friedl gemeinsam an HAT WOLFF VON AMERONGEN KONKURSDELIKTE BEGANGEN? gearbeitet hat. Von ihr stammen die beiden Recherchefotos oben (das Projekt hieß zu diesem Zeitpunkt noch TOTE ARBEIT).

Bei den Vorführungen am Samstag, 7.12. werden Philip Widmann (*) – beteiligt am Buch u.a. durch ein Gespräch mit Ivette Löcker – und Laura Horelli (*), Co-Regisseurin der beiden Videoarbeiten SHEDDING DETAILS und THE „FRONTIER“ OWNERS zu Gast sein.

Die Auftaktveranstaltung mit HAT WOLFF VON AMERONGEN KONKURSDELIKTE BEGANGEN? ist, wie das Buch auch, dem Andenken an Werner Dütsch gewidmet, der am 5.12.2018 starb. Friedls Film war einer der letzten, den Dütsch als Redakteur der WDR Filmredaktion 2004 vor seiner Pensionierung betreute.

[Gerhard Friedl. Ein Arbeitsbuch, hg. von Volker Pantenburg, Wien: Synema/Österreichisches Filmmuseum 2019.]

Sonntag, 01.12.2019

Auge und Umkreis (VII)


Mr. Moto Takes a Chance (1938 Norman Foster)

Als er seine Brille zum Putzen vor sich hochhält, erkennt Mr. Moto (Peter Lorre) darin gespiegelt: die Messerattacke!


Dear Murderer (1947 Arthur Crabtree)

Sie (Greta Gynt), die in den Spiegel schaut, muss sich fürchten vor dem Blick, der im Dunkel auf sie lauert. Zuhause.


Cage of Gold (1950 Basil Dearden)

Zum Schminkspiegel gehört der Handspiegel.
Als ihr Blick sich von diesem löst, sieht sie (Jean Simmons) klar: Den Falschen hat sie geheiratet.

„Was ich in diesem Augenblick empfand, kann ich am besten beschreiben, wenn ich jenen Alptraum meiner Kindheit heraufbeschwöre – das Entsetzen, das es für mich bedeutet, wenn ich an einem Tisch sitze, den Blick auf meine beste Freundin richte und plötzlich sehe, dass diese Person eine Fremde ist.“ (Agatha Christie: „Meine Gute Alte Zeit“, 1950-1965)


The Woman in Question (1950 Anthony Asquith)

Ein britisches Rashomon. Ein Frauenportrait, misogyn.
Der Handspiegel verdeckt ihre Sicht. Das Ganze ist eine Rückblende, während der Detektiv und der Mörder in ein Goldfischglas schauen.


Murder Without Crime (1950 J. Lee Thompson)

„Es ist für unsere Betrachtung wichtig, dass es Menschen gibt, von denen jemand fühlt, er werde nie wissen, was in ihnen vorgeht. Er werde sie nie verstehen. (Engländerinnen für Europäer.)“
(Ludwig Wittgenstein, 1948)

In ihrer Autobiografie, in der der Einleitung, datiert 1950, sagt Agatha Christie, dass sie sich selbst nicht so ganz kennt.

Sie war ein Jahr jünger als er. Er war ein großer Fan von ihr. Beide, sowohl Wittgenstein als auch Agatha Christie, schrieben im ersten Weltkrieg ihr erstes Buch.

Er war DER Philosoph des 20.Jahrhunderts. Sein Traktat erklärt, dass alles, was keine Tatsachenaussage ist, „unsinnig“ sei, also ausdrücklich auch sein Traktat.

Sie war DIE Krimiautorin des 20.Jahrhunderts. Ihr erster Welterfolg erzählt von einer Mördersuche, an deren Ende der Erzähler überführt wird.


Olivia (1951 Jacqueline Audry)

Eine Engländerin in Frankreich, allein unter Französinnen.

Die menschliche Natur ist überall dieselbe“ sagt Miss Marple, in „Das Geheimnis der Goldmine“.

Nachdem er im Frühwerk frech der Wissenschaftssprache zu „schweigen“ gebot, entdeckte Wittgenstein an der Alltagssprache: Die Sprache ist immer auch Tun. „Worte sind Taten.“

Agatha Christie kam in ihrem Meisterwerk „Vorhang“ (geschrieben im 2. Weltkrieg, aber 30 Jahre später erst veröffentlicht) zu dem Schluss: Sprache ist ein Tötungsinstrument.


Don’t Bother To Knock (1952 Roy Ward Baker)

Die Babysitterin (Marilyn Monroe) ist suizidal und einsam, wie es schlimmer nicht geht. Was dem Mann (Richard Widmark) fehlt, ist Empathie.
Nach einer Vorlage von Charlotte Armstrong, Chabrol verfilmte zwei ihrer Bücher.


Sudden Fear (1952 David Miller)

Drehbuchautorin Lenore Coffee erzählt: „I ran away from home when I was fourteen. My plot sense was already developed because it took them two days to find me.“ Von den Eltern nach dem Grund gefragt, sagte sie: Langeweile. Zur Strafe kam sie in eine Klosterschule mit „french nuns“. Das gefiel ihr, sie wurde katholisch und lernte Latein. Schon mit 4 Jahren hatte sie sich selbst (irgendwie) das Lesen beigebracht.

Auch Agatha Christie hat, ohne fremde Hilfe, mit vier schon das Lesen erlernt. Ihr Schreibtalent sah sie rückblickend in einer ganzen Schar imaginärer Spielkameraden angekündigt.


Man in the Attic (1953 Hugo Fregonese)

Der unheimliche Untermieter (Jack Palance) sagt: “The police are searching for a criminal. In reality, there are no criminals, only people who do what they must do because of what they are.”
Es zieht ihn hin zu dem „in dunkler Ruhe dahinströmenden Wasser der Themse, das ewigen Frieden verspricht.“ (Christoph Huber)

„Wittgensteins Philosophie ist sein Selbstheilungsversuch, zur Ruhe zu kommen, alle philosophischen Sinnprobleme zum Verschwinden, insbesondere das eigene Selbst (die Einsamkeit des Solipsisten, des Einzigen) hinter sich zu bringen, fähig zu sein, das Philosophieren (also die Therapie) abzubrechen.” (Günter Schulte)


Ciske de Rat (1955 Wolfgang Staudte)

Der Vater ist Seemann. Die Mutter ist das Problem. Der Dreizehnjährige löst es im Affekt. Halb Paukerfilm, halb Apologie des Muttermords.

„Nur wo die Mischung zwischen Aggression und Libido nicht zustande kommt oder wo später Entmischungen vorfallen, wird die Aggression (als reine Aggression oder Destruktion) zur Bedrohung des sozialen Verhaltens. (…) Wo die Fusion zwischen Aggression und Libido sich nicht durch neue geglückte Objektbindungen wiederherstellt, geht der weitere Entwicklungsweg zur Verwarlosung und Kriminalität.” (Anna Freud: „Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung“, 1965)


The Bad Seed (1956 Mervyn LeRoy)

„Für den plötzlichen Schrecken, das Gefühl von Verdammnis gibt es keinen Grund, außer dass die Umstände alle den inneren Zweifel, die innere Furcht spiegeln.” (Sylvia Plath, 1956)


Smultronstället (1957 Ingmar Bergman)

„Ich war immer außerordentlich robust gewesen und konnte mir gar nicht vorstellen, dass Kummer, Sorge und Überarbeitung eine echte Bedrohung der Gesundheit darstellen. Aber ich erlitt einen Schock, als ich eines Tages einen Scheck unterschreiben wollte und mich nicht an meinen Namen erinnern konnte.
‚Aber natürlich‘, sagte ich laut vor mich hin, ‚natürlich kenne ich meinen Namen. Aber … aber wie lautet er?‘“
(Agatha Christie: „Meine gute alte Zeit – Die Autobiographie einer Lady“)


Murder by Contract (1958 Irving Lerner)

„Es gehört zum paradoxen Wesen des Kunstwerks, dass es einerseits einen Übergangscharakter trägt und sich als geschichtliches Phänomen in eine chronologische Reihe eingliedert, andererseits diesen transitorischen Charakter und den Zusammenhang mit anderen künstlerischen Erscheinungen von sich abstreifen und als vollkommen isolierter, beispiel- und beziehungsloser Einzelfall dastehen muss, um zum Gegenstand eines unmittelbaren, affektbetonten mikrokosmischen, auf die Lebenstotalität bezogenen Erlebnisses zu werden.“ (Arnold Hauser: Kunst und Gesellschaft)


The Brides of Dracula (1960 Terence Fisher)

Sie müsste sich umdrehen, um den Mann zu sehen, der im Spiegel unsichtbar ist.

Agatha Christie hatte ein schlechtes Personengedächtnis. „Ich kann wirklich nicht sagen, daß ich ‚nie ein Gesicht vergesse’. In Wahrheit ist es eher so, daß ich mich ‚nie an ein Gesicht erinnere’”

Wittgenstein sagte (zu seinem Studenten Drury), wie sehr ihm Agatha Christies Bücher gefielen. Nicht nur auf Grund der genialen Plots, sondern auch wegen der Figuren, die so gut gezeichnet seien, dass sie als wirkliche Menschen erschienen.


Charles Allan Gilbert: All is Vanity (1892)

„Meine Schwester hatte ein Spiel erfunden, das mich gleichzeitig bezauberte und zu Tode erschreckte. Es hieß ‚Die ältere Schwester’. Es ging davon aus, dass es in unserer Familie eine ältere Schwester gab, älter als Madge und ich. Sie war wahnsinnig und lebte in einer Höhle bei Corbin’s Head, kam aber manchmal zu uns nach Hause. Im Aussehen war sie von meiner Schwester nicht zu unterscheiden, wohl aber in ihrer Stimme. Es war eine erschreckende, weiche, ölige Stimme.
‚Du weißt, wer ich bin, nicht wahr, Schätzchen? Ich bin deine Schwester Madge. Du glaubst doch nicht, ich wäre jemand anders, oder? So etwas kommt dir doch nicht in den Sinn, nicht wahr?’
Panische Angst befiel mich. Natürlich wußte ich, dass es nur Madge war, die mir etwas vormachte – aber war sie es auch wirklich? Diese Stimme, diese Augen, die mich tückisch von der Seite ansahen. Es war die ältere Schwester!“
(Agatha Christie: “Meine gute alte Zeit”)


Naked City – Which Is Joseph Creeley? (1961 Arthur Hiller)

„Alles ist grau,“ sagt Joseph Creeley (Martin Balsam).

„Ein Mann, welcher bewusstlos im Typhus liegt, erwacht eines Tages, glaubt aber zwei Körper zu haben, die in zwei verschiedenen Betten liegen, von denen der eine genesen ist und einer köstlichen Ruhe genießt, während der andere sich elend befindet. – Ein Polizeisoldat, welcher durch mehrere Schläge auf den Kopf eine Gedächtnisschwächung erfuhr, glaubte aus zwei Personen von verschiedenem Charakter und Willen zu bestehen, welche beziehungsweise in der rechten und linken Körperhälfte ihren Sitz hatten. – (…) Eine bekehrte Prostituierte wurde in ein Kloster aufgenommen, verfiel in religiösen Wahnsinn, worauf Stupidität folgte. Dann folgt eine Zeit, in welcher sie abwechselnd Nonne und Prostituierte zu sein glaubt und sich dementsprechend benimmt.“
(Ernst Mach: „Reflex, Instinkt, Wille, Ich.“)


Night of the Eagle / Burn, Witch, Burn (1962 Sidney Hayers)

Ein radikaler Kämpfer gegen den Aberglauben muss begreifen lernen, dass seine Frau ihn liebend unterstützt und vor Feinden auf dem akademischen Feld beschütz – mittels Hexerei.

„Ich bin in England. Alles um mich herum sagt es mir, sowie ich meine Gedanken schweifen lasse und wohin immer, so bestätigen sie’s mir. – Könnte ich aber nicht irre werden, wenn Dinge geschähen, die ich mir jetzt nicht träumen lasse?“
(Wittgenstein: „Über Gewissheit“, 1951)


Naked City – King Stanislaus and the Knights of the Round Table (1962 James Sheldon)

“If Baby Looks Like Mother” / “If Baby Looks Like Father” Eine Studie in Selbsthass.

Noch bevor wir das Aussehen, die Talente und die Krankheiten von unseren Eltern erben, da treten wir schon das erste Erbe an: ihre Ängste. Das Vorauserbe Angst.


Les Doulos (1962 Jean-Pierre Melville)

Man sagt, Darwin hätte jedes Mal, wenn er einen Pfau betrachtete, Übelkeit verspürt.

„Als ein Grundgesetz der Naturgeschichte könnte man es, glaube ich, betrachten, dass, wo immer etwas in der Natur ‚eine Funktion hat’, ‚einen Zweck erfüllt’, dieses selbe auch vorkommt, wo es keinen erfüllt, ja ‚unzweckdienlich’ ist.
Erhalten die Träume manchmal den Schlaf, so kannst du darauf rechnen, dass sie ihn manchmal stören; erfüllt die Traumhalluzination manchmal einen plausiblen Zweck (der eingebildeten Wunscherfüllung), so rechne darauf, dass sie auch das Gegenteil tut.“
(Wittgenstein, 1948, Vermischte Bemerkungen)


Transport z raje (1963 Zbynek Brynych)

Brynych: „Spiegel sind einfach faszinierend. Das hat damit zu tun, dass die Menschen einander selbst fremd sind.“


Goldfinger (1964 Guy Hamilton)

James Bond sieht im Auge der Frau nicht sich selbst, sondern den fremden Angreifer gespiegelt.

In The Mummy’s Shroud (1966 John Gilling) sieht ein Archäologe in der Kristallkugel einer Wahrsagerin die mörderische Mumie – gespiegelt, direkt hinter sich.


Bunny Lake is Missing (1965 Otto Preminger)

Der erschrockene Blick gilt der klaffenden Lücke auf einer Badezimmerablage.
Die „Filmsprache“ muss, wie Klaus Wyborny bemerkte, ohne das wichtige Wort „Nein“ auskommen, aber manche Filme finden Wege, das Nichts zu zeigen – und die Angst davor zu wecken.


Belphegor (1965 Claude Barma)

Zu blauen Wolken trug mein Sehnen mich
Mein Fuß ging fehl. Des Lebens Traum verblich
Nun bin ich weiß. Heimlich im blanken Spiegel
Bedauern sich mein Spiegelbild und ich.
(Dschang Giu-Ling: „Selbstbetrachtung“;
übersetzt von Günther Debon)


The Night of the Generals (1967 Anatole Litvak)

Ein Mörder wird gesucht unter deutschen Generälen. Die Nadel im Nadelkissen.


The Detective (1968 Gordon Douglas)

Im Rückspiegel sieht der Polizist seine Frau mit einem anderen Mann.


Zur Sache Schätzchen (1968 May Spils)

Er (Werner Enke) lässt sich von ihr (Uschi Glas) einen Spiegel geben, schaut hinein und sagt: „Es wird böse enden.“

Ihren Versuch, seine Furcht vor dem Altwerden zu zerstreuen, nennt er: Pseudophilosophie.


Midnight Cowboy (1969 John Schlesinger)

Die heutige Jugend sagt laut:
Der Weltuntergang wird kommen
und die Generation nach uns treffen.

Die Alten sagen bedächtig:
Wir haben die Autoindustrie
von unseren Kindern nur geliehen.



This Island (1970 Leo Hurwitz & Peggy Lawson), Kamera: Manfred Kirchheimer / via

Ein Museum ist eine Insel. Dieser Kurzfilm portraitiert das Detroit Institute of Art – und seine nähere Umgebung. Volker Pantenburg wies mich darauf hin, wie gut der Film unter die Überschrift “Auge und Umkreis” passt.

Max Goldt hat mal festgestellt, wie gerne wir im Museum aus dem Fenster schauen. Ein möglicher Grund dafür kann sein: Wie intensiv die Bilder uns ansehen!


T.R. Baskin (1971 Herbert Ross)

Sie (Candice Bergen) sagt,
ihr Vorname – T.R. – sei: Thelma Ritter.

„Teil zu sein von etwas, das man überhaupt nicht versteht, ist, so meine ich, einer der faszinierendsten Aspekte des Lebens.“ (Agatha Christie, in der Einleitung zu ihrer Autobiografie, 1950, im Irak)

Im Kino setzte sich Wittgenstein immer in die erste Reihe.


Mon oncle Antoine (1971 Claude Jutra), Kamera: Michel Brault

1966 dokumentierten Brault & Jutra traumhaft schön das Rollbrettfahren in Montreal: Rouli-roulant / The Devil’s Toy

Agatha Christie erlernte auf einer Weltreise im Jahr 1922 das Surfen.


Das so genannte Normale (1974 Bernd Dost)

Im Dezember 1926, nach einem heftigen Streit mit ihrem untreuen Ehemann, ereignete sich das bis heute ungeklärte Verschwinden der Agatha Christie. Ihr Auto wurde an einem Kreidebruch gefunden. Mehr als tausend Polizisten und 15.000 Freiwillige durchkämmten die Landschaft. Sir Arthur Conan Doyle gab, um sie zu finden, einem spiritistischen Medium einen von Christies Handschuhen. Erst nach zehntägiger Suche fand man sie in einem Hotel in Yorkshire, eingetragen unter dem Namen der Geliebten ihres Mannes. Zwei Ärzte diagnostizierten einen Gedächtnisverlust. Vermutet wurde hingegen, die Krimiautorin habe ihren Noch-Ehemann zumindest vorrübergehend einem öffentlich um sich greifenden Mordverdacht aussetzen wollen.


Profondo Rosso (1975 Dario Argento)

Wittgenstein, 1946: „Den Wahnsinn muss man nicht als Krankheit ansehen. Warum nicht als eine plötzliche – mehr oder weniger plötzliche – Charakteränderung? Jeder Mensch ist (oder die Meisten sind) misstrauisch, und vielleicht gegen die Verwandten mehr, als gegen Andere. Hat das Misstrauen einen Grund? Ja und nein. Man kann dafür Gründe angeben, aber sie sind nicht zwingend. Warum soll ein Mensch nicht plötzlich gegen die Menschen viel misstrauischer werden? Warum nicht viel verschlossener? (…) Und viel unzugänglicher?“


Dressed to Kill (1980 Brian de Palma)

Begegnung im Museum… Messer und Spiegel und Auge und Opfer und Mörder… ein Kreis alter Bekannter.

Der Konvexspiegel dient, den Raum zu überblicken und Gefahren zu erkennen.


The Man With Two Brains (1983 Carl Reiner)

Im Vorbeigehen sieht der Hirnchirurg (Steve Martin) im Konvexspiegel auf dem Weg zum OP, dass sich seine Kollegen (schon wieder?) den Scherz erlaubt haben mit diesen Hasenohren.


Dark (2017 Paul Schrader)

Der CIA-Agent (Nicolas Cage) kann sich an seinen Namen nicht erinnern.
„Man kann sagen, Schrader sah selbstkritisch ein, dass er den Film zu ‚normal’ gedreht hatte. (…) Ein nie dagewesenes Bilderdelirium, eine 15-minütige Schnitt- und Ton-Orgie, eine Direktübertragung aus Nicolas Cages sterbendem Gehirn, beendet die neue Version.“ (Dominik Graf)


Neue Götter in der Maxvorstadt (2019 Klaus Lemke)

Wittgenstein, 1951: „Wenn ich sagte ‚Ich bin nicht auf dem Mond gewesen – aber ich kann mich irren’, so wäre das blödsinnig.
Denn selbst der Gedanke, ich hätte ja, durch unbekannte Mittel, im Schlaf dorthin transportiert worden sein können, gäbe mir kein Recht, hier von einem möglichen Irrtum zu reden. Ich spiele das Spiel falsch, wenn ich es tue.
Ich habe ein Recht zu sagen ‚Ich kann mich hier nicht irren’, auch wenn ich im Irrtum bin.“


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