Einträge von Christian Petzold

Montag, 11.11.2002

Aus einer Zeit, als das Abtippen von Zitaten noch geholfen hat.

„Die untreue Frau von Claude Chabrol (1968) erzählt, wie eine Frau ihren Mann betrügt und wie der Mann den Liebhaber seiner Frau umbringt, sie sind am Ende; der Mann wird von der Polizei abgeholt, und in der letzten Einstellung des Films fährt die Kamera den Gartenweg hinunter, von dem Haus fort, vor dem die Frau allein zurückbleibt. Während der Rückfahrt wird der Zoom zugezogen, so dass sich die Kamera der Frau auf die gleichen Maße nähert, wie sie sich von ihr entfernt. Die Kombination von Zoom und Fahrt ergibt ein stillstehendes Bild, das beide Bewegungen aufhebt und dennoch von ihnen erfüllt ist: mit dem Stillstand zerfällt allmählich die perzeptive Struktur des Bildes, da der Bereich der Tiefenschärfe durch den Zoom beständig erweitert und so der Raum der Wahrnehmung unaufhörlich deformiert wird.
Die letzten Filme von Chabrol handeln von der Familie und das heißt von der Bourgeoisie; Chabrol weiß auch, dass es die Bourgeoisie ist, die seine Filme anschaut. Vom amerikanischen Kino hat er nur lernen können, denn seine Filme muss er mit europäischen Geld machen; es reicht nicht für jene Zuschauer, für die das Kino gemacht wurde. Zwischen Distanzierung und Anziehung eine zerfallende Wahrnehmung; ein Mann, der seine Frau verlassen muss, weil er sie liebt, und eine Frau, die ihren Mann hält und von ihm abgestoßen wird; ein Mord wie eine Geste des Verzeihens., die nichts ungeschehen macht, und wie ein Beweis der Liebe, der alles zerstört; ein Regisseur, der von seiner Arbeit gepackt ist, gegen den aber die Produktionsbedingungen arbeiten; die Kinos, die seine Filme nicht füllen können, und der Kino-Besitz, der das Kino vor den Filmen verschließt und vor den Zuschauern.“

Letzte Woche lief der Film auf 3-Sat. Er lief um 20Uhr15. Als das Fernsehen das Kino noch brauchte, gab es das oft. Dann passten die Filme irgendwann nicht mehr in die Slots. Selbst das Wochenende ist nicht mehr slotfrei. Nur bei den Privaten, wo die Filme laufen, die man auch bei Plus oder Penny Markt oder auch bei Wohltath vor der Kasse findet.

Schön ist zu sehen, wie Chabrol sich manchmal das Kino erfindet. Wenn man, wie Hartmut Bitomski oben in dem Zitat aus der RÖTE DES ROTS VON TECHNICOLOR beschreibt, herausgefallen ist aus dem, was Kinoindustrie ist, ist das notwendig.

Wenn der Mann gemordet hat, dann ist die Kamera auf einem Kran. Von oben zeigt sie die Arbeit, die es macht, den Körper des Opfers verschwinden zu lassen. Ganz undramatisch ist das. Man sieht die Arbeit und den Ort. Wie eine Überwachungskamera. Eine, die sich an der Arbeit und der Übertretungen der Menschen berauscht.
Die Frau wird in Augenhöhe gefilmt. Oft sieht man sie von hinten. Am Fenster der Villa stehend. Hier, aus dem Gefängnis, dem leidenschaftslosen, da wollte sie hinaus. Hat sich einen Geliebten gesucht. Jetzt erwartet sie den Ehemann. Voller Sehnsucht.

Samstag, 03.08.2002

Der Felsen.

„Im Hinterland des Nihilismus. Die Polizei umstellt einen Lagerschuppen, Gewehre im Anschlag. Drinnen hat sich ein Pärchen verschanzt. Ein Boxer, der gescheitert ist, und seine Freundin.
Die ganze Welt hat er erobern wollen, aber er ist nur auf die schiefe Bahn gekommen, und die Freundin ist ihm dahin gefolgt. Er hat nur noch die Wahl, sich zu ergeben oder sich den Weg freizuschießen, und koste es das Leben. Er trifft seine Wahl. Er wagt den Ausbruchsversuch.“

Gestern Abend. Wir sahen den „Felsen“. Am Ende geht der Junge, Malte, zu dem Cafe, in dem er sich mit der Frau verabredet hat. Es ist Nacht. Um sechs Uhr in der Früh wird sie kommen. Er schaut sich um. Er sucht einen Platz, zum warten. Er sondiert das Gelände. Der Film ist ganz still. Der Kommentar ist jetzt zu hören. Er spricht davon, dass der Junge, so wie ein wildes, gejagtes Tier, den Ort registriert. Fluchtmöglichkeiten erkennt. Man sieht einen Hinterausgang. Das Wort Sortie, beleuchtet, über einer Tür neben der Theke des Cafes.

Oben, das Zitat, ist von Hartmut Bitomsky. Der erste Kommentar aus DAS KINO UND DER TOD. Ich erinnerte mich daran, während die Szene aus dem Felsen lief.
Der Film von Bitomsky zeigt keine Filmausschnitte. Er legt Fotos der Filme, fotografiert vom Schneidetisch, nebeneinander. Das Blättern der Fotos und der Kommentar korrespondieren.
Manchmal hatte man den Eindruck, dass Hartmut Bitomsky über ein Kino spricht, das es nicht mehr gibt. Das verschwunden ist. Die Fotos die Spuren davon. Die Stimme die Erinnerung.
Und manchmal hatte man den Eindruck, dass er über ein Kino spricht, dass es noch gar nicht gegeben hat.

Mich hat das ganze Gequatsche über DV und Dogma und Authentizität und Nähe eigentlich nie interessiert.
Gestern dachte ich, dass das DV Material vom FELSEN ähnlich funktioniert wie die Fotos bei Bitomsky. Dass es die Spur und die Erinnerung an einen Film ist. Der vergangen ist. Oder der noch gar nicht entstanden ist.

Über vieles andere müsste noch zu sprechen sein. Darüber, dass die Kamera vom Benedikt Neuenfels alles andere als Dogma ist. Dass sie Bilder findet. Dass sie schwimmt und taucht. Wie flüssig die ganze Mise en Scene ist.
Ich mag den Bikini auf der Hutablage. Den Ring am Finger der Kellnerin. Dass das alles von einem afrikanischen Straßenverkäufer erklärt und vom Kommentar betont wird, finde ich überflüssig und eine Reminiszenz an das etwas doofe Jarmush Off-Kino der letzten Zeit.(Irgendein Haitianischer Eisverkäufer und Schachspieler). Man kann auch ruhig über die großartigen Schauspieler sprechen, obwohl sich der Wolfgang Schmidt darüber lustig macht.
Gestern las ich noch einen Satz von Daney.
Das cinephile Phantasma ist in letzter Instanz dasjenige von Sherlock Junior oder der Carabiniers, nämlich so in das Bild einzugehen, dass man sich dabei weder aufführt wie ein kleiner Idiot noch den Helden spielt, sondern schwimmen lernt wie in einem anderen Raum. Denn diese Schwimmbewegungen – das ist die Mise en Scene.

Mittwoch, 06.03.2002

Politischer Film.

Jetzt muss ich gleich zu einem Gespräch mit der Zeitung Ästhetik und Kommunikation. Das Thema wird sein „Politischer Film“ und natürlich sitze ich da mit dem Andreas Veiel und Romuald Karmakar.
Ein Stoff muß sich selbst behandeln, um behandelt zu sein. Ein Novalis Zitat, das der Peter Nau vor das Vorwort seines Buches Zur Kritik des Politischen Films gestellt hat.
Vor ein paar Tagen lief Missing von Costa Gavras auf Arte und ich schaute 20 Minuten zu und das ist schon ein wenig ekelhaft, den Jack Lemmon zu sehen, wie er hier eingesetzt ist, als der Durchschnittamerikaner, der durch die Handlung gestoßen wird und sich infiziert und aufgeklärt wird. Dem die Augen geöffnet werden. Sorgfältig und still und präzise wird der Film nur, wenn er das Politische verlässt. 25 Sekunden steht Lemmon allein in einer Totalen am Fenster seines Hotelzimmers, mit dem Rücken zu uns. Er wartet auf Sissy Spacek. Er weiß nicht, was er hier zu tun hat, nicht in Chile, sondern in diesem Film. Wie oft er in Filmen so dagestanden hat, der ewig Quirlige und Dauerredner und Rechtfertiger, wenn ihm dann die Luft und die Zuversicht ausgegangen ist, die Schultern wegsacken, wenn er das amerikanische Tempo nicht mehr mitging. Das war da zu sehen und zu spüren.
Vielleicht hat er im gegenüberliegenden Hotelzimmer Yves Montand gesehen, der schaute, wie in „Der Krieg ist aus“ und nicht wie in Z. Müde.
Vor ein paar Tagen THE DEEP END gesehen. Mit Tilda Swinton. Ein merkwürdig interesseloser Film. Ein wenig gleichgültig. Ich mag das ja. Bei Tschechow, der immer „Wie soll man leben?“ von Marc Aurel mit sich trug, da heißt Gleichgültigkeit „gleich gelten“: Das Böse. Das Gute. Die Liebe. Die Kälte. Die Wachheit und die Müdigkeit.
Eine Mutter versenkt eine Leiche in einem See, weil sie glaubt, ihr Sohn wäre der Mörder. Sie versucht ihn zu schützen.
In solchen Versenkungsfilmen, da taucht das Versenkte irgendwann auf, das Wasser gibt die Schweinereien, das Verdrängte, die Verbrechen wieder preis. In The House by the River gibt es den erfolglosen Schriftsteller, der das von ihm ermordete schöne Dienstmädchen versenkt hat und darüber wahnsinnig wird, denn der Fluss, vor dem er immer sitzt und schreibt, wütet. Hochwasser. Tierleichen. Strandgut. Auch die Mädchenleiche wird darunter sein (Das Mädchen, das hat er begehrt und als es sich widersetzte, da hat er es erwürgt. Das Begehren, da gab es ein schönes Bild: Das Mädchen badet, in der Badewanne der Herrin, der Frau des Schriftstellers, was es eigentlich nicht darf. Und als sie das Wasser ablässt, da hört es der Schriftsteller. Hört, wie das Wasser, in dem der nackte Körper des Mädchens gelegen hat, die Abwasserröhre hinunterrinnt. Und er legt seinen Kopf an die Röhre und schließt die Augen. So stelle ich mir enen Stoff vor, der sich selbst behandelt).
Der See, in dem Tilda Swinton die Leiche versenkt, ist gar nicht tief. Und ist ganz klar. Man hat überhaupt nie den Eindruck, als wolle sie oder der Film etwas verstecken. Auch der ganze Noir Plot, der ganze Suspense, ist überhaupt nicht tief. Und auch ganz klar. Polizisten, die an den Wagen treten, die haben keine Sonnenbrillen. Kein Misstrauen. Flößen keine Angst ein. Dass man den Film gerne schaut, trotz der doofen Musik (die eingesetzt worden ist, weil die Produzenten Angst vor der Interesselosigkeit bekommen haben) hat etwas mit Müttern und Söhnen zu tun. Die Väter sind merkwürdig weit weg. Herausgeschrieben aus der Geschichte. Irgendwelche Admiräle, die auf irgendwelchen Flugzeugträgern in irgendwelchen Meeren herummanövrieren. Nicht einmal eine Telefonstimme haben sie. Tilda Swinton ist die Mutter. Und alle Männer der Geschichte starren sie an. Die Schwulen im Club. Der Sohn. Der Freund des Sohnes, das spätere Opfer. Der Mafiosi. Sie wollen zurück zu ihr. In einem Kriegsfilm wäre sie die Krankenschwester mit dem gestärkten Kittel und die Söhne würden Mama schreien, im Lazarett und sie würde ihnen die Hand halten. Hier gibt es keinen Krieg. Keine Front, von der gesagt wird, dass man dort zum Mann wird und dann krepiert man dort. Die Söhne in dem Film suchen solche Fronten. Tilda Swinton erlöst sie.
Der Bitomski hat mal in einem Seminar an der DFFB gesagt, dass die meisten Filme eine Architektur ausstellen. Die Filme, die was taugen, sind die, die selbst Architektur sind. Ich denke, dass es sich so auch mit dem Politischen verhält.

Mittwoch, 30.01.2002

Trouble everyday

Beatrice Dalle steht neben einem Spannungshäuschen, am Rande einer Landstraße. Sie raucht und es dämmert und sie friert in ihrem Trenchcoat. Ein Truck fährt vorbei. Sie schaut kurz auf. Der Truckfahrer hat sie gesehen. Und ihren Blick. Er hält seinen Wagen an.
Dieses Anhalten des Wagens wird gezeigt in einer komplizierten Kameraoperation. Alle Einstellungen zuvor waren fest. Einfach. Jetzt aber fährt die Kamera. Ein wenig hinter dem haltenden LKW her. Eine Kranbewegung kreuzt das Heck. Die Bewegung hält inne, als der Fahrer die Tür seines Wagens öffnet.
Merkwürdig fremd ist diese ganze Operation. Sie scheint nichts geschuldet. Sie erzählt nichts. Eine Auflösung in zwei oder drei Einstellungen hätte das Anhalten des Wagens und die Frau, die das Anhalten hervorgerufen hat, klarer und einfacher erzählt. Die Plansequenz jedoch steht allein und losgelöst da.
Später sieht man einen Motorradfahrer. Auch er fährt die Landstraße entlang. Er passiert den geparkten LKW. Er stoppt seine Maschine. Hält neben dem LKW an. Der Mann ist irritiert. Er schaut sich um. Er sucht etwas. Später wird er den zerrissenen LKW-Fahrer finden. Und eine blutverschmierte Beatrice Dalle, die ganz abwesend ins Leere starrt.
Die Irritation, die den Motorradfahrer beim Passieren des abgestellten LKWs überkommt, diese Irritation verstehen wir, weil sie entstanden ist aus der oben beschriebenen Kameraarbeit, der Plansequenz. Denn es gab nichts, was einem an diesem am Straßenrand abgestellten LKW innehalten ließ. Keine offene Fahrertür, die der Wind bewegte. Kein Motor, der lief. Keine Kleidungsstücke unter der Fahrerkabine.
Aber weil das Abstellen des Wagens so kompliziert und unökonomisch ins Bild gebracht wurde und eigentlich kein Bild war hält der Motorradfahrer an. Das Bild des abgestellten LKWs trägt das sinnlos Aufwendige, das nicht zu Ende und zur Auflösung gebrachte, in sich. Deshalb hält er an. Der Motorradfahrer fährt eine Landstraße entlang. Aber er fährt auch einen Film entlang. Das kam in diesen Sequenzen zusammen. Und das hat mir gefallen. Das die Darstellung einen Protagonisten beeindruckt. Und nicht das Dargestellte.
Eine halbe Stunde später fiel der Strom aus. Die Videolibrary des Festivals in Rotterdam war dunkel. Alle Monitore schwarz. Ich musste dann zum Flughafen.
Der Film ist von Claire Denis und die anderen im Wagen zum Flughafen sagten, dass er nicht gut sei. Die 38 Minuten, die ich gesehen habe, waren großartig.

Montag, 03.12.2001

Ein Tag, wie er für die Zeit zwischen 1790 und 1810 typisch war: Am Flussufer stehen bayrische Soldaten, während ein Dampfboot vorbeifährt. Der Zug mit der Lokomotive im Hintergrund transportiert Waren, während die Menschen sich mit einer Pferdekutsche fortbewegen.
Am Donnerstag, auf dem Flug nach London, wo ich und andere den deutschen Film oder den Film aus Deutschland zu repräsentieren hatten, las ich in der FAZ das Gespräch mit Eichinger und Hofmann
..und es kam mir sehr gespenstig vor.
Zuerst einmal war das alles unglaublich verwirrt und unstrukturiert und letztendlich blieben ein paar Sätze. Daß weniger Filme gedreht werden sollen, dafür mit mehr Geld ausgestattet. Vom Staat Verknappung der Geldempfänger (Produzenten/Autoren/Projekte) fordern, gleichzeitig mehr Geld. Wofür?
Dass man Filme drehen kann, historische, sechziger oder siebziger Jahre, vielleicht auch mal letztes Jahrhundert, vielleicht noch historischer.
Die Politik von Söhnen, dachte ich. Taschengeldpolitik. Wir wollen, wir können, wir sind stark. Aber die anderen, die nehmen was weg, die Schwachen, und Papa, mach was. Immer schwer, wenn man kein Bürger ist, sondern Sohn, und wenn man nicht mit der Gesellschaft redet oder seine Rede an sie richtet, sondern an den Verteiler, an den Papa Staat.
Von was für einem Kino träumen sie. Denn die beiden sind ja jetzt nicht die Fondverwalter. Denen geht es nicht um eine Yacht in Cannes oder eine Hazienda auf Ibiza. Die träumen ja. Es ist dieses David Lean Kino, ein Kino der Totalen, ein Kolonialkino. Man baut nach. Die Geschichte, oder England, die Heimat, in den Kolonien oder im Studio.
Der Unterschied ist nur. Lean und auch Visconti, die waren sich über die Brüchigkeit dieser Nachbauten bewusst. Da reisst und zerfällt und lässt sich nicht bewahren, das ganze Zeug. Wie auch die Heimat als nachgebaute in den Kolonien selbst. Und darum geht es in den Filmen. Vielleicht auch um die Noblesse und die Traurigkeit, die untergehende Systeme noch einmal zeigen, bevor sie verglühen und verstauben.
Wenn in Deutschland Geschichte nachgebaut wird, dann sieht das aus wie Gebrüder Sass. Oder Geisterhaus. Oder Rosemarie. Detailgenauigkeit. Die kostet. Und das Geld ist nicht da. Und deshalb sind die Filme dann so entsetzlich geheimnislos. Denken sie.
Das Zitat oben ist aus einem Buch, das „Mein wunderbarer Märchenschatz“ heisst. Ich muss daraus meiner Tochter vorlesen. Viele Illustrationen, die Märchenfiguren sind alle geklont wie in einer Soap, die Märchen selbst verkürzt und sprachlich verblödet. Das Buch gibt es bei Aldi weggeramscht für 5Mark95. Es hat auf dem Markt nicht bestanden. Die Verleger machen wahrscheinlich die Buchpreisbindung dafür verantwortlich. Es gefällt meiner Tochter wie uns auch eine Soap manchmal gefällt. Sie nimmt das alles nicht ganz ernst und das gibt ihr wahrscheinlich den Spaß.
Manchmal denke ich, die Referenz dieser deutschen Kinoträume, das sind die Vierteiler, die es früher zu Weihnachten im Fernsehen gab. Die Kartoffel von Seewolf Raimund Harmstorf, gequetscht in der Hand. Man lag mit den Geschwistern auf dem Sofa, und es gab Plätzchen und Weihnachtsgerüche und nur zwei Programme und aus der Küche das Gemurmel der Eltern, die Wunschzettel betreffend. In dieses warme Gefühl, dahin wollen sie zurück. Was ja O.K. ist. Als Traum. Nur über die Vergeblichkeit davon, da weiß jedes Märchen von zu erzählen. Und jeder gute Film.

Sonntag, 18.11.2001

Zuhause

Wenn man verletzt und krank ist, Kreuzbandriss und Grippe, und man liegt zwischen Säften und Zeitungen und Büchern und Fernbedienungen, dann kann man hineingeraten in einen anderen TV-Slot, in eine andere Programmschiene. Man schaut Fernsehen zu bisher unmöglichen Zeiten. Samstagnachmittag. Freitag früh. Die anderen, die Gesunden, die machen weiter, mit Harald Schmidt und Relegation und Frankfurter Sonntagszeitung.
Gestern geriet ich um 16 Uhr 15 in eine Sendung des bayrischen Rundfunks. Zuvor hatte ich Apache von Aldrich gesehen, im WDR. Der Kinofilm ist ja aus dem Fernsehen verschwunden, eben wegen der Slots. Das Programm muß ablaufen und die einzelnen Programmteile müssen identische Längen haben, damit das Schema unverrückbar und unverschiebbar bestehen bleibt. Die Kinofilme, die richtigen, nicht die Movies, haben diese exakten und identischen Längen nicht. Sie passen nicht. Sie finden in den dritten Programmen oder sonst nach 23 Uhr statt. (Daran hängt filmpolitsich eine Menge: Die Verleiher können die Lizenzen von Filmen, der neue Chabrol, der neue neue von Claire Denis, nach Auswertung im Kino, was meistens Zuschussgeschäft ist, nicht mehr weiter an Fernsehen verkaufen, zu einem halbwegs anständigen Preis, weil die Filme dort nicht mehr in oder wenigstens der Nähe der Prime laufen und die Sender für so was nichts mehr zahlen. So kommen die Filme oft gar nicht mehr ins Kino. Nur die kleinen Verleiher, die auf diese Lizenzverkäufe nicht angewiesen sind, schaffen da noch kinematographische Öffentlichkeit.)
Also, Apache findet im WDR um 15 Uhr statt, am Samstag, und ich denke mir, dass ist die Zeit der Kranken, der Alten, der Betreuten und der Einsamen. Der Menschen, die Tabak in Hülsen stopfen und die fertigen Zigaretten in Reih und Glied auf das Tischtuch legen. Heimarbeit, der Rest davon. Sonst findet die ja im östlichen Trikont statt. Aber vielleicht sind die Kranken und Verletzten und Gepflegten und Alten ein wirkliches Kinopublikum, eines, das früher auch schon in die Nachmittagsvorstellungen gegangen ist, als es noch Kinos in den Städten gab und die Einsamkeit ein Teil der Öffentlichkeit.
Also, Apache fand statt, da wo es hingehörte und es ist ein großartiger Film. Ich kannte ihn schon und ich kannte ihn nicht und das Maisfeld am Schluß, dass vom Sesshaftwerden eines umherdriftenden Kämpfers erzählt, und in dem er sich noch einmal verbergen will, als die Häscher kommen, das ist schon toll. Burt Lancaster sowieso.
Nachher auf Bayern 3. Ein Film, 45 Minuten. Über ein Weinanbaugebiet am Main, wo der beste fränkische Spätburgunder gemacht wird.
Normalerweise werden ja auch die 15UhrKucker von den Programmmachern vorgeplant. Die schon beschriebenen Alten und Sterbenden und Kranken und auf die Enkel Wartenden. Für die gibt es Kalenderbilder. Nebel im Chiemgau. Am Main. Klarinetten dazu. Ein sinnender Vogel, der kurz sein Gefieder zeigt. Ein mit Köstlichkeiten aus der Umgebung gefüllter Fresskorb.
Der Film hier war jedoch anders und vielleicht gibt es viele davon.
Auch er zeigte den Nebel. Im Morgenlicht. Aber der Nebel bedeutet, dass man die Trauben noch nicht ernten kann. Das man warten muß. Und so ernten sie Kürbisse. Und suchen Pilze, Steinpilze. Und der Film zeigt, was aus dieser kleinen Ernte entsteht. Wie der Koch mit den geernteten Früchten und Gemüsen umgeht. Der Film folgt dieser Schleife. Erst dann kommt er zum Wein zurück.
Er folgt dem Handwerk, den Tätigkeiten. Er ist still. Er beobachtet. Setzt zusammen. Zeigt, was Tradition ist. Und was der Moderne geschuldet. Nebenbei setzt sich eine ganze Genealogie einer Winzerfamilie zusammen. Wenn der Winzer erklärt, was dieses Anbaugebiet ausmacht, auszeichnet (Der Main, am Fuß der Weinberge, wie ein Sonnenreflektor, der Fichtenwald am Kopf der Hänge wie eine Mütze usw.), dann zeigt das der Film. Aufwändig. Er versucht, eine Einstellung zu finden. Und diese Suche und Arbeit war sichtbar. Dem Handwerk, dass die Winzer verrichten, setzt er sein eigenes Handwerk entgegen.
Weil die Trauben noch nicht gekeltert werden können, wird Schnaps destilliert. Der Film beobachtet den Winzer, der Williamsbirnenmus in die Brennerei schaufelt. Dann, nach der Arbeit, steht er still neben dem Becken, in das der Schnaps rinnt. Auch das beobachtet der Film. Jetzt tritt der Autor vor die Kamera, tritt auf den Winzer zu. Der Winzer steckt einen Zeigefinger in den Schnaps, fordert den Autoren auf, es ihm gleichzutun. Beide kosten. Dann nicken sie sich zu. Der Autor sagt: „JA!“ Ganz für sich. Der Winzer sagt einen Bruchteil später auch ja. Auch er ganz für sich. Schöner habe ich die Begegnung zwischen der sogenannten Wirklichkeit und den sogenannten Bildern lange nicht gesehen. Es war die zwischen Herstellern, Produzenten. Es ging um den Respekt der eigenen Arbeit und der der anderen. Und die Begegnung ist Genuß. Und Geschmack.
Der Film, der sich im Abspann auch so nannte und nicht Reportage, war von Alexander Samsonow.
Die Old Filmkritik hatte Mitte der 70-er Jahre auch diesen Begriff der Arbeit als Analysebegriff und Werkzeug gebraucht. Für einen Moment dachte ich, dass das auch ein Film von Bitomski hätte sein können (Wenn ich ihn nochmals sehe und alles hier geschriebene bricht zusammen, kann ich mich über den Tablettenkonsum herauswinden). Aber vielleicht ist das wirklich so, dass eine bestimmte Art von Kino und eine bestimmte Art von Bilderherstellung und auch eine bestimmte Art von Genuss in merkwürdigen Slots verschwunden ist. Währenddessen macht die Simulation von Kino da draußen weiter. Man muß die Majors angreifen. Dazu nächstesmal mehr.


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