2019

Samstag, 17.08.2019

Filme der Fünziger LII: Die Barrings (1955; R: Rolf Thiele)

Die über Generationen reichende Familiengeschichte, heute pompös zur „Saga“ erhoben, konzipiert der  Film der fünfziger Jahre als eine in die Vergangenheit gerichtete Verlustgeschichte. Die großen Landsitze, die „Stammgüter“ der alten Familien, sind verloren; Schuldige sind die Zeit, die sich wandelnden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umstände und – fast möchte man sagen natürlich – eine fehlgeleitete erotische Leidenschaft. Schicksal eben.
Die Barrings spielt in der Zeit von 1880 -1900, zur Zeit von Bismarcks Entlassung und dem Beginn des Wilheminismus, aber, so Rolf Thiele, Regisseur und Co-Drehbuchautor: “Der politische Hintergrund tritt zurück, und nur ein grundlegendes Thema beherrscht den Film, ein zeitloses Problem: das Geschick einer Familie und die verhängnisvollen Folgen, die aus falscher Partnerwahl entstehen können.“ Der Film entstand nach dem Buch von William von Simpson, einem Wälzer von 787 Seiten, der 1937 erschien und mit 1,7 Millionen Auflage in jedem gutbürgerlichen Haushalt stand. Eine Eheberatungs-Studie zur richtigen Partnerwahl wurde daraus auch im Film nicht, Die Filmwerbung trifft es schon richtiger: „Ein Großfilm von deutschen Menschen, in deutscher Heimat – Ein altes deutsches Geschlecht zerbricht an dem Leichtsinn einer lebenslustigen jungen Frau.“ Und so weiter.

Ein geselliger Abend im Hause des Baron von Eyff (Heinz Hilpert). Gerda von Eyff tanzt und flirtet mit Graf Wilda (Jan Hendriks).  Baron von Eyff will Gerda mit Fried von Barring (Dieter Borsche) verheiraten. „Ich habe alles auf eine Karte gesetzt,; wenn Du Barring heiratest, sind wir aus dem Schneider; wenn nicht, sind wir pleite.“ Aber die Barrings kommen nicht, denn der Vater Archibald (Paul Hartmann) weiß genau, dass es nur um Geld geht. Und „Gerda passt nicht nach Wiesenburg“. Zuvor haben wir schon Gerda gehört, schneidend und entschlossen: „Ich werde Fried heiraten, ob er heute kommt oder nicht.“ Als Fried doch noch zum Fest kommt, ist er nur noch Staffage.

Nadja Tiller

Verlobungsfeier bei den Barrings. Der Vater hält eine Rede, eine Hymne auf seine Frau (Lil Dagover), eine Mahnung an seine Schwiegertochter, sich ebenso einzufügen Die Kamera fasst die Szenerie in einem Top-Shot ins Bild. Und ebenfalls aus der Obersicht sehen wir Fried und seinen Vater an einer Kutsche auf Gerda warten. Als Gerda endlich kommt, ist der Vater schon gegangen. 35 Minuten ist Gerda zu spät! „In seinem ganzen Leben hat mein Vater noch nicht eine Minute auf seine Frau warten müssen.“

Lil Dagover, Paul Hartmann an den Geweihen und Lil Dagovers Bild zwischen den Pferden

Die wartet, das sehen wir später, bis spät in die Nacht mit dem Abendbrot auf ihren Mann. So war sie, die gute, alte Zeit.
Gerda ist anders, Gerda will das Leben geniessen. Und sie baut ihr Gutshaus um, mit Marmortreppe, Springbrunnen und Terrasse, kauft teure Kleider und gibt Gesellschaften, auch wenn ihr Mann
nicht zu Hause ist. „Sie ist wie ein wildes Pferd, die kannst du nur auf Kandarre reiten und mit Peitsche“, sagt der alte Barring zu seiner Frau, die zur Geduld mahnt. Die Kamera fährt langsam zurück und verwandelt das Gespräch in einen Beschluss.
Fried ist dafür zu schwach; Gerda bekommt ein Kind und alles scheint wieder im Lot. Aber die Schulden bleiben und Gerda gibt weiterhin das Geld mit vollen Händen aus. Frieds Liebe verwandelt sich in Hass. „Die Hexe!“ Gerda wendet sich an den Vater. Sie wolle doch nur glücklich sein mit Fried. Da kommt sie aber an den Falschen. „Heutzutage wollen die jungen Leute auch noch glücklich werden im Leben – davon hat der liebe Gott nichts gesagt.“

Nadja Tiller, Erik von Loewis, Eugen Bergen und Dieter Borsche

Der Vater stirbt; Fried hat einen schweren Unfall, er ist jetzt gelähmt, war ja sowieso kein Mann mehr „Vom Schreibtisch aus kann man ein Gut nicht leiten“, erklärt Gerda mit hartem Ton und will das Gut verkaufen. „Nein!“ ruft Fried, muss aber den Kaufvertrag unterschreiben und bricht im selben Augenblick tot zusammen. Und so verlässt Gerda mit ihrem Sohn das Gut; der blickt nochmal zurück, aber Gerda wendet seinen Kopf nach vorn.

Es ist, in historische Kostüme gekleidet, das alte Nachkriegs-Lügenmärchen, dass die junge Generation verspielt, was die Väter aufgebaut haben. In Nadja Tillers Blick liegt dafür nur Verachtung. Sie kennt ihre Macht und ist entschlossen, sie zu gebrauchen. Tiller spielt das so perfekt perfide, dass die penetrant beschworene Weiblichkeitsrolle der Dulderin dagegen keine wirkliche Chance hat. Günter Anders Kamera fasst die altbackene Geschichte in tief gestaffelte Bilder, in denen sich die Personen in ihren jeweils eigenen Charakterräumen bewegen. Es ist, als lasse Anders seine Kamera gegen die Ideologie des Stoffes sprechen, als argumentierte er mit seinen Bildern dafür, dass das Leben komplizierter und reicher ist als es uns die Erzählung glauben machen will.

DVD bei Filmjuwelen
Präzisierungen zu filmportal:
Geschäftsführung: Günther Klein; Kasse: Hans Mühlberg; Produktionssekretärin: Sigrid Ruttke; Presse: Erwin Peter Close; Atelier-Sekretärin: Anneliese Gubitz; Garderoberiere: Annie Loretto; Aussenrequisite: Kurt Squarra; Innenrequisite: Paul Prätel, Waldemar Hinrichs
Dreharbeiten: 20. Juli 1955 – 16. August 1955 im Atelier Göttingen; Aussenaufnahmen: 16. – 30. August 1955 in und um Göttingen; vom 31. August bis 2. September 1955 in Verden an der Aller.

Donnerstag, 15.08.2019

Auge und Umkreis (V)


Reign of Terror (1949 Anthony Mann)

Ins dunkle Zimmer (Kamera: John Alton), wo gerade ein Mord geschah, tritt eine Frau (Arlene Dahl), die, als der Spiegel wieder vertikal zurechtgerückt ist, ihren Schleier hebt.

Der Film ist so voll von Drehungen und Enthüllungen, dass er die Arbeit des Traumes ebenso gut wiedergibt wie das Getriebe staatlichen Terrors.

Läuft morgen, am Freitag, den 16. August, um 18:00 im Frankfurter Filmmuseum

Freitag, 05.07.2019

Filme der Fünfziger LI: Das doppelte Lottchen (1950; R: Josef von Baky)

Es war die Zeit der bedeutungsschweren, tiefernsten Filme, es war die Zeit von Epilog ( 1950; Regie: Helmut Käutner), Der fallende Stern (1950; Regie: Harald Braun) und Es kommt ein Tag (1950; Regie: Rudolf Jugert). Das waren bemerkenswerte Arbeiten, aber sie ließen ihr Publikum mit bleischwerem Gemüt und dunkel grundierten Fragestellungen zurück. Und das Leben war doch schon schwer genug. Von der Suche nach den einfachen Antworten und eingängigen Geschichten profitierte unter anderem das Schwarzwaldmädel (1950; Regie: Hans Deppe); auch zu den Revuen von Geza von Cziffra konnte man flüchten, spürte allerdings unter dem Pomp und Aufwand immer eine Art kleinbürgerlichen Luxusersatz. Das Publikum trank Kaffeeersatz zum Frühstück, strich Kunsthonig statt Bienenhonig aufs Brot, und jetzt dasselbe auch noch im Kino. Oder eben Schwarzbrot.
„Eine Oase in der Wüste des deutschen Films“ nannte der Dichter Martin Beheim-Schwarzbach Das doppelte Lottchen; er sah den Film 1950 auf der Pen-Tagung in Wiesbaden, auf der sich auch Drehbuchautoren mit der deutschen Pen-Sektion trafen. Das Glück der Oase hielt nicht lange vor; Günter Weisenborn wütete wahrscheinlich völlig zu Recht, aber nicht sehr geschickt gegen die bundesdeutsche Filmindustrie. Auf die Frage: „Wo steht der deutsche Film“, antwortete Weisenborn: „Auf der Hintertreppe, dort, wo sie am schmutzigsten ist.“ Erich Kästner unterschied in feiner Stichelei zwischen den Dichtern (also sich und seinen Pen-Kollegen) und den (Drehbuch)-Autoren („Das Drehbuchschreiben kann man in drei Wochen erlernen“), was den Drehbuchautor Wolf Neumeister zu einer beleidigten Replik veranlasste.
War Das doppelte Lottchen nicht ein Kinderfilm? Ja, zwei Kinder – die Zwillinge Isa und Jutta Günther – spielten die Hauptrollen, aber die verhandelten und gelösten Probleme kannten die Erwachsenen sehr genau. Ungewollte Trennung der Familienmitglieder, individuelle statt gemeinsame Lebenserfahrungen, schlimmstenfalls Fremdheit gegenüber dem einstigen Partner, Kind oder Vater. Bei aller Hoffnung, die Sicherheit des Familienverbundes oder wenigstens stabile Verhältnisse
wiederherzustellen, schwang auch immer die bange Frage mit, ob es denn nochmal gelingen oder nicht doch im Scheitern desaströs enden könnte. Doch da gab es Erich Kästner, der im Film leibhaftig als Lenker und Kommentator präsent ist; mit seiner in milder Ironie gefärbten Sprache dimmt er alle Probleme auf eine lösbare, ja federleichte Ebene herunter. Herzschmerz und echte Tränen gehören als emotionales Brausen in sein Poesiealbum, Hürden müssen genommen werden, damit die Geschichte verdientermaßen in das märchenhafte Glück der wiederhergestellten Unschuld mündet.
Und alle – mit Ausnahme der Dichter der deutschen Pen-Sektion – wollten wieder unschuldig und wunschlos glücklich sein. So wurde Das doppelte Lottchen ein Erwachsenen- und Familienfilm und ein riesiger Erfolg.

Küche in München

Lotte und Luise sind Zwillinge, die eine brav, die andere frech; sie sehen sich das erste Mal in einem Ferienheim für Kinder in Seebühl am Bühlsee. Beide sind zutiefst erschrocken. „Sie hat Angst, die Neue mit den Zöpfen“, spricht Kästner im Off. „Man steht einander nicht alle Tage gegenüber als sehe man in den Spiegel. Was wird daraus werden?“ Die beiden entdecken, dass sie nicht nur am selben Tag geboren sind, sondern auch die gleichen Eltern haben. Lotte lebt mit ihrer Mutter (Antje Weisgerber) in München, Luise mit ihrem Vater, dem Kapellmeister und

Komponisten Palfi (Peter Mosbacher) in Wien. Nein, die Mutter hat keinen neuen Freund, der Vater keine neue Freundin. Lotte weiß es genau: “Mutti sagt immer, sie hat mich und ihre Arbeit, sonst will sie nichts vom Leben.“ Beide beschließen, ihre Identitäten zu tauschen. Lotte fährt als Luise nach Wien, Luise als Lotte nach München. Dafür schreiben sie sich auf, welche Wege und welche Aufgaben sie täglich bewältigen. Luise hat

Küche in Wien

es schwerer als Lotte, denn sie muss nun jeden Tag für ihre Mutter das Essen vorbereiten. Das gelingt nicht gleich. “Entschlossenheit genügt vielleicht, um vom Rathausturm zu springen, aber nicht, um Nudeln mit Rindfleisch zu kochen. Es ist nicht leicht, seine eigene Schwester zu sein“, kommentiert Kästner. Die Mutter bringt

abends noch Arbeit mit nach Hause, der Vater dirigiert abends, tagsüber komponiert er in seinem Atelier. Er lädt seine Tochter zu einer Opernvorstellung von „Hänsel und Gretel“ ein; Lotte sitzt im besten Kleid und dicker Haarschleife in der Loge und winkt ihrem Vater zu; eine junge hübsche Frau (Senta Wengraf als Irene Gerlach) setzt sich zu ihr und grüßt den Vater mit einer verstohlenen Geste. Eine Heimlichkeit. In der Nacht träumt Lotte von der Oper; Irene Gerlach wird zur Hexe, der Vater

Die Stiefmutter-Hexe (Senta Wengraf)

trennt das Bett der Zwillinge mit einer riesigen Säge.
Im München wundert sich die Mutter über die zunehmende Frechheit ihrer Tochter. „Als berufstätige Frau weiß man zu wenig von seinem Kind“, erklärt sie der Direktorin der Schule und verteidigt tapfer ihre Tochter. Am Wochenende geht sie mit Luise in den Bergen wandern. Bergwelt, Schafe, Almhütte, Blicke ins Tal. Und natürlich immer schönes Wetter. „Ach, Mutti!“

In Wien rücken Frau Gerlach und Herr Palfi immer näher zusammen. Lotte besucht ihren Vater in seinem Atelier; Irene Gerlach steht am Klavier – darauf ein Cognacglas -, Palfi komponiert. Lotte serviert Kaffee und stört mit betonter Harmlosigkeit das Tête-à-Tête. Palfi erklärt seiner Tochter,

Rendezvous am Klavier mit Cognac (Peter Mosbacher und Senta Wengraf)

dass Irene und er heiraten wollen. „Nein!“ antwortet die Tochter mit Tränen in den Augen. Und sie geht zu Irene Gerlach, um ihr die Heirat zu verbieten. Das raffinierte Biest.

Weil das nicht nutzt, wird Lotte krank. „Nervenfieber“, konstatiert der Hofrat. Palfi wacht die Nacht über an ihrem Bett, ignoriert Telefonanrufe von Irene Gerlach.
In München gibt der Bildredakteur einer Illustrierten seiner Mitarbeiterin – so erfahren wir jetzt, was für einen Beruf die Mutter hat – ein Foto der Zwillinge, das in Seebühl am Bühlsee aufgenommen wurde. Die Mutter entdeckt die Charade, fährt mit Luise nach Wien. „Die Zeit vergeht; sie weiß es nicht besser.“ (Kästner). Zu ihrem Geburtstag wünschen sich die Zwillinge, dass die Eltern wieder zusammenkommen. Und so geschieht es. Die Mutter: „Ich hätte nie geglaubt, dass man Glück nachholen kann wie eine versäumte Schulstunde.“ Eheglück, Mutterglück, Kinderseligkeit – und das nach sieben Jahren. Wer’s glaubt, wird selig.
Produzent Günther Stapenhorst hatte schon als Produktionsleiter bei der Ufa mit Kästner bei der ersten Verfilmung von Emil und die Detektive (1931; R: Gerhard Lamprecht) zusammengearbeitet. Regisseur Josef von Baky kannte Kästner, damals unter dem Pseudonym Berthold Bürger, durch seine Arbeit an dem Ufa-Jubiläumsfilm Münchhausen (1943). Für Baky schrieb Kästner bereits 1943 ein Drehbuch zu „Das doppelte Lottchen“; daraus wurde nichts, denn nach Münchhausen erhielt Kästner wieder Schreibverbot. „Das doppelte Lottchen“ veröffentlichte er 1949 als Roman und schrieb 1950 für Stapenhorst das Drehbuch. Kästner prägt den Film durch seine Überleitungen und seine Kommentare. Er verknüpft geschickt die Parallelhandlungen, schildert ironisch innere Befindlichkeiten wie etwa die Nöte der kochunkundigen Luise und konstruiert nebenbei verbale Cliffhanger: „Was wird das wohl werden?“ oder spielt mit Erfahrungen der Nachkriegsgeneration: „Vom Waffenstillstand bis zum Frieden ist ein weiter Weg – auch bei Kindern.“ Kästners Tonfall prägt den Film, Josef von Bakys Regie ist fast nicht spürbar. Baky ist ein unsichtbarer Meister der Verzauberung. Luise sitzt, als sie als Lotte zu ihrer Mutter gefahren ist, mutterseelenallein auf dem Bahnsteig, ein eindringliches Bild der Verlassenheit, als sei es aus einem bitteren Heimkehrerfilm. Aber da kommt schon die Mutter, und alles wird gut.
Romy Schneider wünschte sich Baky als Regisseur für Robinson soll nicht sterben (1955); nur unter dieser Bedingung mochte sie das zweite Mal Sissy spielen. Thomas Koebner schrieb zum 100. Geburtstag von Baky eine Hommage unter dem Titel „Der Traum von Versöhnung“.
Das doppelte Lottchen erhielt 1951 den ersten Bundesfilmpreis für den besten Spielfilm und belegte den dritten Platz unter den erfolgreichsten Filmen der Saison 1950/1951.

Er wurde als deutscher Beitrag 1951 für die Filmfestspiele in Venedig nominiert und ging dort neben Titeln wie Rashomon (Japan 1950; R: Akira Kurosawa) und A Streetcar named Desire (USA 1951; R: Elia Kazan) hoffnungslos unter.

DVD bei Universum Film

Dienstag, 02.07.2019

Gerhard Friedl

* Volker Pantenburg: Fortsetzung des Berichts. Gerhard Friedls Filme

In der Nacht vom 2. auf den 3. Juli 2009 starb Gerhard Friedl; ein paar Monate später, im November 2009, fand eine Gedenkveranstaltung im Berliner Zeughauskino statt.

Aus einer Email vom 30. November 2009: „nachdem ich letzten samstag friedls filme hier bei der veranstaltung im zeughauskino wieder sah, ließen sie mir keine ruhe & ich hab mich dran gesetzt, etwas darueber zu schreiben. der text haengt hier dran. er hat im prinzip keinen adressaten oder zielort […]

wenn du lust und zeit hast, den text zu lesen & etwas dazu zu sagen, wuerde mich das freuen. ich poste ihn ansonsten einfach demnaechst in der „new filmkritik“, das ist ja ein guter ort fuer texte ohne zielort.

du wirst sehen, dass es kaum um die ‚film-ueber-den-kapitalismus‘-ebene von amerongen geht, irgendwie fielen mir diesmal andere dinge auf, und einigen davon wollte ich ein bisschen nachspueren.“

Damals schrieb ich Emails noch in Kleinbuchstaben. Aus dem „demnaechst“ sind fast zehn Jahre geworden. Friedls Tod jährt sich zum zehnten Mal.

Donnerstag, 30.05.2019

Werner Dütsch

Heute wäre Werner Dütsch 80 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass ein persönliches Fundstück, mit herzlichem Dank an Hannah Hoffmann und Martina Müller.

Filme der Fünfziger L: Sündige Grenze (1951)

Mit dem Tag der Währungsreform am 20. Juni 1948 waren die immer leeren Geschäfte in den drei westlichen Zonen wieder voll mit Waren. Der Schwarzmarkt brach zusammen, jetzt konnte man alles mit der neuen D-Mark kaufen. Im Dreiländer-Eck bei Aachen, an der Grenze zu den Niederlanden und zu Belgien, blühten jedoch weiterhin Schmuggel und Schwarzmarkt. Auf Kaffee erhob das vereinigte Wirtschaftsgebiet der westlichen Zonen – die Bundesrepublik war noch nicht gegründet – hohe Steuern; in den angrenzenden Ländern war der Kaffee günstiger. Kinderbanden wurden für den Schmuggel eingesetzt, weil Kinder noch nicht strafmündig waren. Hunderte von Minderjährigen beteiligten sich an den lukrativen Aktionen und ernährten damit auch ihre Familien. Die Polizei war dieser Übermacht an Kindern nicht gewachsen; erst als die Kaffeesteuer Anfang der 50er Jahre gesenkt wurde, ließ der Schmuggel nach.

Arthur Brauner hatte dieses Thema aufgegriffen, R.A. Stemmle übernahm Drehbuch und Regie. Schon seit Januar 1950 hatte Stemmle einen Vertrag mit Brauner; die Verbindung war aber offenbar nicht ohne Probleme, denn beide einigten sich Anfang 1951 darauf, mit diesem Film ihre Zusammenarbeit zu beenden. Stemmle war aus Italien zurückgekehrt, wo er den in Deutschland nie gezeigten Film Abbiama vinto (Wir haben gesiegt) geschrieben und inszeniert hatte. „Die Italiener“, so Stemmle, „machen großartige, bestürzend lebensechte Filme.“ Für Sündige Grenze engagierte er Kinder aus Mietsbunkern, „echte Rabbatzer“ aus Aachen und Umgebung, „echte“ Zöllner, den Pianisten Heini Bromberg, eine Boogie Band und Tänzer aus der legendären „Badewanne“ in Berlin. Von Boleslaw Barlogs Schloßpark-Theater holte er Jan Hendriks und Julia Fjorsen erstmals vor die Filmkamera; Cornelia Froboess hatte in Sündige Grenze mit 8, Horst Buchholz mit 18 und Gerd Vespermann mit 25 Jahren den ersten Filmauftritt. Für die Verleihgarantie verlangte der Prisma-Verleih zwei bekannte Stars; mit Dieter Borsche, Inge Egger und Peter Mosbacher wurden es drei. Stars hin oder her – bei so viel „echten“ Menschen erwartete die kritische Öffentlichkeit jetzt endlich einen „neorealistischen“ deutschen Film. Auch technisch wollte man neue Wege gehen. In Italien hatte Stemmle seinen Film komplett nachvertont. Bei Sündige Grenze merkt man unglücklicherweise auch in Außenszenen das Tonstudio.

Erst Student

Kindergesichter lugen vorsichtig hinter Sträuchern und Geäst hervor, während der Vorspann noch läuft. Marianne Mertens (Inge Egger) organisiert eine Kindertruppe für den illegalen Grenzübertritt. Einige Kinder werden geschnappt, unter ihnen ihr Bruder Heinz (Wolfgang Jansen), der sich im Verhör als Anton Pisspott ausgibt. Der Student Hans Fischer (Dieter Borsche) steht fast versteckt in einer Ecke des Polizeibüros; er will Studien treiben, „mich interessiert das alles“. Zollkommissar Dietrich (Peter Mosbacher) klärt ihn und das Publikum erst mal auf. „In jeder Minute werden in Deutschland 83.000 Tassen Kaffee getrunken, 20.000 davon sind Schmuggelware.“ Wer das wohl ausgerechnet hat? Und 70.000 gefährdete Kinder sind als Schmuggler unterwegs. Als nächstes geht Fischer zur örtlichen Schule; die Klassenlehrerin klagt, dass die Kinder verkommen, Jugendprostitution verbreitet sich,

dann Dieter Borsche

es gibt schon 13jährige Mütter. Da kommt Marianne Mertens in die Schule, entschuldigt ihren Bruder, den Fischer ja gerade noch beim Verhör gesehen hat. „In die Familien müssen Sie gehen“, rät ihm die Lehrerin. So geht es jetzt zu Mertens, wegen Wolfgang und auch wegen Marianne.
Als Lohn für die gute Organisation hat der schmierige Mielke (Ernst Schröder) Marianne Seidenstrümpfe geschenkt, die sie gleich anprobiert. Die Mutter (Gisela von Collande) mault: “An die Miete denkst Du wohl gar nicht. Na warte, bald ist der Vater wieder da.“ Der Vater (Adolf Dell) sitzt im Gefängnis; er hatte nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft keine Arbeit bekommen und war auf die schiefe Bahn gekommen. Auf Bewährung entlassen, giftet er die Kinder wegen ihrer Schmuggelei an. Die Mutter nimmt die Kinder jetzt in Schutz: „Sie lassen sich nichts mehr sagen“ und „Sie haben doch schließlich für mich gesorgt.“ Jan Krapp (Jan Hendriks)

Jan Krapp (Jan Hendriks)

organisiert den Schmuggel, aber er will weiterkommen; mit Marianne plant er einen großen Coup. In seiner Klause hoch im Turm will er sie verführen. Da kommt Student Fischer in seinem schicken Cabriolet und rettet Marianne. Weil der Student einen teuren Wagen fährt, kann er eigentlich kein Student sein. Seine Rolle kippt um in die des Filmstars Borsche und Marianne fährt jetzt mit dem Studenten-Star nach Hause.
Für Krapp schmuggelt Marianne einen Sack über die Grenze, in dem sich zu ihrer Überraschung ein Kirchenschatz befindet. Damit will sie nichts zu tun haben, „da wachsen einem doch die Hände aus dem Grab“. Der Glaube ist nur noch als Aberglaube oder als Gebetsritual lebendig, nicht als Halt und schon gar nicht als Autorität. Die Kirche hatte sich das auch selbst eingebrockt, denn im westfälischen Düren sprach der Pfarrer direkt die Schmuggler an, bei der Restaurierung der Kirche zu helfen. 250 000 D-Mark kamen zusammen; im Volksmund hieß die Kirche fortan St. Mokka.

Krapps Uhr mit dem tickenden Colt

Die Zöllner hetzen jetzt die Kinder mit Schäferhunden und jagen Krapp. Fischer fordert Marianne auf, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, aber „Ich verrate keinen“. Und warum kümmert er sich bloß um sie, er ist doch, so hatte Krapp gesagt, verheiratet. „Ich habe keine Frau“. Krapp wird von der Polizei erschossen; der letzte Blick der Kamera geht auf seine Armbanduhr, in der ein Cowgirl zu jeder Sekunde die Pistole hebt. Geht Marianne jetzt mit dem Star-Studenten, der guten Seele, ins Glück? So wird es sein, wenigstens an das Kino muß man glauben.

Das will vieles sein: Sozialdrama, Dokument, Realismus, Gangsterfilm, Generationenkrise, Verfallsstudie. Mit braven Zöllnern, die ihr Leben geben, verwahrlosten, doch aufgeweckten Kindern, mit Rauschgiftgeschäft in einer Boogie-Woogie-Tanzdiele, Geschäftemachern, gewalttätigen Eltern, Schiebern und viel verrohtem Proletariat. Als Krapp, diese verführerische Mischung aus Sex, Abenteuer und leichtem Geld, erledigt ist, bleibt nur noch die langweilige Tugend.

Parallel inszenierte Stemmle ein Hörspiel mit dem Titel „Rabbatz-Kolonne“, das am 11. September, drei Tage nach der Uraufführung des Films, gesendet wurde.

Ergänzung zu Filmportal:
Regie-Volontär: Jan George

DVD bei Universum Film

Samstag, 25.05.2019

Gideon Bachmann hören (und sehen)

* Trial and Error, Regie: Marie Falke

Am 30. Mai um 15.00 Uhr beim Dokumentarfilmfestival Karlsruhe. Gideon Bachmann (1927–2016) in seinen letzten Jahren und Monaten. Falke lernt ihn kennen, macht einen Film über ihn und sein Leben. Seit den 1950er Jahren hat Bachmann über das Kino geschrieben und vor allem lange Radiogespräche geführt. Im Alter – in Falkes Film – will er davon wenig oder nichts mehr wissen. Die Filmwelt, deren Chronist er war, ist weit weg. Zum Glück akzeptiert er, wenn auch widerwillig, Falke und ihre Kamera, die ihm ziemlich nah kommen.

„Er trug mir die Inventur seiner Wohnung auf und ich bat um die Erlaubnis, einen Film über ihn drehen zu dürfen. Mein ursprünglicher Gedanke, seine Biografie in Bildern zu erzählen, stellte sich aber von Besuch zu Besuch als immer schwieriger heraus.
Gideon war müde und bitter geworden, sein innerer Kampf hatte schon lange bevor wir uns begegneten waren begonnen. Und so wurde der Film zu einem Dokument der Begegnung eines alternden Kosmopoliten, der mit dem Tode ringt, und einer jungen Filmstudentin, die nach Geschichten sucht.“ (Marie Falke)

* Lettere aperte, Ausgabe 5/2018. Die ganze Ausgabe ist Bachmann gewidmet, in einige Beiträgen sind ausführliche Gespräche Bachmanns eingebettet. Ein immenses Audio-Archiv mit z.B. Jean Renoir, Carl Theodor Dreyer, Maya Deren, Lilian Gish …

Mittelfristig wird Bachmanns Nachlass vom ZKM Karlsruhe (Audio) und dem Filmarchiv des Kulturvereins Cinemazero in Pordenone (Filme) erschlossen und zugänglich gemacht.

Man sollte versuchen, sich einen Kopfhörer und paar Wochen Urlaub zu nehmen. Guter Einstieg:

Víctor Fancelli Capdevila, Christian Haardt: Eine akustografische Geschichte des Kinos. Gideon Bachmann als Stimmensammler von Filmemachern

Montag, 13.05.2019

Doris Day

(1922 – 2019)


Midnight Lace (1960 David Miller)

Steve Beresford & Andrew Brenner: „I Was There“ – 1985

Sonntag, 28.04.2019

Filme der Fünfziger XLIX: 08/15 (1954)

Das Publikum der frühen Bundesrepublik war neugierig auf Nachrichten, neugierig auf die große Welt und auf Sensationen aus der großen Welt. Dies alles boten die Illustrierten; Funkzeitschriften waren der Leitfaden durch den Dschungel der Radiosendungen. 1954, das Fernsehen war noch in seinen Anfängen, hatten die vierzehn größten Illustrierten und sechs größten Funkzeitschriften zusammen eine wöchentliche Auflage von rund 11 Millionen Exemplaren. Damit ihre Leser nicht zur Konkurrenz wechselten, publizierte jede Wochenzeitschrift einen Fortsetzungsroman oder eine Serie mit einem aufregenden Sachthema oder beides zusammen. Im Januar 1954 begann die „Neue Illustrierte“ mit dem Abdruck des Romans „08/15“ des Filmkritikers und Romanautors Hans Helmut Kirst und konnte damit ihre Auflage beträchtlich steigern. Der Roman löste Kontroversen aus, die unter anderem der damalige Minister für Sonderaufgaben Franz-Josef Strauß initiierte. Er sprach von dem Buch als einem „wehrzersetzenden Pamphlet“ und von Kirst als einem Soldaten, den man in den letzten Tagen des Weltkriegs buchstäblich überwachen musste, damit er nicht “zu sinnlosem Widerstand gegen die anrückenden Amerikaner aufputsche.“ Die Bundesregierung fürchtete um die Akzeptanz ihrer noch geheimen Pläne zur Wiederaufrüstung und forderte die Buchhändler auf, den Ende März 1954 in Buchform erschienen Roman zu boykottieren. Je mehr die Politik gegen das Buch und den Fortsetzungsroman polemisierte, um so besser verkauften sich Buch und Illustrierte. Im Mai betrug die Buchauflage bereits 120.000 Exemplare. Die Divina, die Produktionsfirma des Gloria-Filmverleihs, der eigentlich auf sonnige Heimatfilme und gemütvolle Romanzen abonniert war, hatte sich die Rechte gesichert, mietete die alten Ateliers von Arno Breker in Baldham für die Filmaufnahmen und zeigte sich ungewohnt risikofreudig. Regisseur Paul May wollte den Film vor allem mit unbekannten Schauspielern besetzen, „weil ein Gefreiter oder Kanonier für Millionen Gefreite oder Kanoniere zu stehen hatte, was mit Filmstars unmöglich gewesen wäre.“ Elf Schauspieler und Schauspielerinnen debütierten im Kino, darunter Mario Adorf, Paul Bösiger, Peter Carsten, Wolfgang Wahl und Joachim Fuchsberger. Für die Frauen sollte der Film „eine Mitteilungsform über die damalige Zeit sein“. Nach den pathetischen Erzählungen der Männer von prachtvoller Kameradschaft oder ihren Klagen über sinnlosen Drill, die den Frauen schon aus den Ohren rauskamen, wollte May im Nachhinein in einer Inszenierung „mit dokumentarischem Charakter“ den Wahrheitsbeweis antreten. Das wurde jetzt mal für eine Saison zur Aufgabe des Kinos erklärt.

Emmerich Schrenk und Hans-Christian Blech

„Überall und zu allen Zeiten ist die Mauer ein Sinnbild der Abgeschlossenheit. Wo Mauern stehen, umschließen sie eine Welt innerhalb der Welt; sie umgrenzen einen Staat innerhalb des Staates, eine besondere Ordnung innerhalb der gewöhnlichen Ordnung. Sie scheiden Gut nicht von Böse und Freud nicht von Leid, sondern Menschen von Menschen. Und deshalb sollten sie niemals unübersteigbar sein.“ Den Off-Kommentar illustrieren Ansichten von grauen Mauerfluchten; bei den letzten Worten hebt sich die Kamera über eine Mauer, fährt über den Boden entlang und endet bei zackig zusammengeschlagenen Schaftstiefeln. Wir sind im Kasernenhof mit dem dumm-bösartigen Hauptwachmeister Schulz (Emmerich Schrenk), seinem Opfer, dem Kanonier Vierbein (Paul Bösiger) und dem neunmalklugen Gefreiten Asch (Joachim Fuchsberger). Lore Schulz (Helen Vita), die frustrierte Frau des Hauptwachmeisters, geht als Fantasiebeute über den Hof. Sie betrügt ihren Mann mit den Soldaten, er schäkert lieber mit

Joachim Fuchsberger im Hemd, Hans- Christian Blech als Schattenpinkler

der Kantinenbedienung Elisabeth (Eva Ingeborg Scholz), der Freundin von Asch. Vierbein verliebt sich in die Schwester von Asch (Gundula Korte), einem begeisterten BDM-Mädchen, und stiehlt aus ihrem Fotoalbum ein Pin-Up Bild. Dieses Sozialbild aus Verlierern und Opfern, Amouren und Eifersüchteleien kulminiert in der Militaristen-Karikatur des überdimensionalen Schattenpinklers Platzek (Hans Christian Blech). Ihm gegenüber steht der Gefreite Asch im Hemd und ohne Hose – der kultivierte Zivilist gegen den riesigen grobschlächtigen Militär. Das ist die Ausgangskonstellation.
Platzek lässt die Gefreiten im Matsch robben und schleift sie bis zur Erschöpfung. Seine Kommandos „auf – runter“ sind mit Hall und dumpfen Trommelwirbel hinterlegt; Vierbein, völlig am Boden, will sich umbringen; Asch richtet ihn moralisch wieder auf und widersetzt sich spitzbübisch den Unteroffizieren. Die feiern eine Sauforgie, tanzen mit heruntergelassenen Hosen auf den Bänken und grinsen besoffen aus ihren speckglänzenden Gesichtern. Major Luschke (Wilfried Seyferth) rettet schließlich, die militärische Tradition zitierend, die Moral der Truppe.

Major Luschke (Wilfried Seyferth)

Nein, das war kein Film, der die Wehrmacht kritisiert; er führt nur die Kleinbürger in Uniform vor, die zur Macht gekommen, von der Demütigung ihrer Untergebenen zehren. Die Majore und Leutnants aber sind gebildete und kultivierte Menschen, merken jeden Fehler und raunen sich ihre Sorgen über die Zukunft Deutschlands zu. Der widerspenstige Gefreite Asch ist mächtig stolz, als er vom Major zum Unteroffizier befördert wird.
Der Film spielt, man merkt es erst zum Schluss an den vielen, zum Gruß hochgerissenen Armen, im Dritten Reich. Aber ohne d sonstigen Zeitbezug, vermeidet und verliert der Stoff die Orientierung. Es bleiben vom Militärbetrieb nicht viel mehr als optisch und akustisch interessant aufgeputzte „Lausbubengeschichten“ und die leere Drohung der Vorgesetzten „Wir sprechen uns noch“. Es ist als spräche der Lehrer Unrath noch durch die Unteroffiziere zu seinen renitenten Schülern.

In der Saison 1954/55 war „08/15“ der bestbesuchte Film in der Bundesrepublik. Ob die Frauen die Militärzeit ihrer Männer nach Ansicht des Films wohl besser verstehen konnten? Ich kann es mir nicht vorstellen.

 

Donnerstag, 11.04.2019

Auge und Umkreis (IV)


Tell it to the Marines (1928 George Hill)

Er (Lon Chaney), der einsam bleibt.


Ludwig II (1954 Helmut Käutner)

Das Geborgensein in der Katastrophe (Jules Verne), die Wucherung des Vorstellungslebens (Ernst Mach) und die Schrumpfung des Ichs… Tropfen, Tränen, Kugeln, Attentate und Doppelgänger… all das gesehen durch runde Rahmen. Ich hatte mir ein wenig zu viel vorgenommen. Na und!


Doppelgänger / Journey to the Far Side of the Sun (1969 Robert Parrish)

Zu Beginn von Creed II (2018 Steven Caple Jr.) geht es um einen Heiratsantrag, den der Titelheld macht, während seine Liebste vor einem rundem Badezimmerspiegel steht und seinen Antrag überhaupt nicht hört. Nicht mit dem Kopf, sondern aus dem Herzen zu sprechen, war zuvor der Rat gewesen. Wie sich im weiteren Verlauf dieses schönen Boxerfilms zeigt, ist nicht der Kopf das Verletzbare, sondern die Rippen, der Brustkorb, der Stolz, das Herz. Der Kopf hält alles aus.

Um was geht es seit mindestens zweitausend Jahren? Um Auferstehung.


The Creeping Flesh (1973 Freddie Francis)

Auf der Suche nach einem Mittel gegen das Böse beobachtet ein Forscher (Peter Cushing), wie an prähistorischen Knochen lebendiges Fleisch wächst. Aus dem Blut des Urzeitmenschen gewinnt er ein Serum, mit dem er seine Tochter impft, damit sie nicht wird wie ihre Mutter.

Das Leben, das sich unablässig wiederholt, um im Sturz seinen Ursprung zu begreifen. Das wäre (in Anlehnung an Pierre Klossowski) die knappe Formel des „Transcendental Style in Film“.


Ordet (1955 Carl Theodor Dreyer)

Nachdem mir Paul Schraders First Reformed so ans Herz gegangen war, wollte ich Dreyers Ordet wiedersehen.
Alle in meiner Erinnerung aufbewahrten Wirkungen und Wunder traten wieder ein, und ich kochte mir auch, wie die Leute in dem Film, noch tief in der Nacht einen Kaffee.

In Sheridan Le Fanus Gruselgeschichte “Grüner Tee” (1869) ist die Rede von einem hauchdünnnen Gewebe, “welches uns erst in den Stand setzt, das Außen von dem Inneren zu scheiden.”

”Der Sitz, oder besser das Instrument der äußeren Wahrnehmung ist das Auge, Sitz der Inneren Wahrnehmung hingegen ist das Nervengewebe und Hinrnzentrum unmittelbar hinter und über den Augenbrauen. Ihr erinnert Euch ja, wie wirksam ich Eure Erscheinungen durch die simple Application von eiskaltem Eau de Cologne zerstreut habe.”


Doppelgänger / Journey to the Far Side of the Sun (1969 Robert Parrish)

Seitenverkehrt ist jedes Spiegelbild, aber auch dieses spezielle Kölnischwasseretikett in Robert Parrishs Film. Denn auf dem Planeten am anderen Ende des Sonnensystems ist alles (genau wie auf der Erde, nur…) seitenverkehrt.

Verkehrt ist allerdings auch der Trailer zum Film, da wo im Kopierwerk gedacht wurde, das nicht-verkehrte Spiegelbild sei ein Fehler, den man korrigieren müsse.


The Owl Service (1969 Peter Plummer)

“Die zahlreichen Jungen Mädchen mit Spiegel, die begierig eine noch unbestimmte Identität zu betrachten versuchen“ – Sarah Kofman sah in den Bildern von Balthus eine „Pause“, einen „Aufschub, der nicht andauern kann, und der Stillstand der Zeit verrät doch das unmittelbare Bevorstehen einer Krise und eines Erwachens.“

“She wants to be flowers but you make her owls. You must not complain then if she goes hunting.” (Alan Garner: „The Owl Service“)


The Mask (1994 Charles Russell)

„What is the dirt that the pearl is build around? The pearl is the personality that you built around yourself as a protection against that thought: if they ever find out that I’m worthless, if they’ll ever find out that I‘m not enough, I’ll be destroyed.“ Jim Carrey in Jim & Andy (2017 Chris Smith)


The Late Show (1977 Robert Benton)

1929 schrieb Marjorie Hope Nicolson in ihrem Essay „The Professor and the Detective“, der als „eskapistisch“ denunzierte Detektivroman sei keineswegs Flucht vor dem Leben, sondern allenfalls Flucht vor der Monotonie der literarischen Selbstbetrachtung. Der Detektivroman antworte auf die Formlosigkeit der Moderne mit der Rettung der Kausalität.


De komst van Joachim Stiller (1976 Harry Kümel)

„Oft ist Freundschaft nichts anderes. Man liebt sich selbst verklärt in einem anderen. So lieben alle Menschen Jesus Christus.
Um wieviel friedvoller ist es aber, verklärt in einem anderen sich zu finden, als das erhöhte Dasein seiner selbst vergebens in sich selbst zu suchen.“
(Peter Altenberg: Paulina, Ashantee, 1897)


One Hundred Men and a Girl (1937 Henry Koster)

Das ist ein Spiegel sondergleichen. Trotzdem bleibt er recht unbenutzt. Wozu auch soll er von Nutzen sein in diesem dionysisch frohen Film. Zu welchem Zwecke sollten Spiegel dienen in Henry Kosters Kosmos.


Johnny Doesn’t Live Here Anymore (1944 Joe May)

„And this film is sexy. If you don’t see it you’re blind.“ (Raquel Stecher)


The Effect of Gamma Rays on Man-in-the-Moon Marigolds (1972 Paul Newman)

Der Effekt der Mutter (Joanne Woodward) auf ihre Kinder. Im mittleren Bereich der gemessenen Strahlung treten Mutationen auf – – – schöne Mutationen, sagt die Tochter und meint ihr Ringelblumen-Experiment.
Es mögen in uns Atome sein, die vom anderen Ende des Sonnensystems stammen.


The Gorgon (1964 Terence Fisher)

Rund ist der Spiegel, durch den das Haupt der Medusa anzuschauen ist.

Von Freud lernen wir, dass “im Mythos das Genitale der Mutter gemeint ist. Athene, die das Medusenhaupt an ihrem Panzer trägt, wird eben dadurch das unnahbare Weib, dessen Anblick jeden Gedanken an sexuelle Annäherung erstickt.”


Das Auge der Polizei, 1908

Rund ist die Johannisschüssel mit dem Kopf des Täufers.


Whistle And I’ll Come To You (1968 Jonathan Miller)

Die Leere. Das Meer. Und das fremde Zimmer.
Es steht darin ein zweites Bett. Das ist zuviel.
Der Reisende findet am Strand eine uralte Flöte.
Innigste Vertrautheit von Horror und Humor.


Dr Jekyll & Sister Hyde (1971 Roy Ward Baker)

Ein Mann mordet für die Wissenschaft, er tötet Frauen, und verwandelt sich im Selbstversuch zeitweise in eine Schönheit. Sie (Martine Beswick) ist mit sich zufrieden.


Roberte (1979 Pierre Zucca)

Pierre Zucca war Standfotograf bei Chabrol, Rivette und Truffaut, auch am Set von Hitchcocks Topaz und Franjus Judex.
„Als Antwort auf die Frage ‚Warum filmen Sie?’, gelange ich zu dieser Absurdität: ich filme, um das zu sehen, was ich, wenn ich nicht filmen würde, nicht sehen könnte.“


Psyche 59 (1964 Alexander Singer)

Liebe hat die Frau (Partricia Neal) blind gemacht – psychosomatisch. Die Einsicht in die traumatischen Gründe für ihr Erblinden macht sie wieder sehend. Aber der Mann (Curd Jürgens) will ihr Sehenkönnen nicht sehen können.


McQ (1974 John Sturges)

Es ist Nacht. Es hat an der Tür geklingelt. Die Frau betrachtet sich im Rundspiegel und betastet ihre Frisur, bevor sie dem Mörder die Tür öffnet.


No Man‘s Woman (1955 Franklin Adreon)

Die egoistische Frau, beliebte Anti-Heldin der 50er.

Auch sie (Marie Windsor) schaut in den Spiegel bevor sie ihrem Mörder die Tür aufmacht.


Mann im Schatten (1961 Arthur Maria Rabenalt)

Eine schöne Variante: Die Geschäftsfrau holt aus dem Tresor, hinter dem Rundbild, Geld hervor, bevor sie ihrem Mörder die Tür aufmacht.
Eine originelle Einzelheit in diesem Krimi voll origineller Einzelheiten: Sie (Ellen Schwiers) balanciert, um beide Hände frei zu haben, das Bild auf ihrem Kopf.


Amazon Women on the Moon (1987 Carl Gottlieb)

Er (Ed Begley Jr.) ist der Sohn des Unsichtbaren. Den Spiegel, der in seinem Labor an der Wand hängt, benutzt er nicht. Denn sonst würde er sich nicht im Besitz der Erfindung seines Vaters wähnen und würde nicht nackt, im Glauben er sei unsichtbar, in den Pub gehen, um dort ein ums andere Mal die Gäste beim Dartspiel zu stören.

„Der zwischen jenen drei Bildern sich hindurch laviert: dem Bild, das man sich von ihm macht, demjenigen, das er sich selbst von sich macht, und dem, welches er im Spiegel zu lesen glaubt …
Der zu gut weiß, dass „ich“ kein Anderer ist.“
(Michel Leiris: „Das Band am Hals der Olympia“)


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