Einträge von filmkritik

Mittwoch, 21.04.2004

fernseh hinweis…

… aus einem e-mail-wechsel zwischen michael girke und eckhard schumacher

Lieber Eckhard,
kaum lag der Hörer gestern auf der Gabel, fiel mir ein Filmtipp ein. Falls Du ihn noch nicht gesehen hast: Gus Van Sants „Elephant“, m E ein sehr mutiger Film, ein Stummfilm mit Tonspur, lohnt sehr den Besuch.

Lieber Michael,
ich habe Elephant bereits gesehen, im Original, und fand ihn auch sehr toll, auf der Tonspur, in den Bildern. Und nicht zuletzt auch, weil das, was in allen Feuilletons als so großartig hervorgehoben wird, ja gar nicht stimmt: der Film würde kein Motiv liefern. Warum erwähnt denn meines Wissens NIEMAND die Szene, in der der, der später Klavier spielt, mit widerlichem Papiersabber beworfen wird? Erst dadurch wird der Film für mich richtig gut: Er gibt Hinweise für mögliche Motive, lässt ihre tatsächliche Relevanz aber offen, macht, genau, keinen Elephanten daraus. Bin vor diesem Hintergrund ziemlich gespannt auf die Erfurtdoku, heute abend, 23 Uhr, ARD. [Amok in der Schule, Die Tat des Robert Steinhäuser“ Mittwoch, 21.4.04. – 23:00 Uhr – ARD]

Lieber Eckhard,
ja, ja, ja, ja…Elephant steckt über und über voll von Wahrnehmungen/Hinweisen Van Sants.
Wie im Stummfilm: Wenn in der Wohnung der beiden Schützen PC-Game gespielt wird, ganz, ganz kurz…und dann, Schnitt, ist man wieder im Schulflur, da ist bei mir vor Spannung jedes Körperhäärchen Filmzuschauer geworden. Denn: es ist gerade nicht, (wie’s aus Möchtegernelefantensicht vielleicht beliebt wäre), allesklärend festgestellt, PC-Spieler sehen ja mit den Augen von Serienmördern; nein, es ist nichts als eine von vielen Beobachtungen, die zu einer Diskussion dazugehören…vor allem aber bewegt sich ab da, vom Schnitt beabsichtigt, vorwärts und rückwärts durch den ganzen Film, so etwas wie ein Grusel vor dem eigenen Sehen…ich komme gleich darauf zurück.
Dann: Elephant ist wie Charlie Brown. Da gibt es Eltern nicht, genauer, nur als unverständliches Tröten; in Elephant gibt es sie nicht als Eltern (um den Trinkervater muss sich ja der Blonde kümmern, bei einem anderen packen Eltern ein Schulbrot und begründen, warum sie keine Zeit haben an diesem Tag, in dieser Woche, in diesem Jahr, in diesem Leben…). Was für eine Welt ist das…so ist der ganze Film einer über Orientierung. Und so hört man dann den Film, die Schule, den Raum…das ist unglaublich gut…wenn dann die angedeuteten Täter Nazis im TV sehen und deren Scheiße-Sein lässig, aber dabei ungeheuer sensibel, beobachten, da hab ich fast geheult (obwohl oder weil die Elephantinszenierung es überhaupt nicht auf so etwas angelegt)…weil der Film wie ein Windhauch flüsternd mitteilt, dass das da im TV „das Böse“, das wir/alle bei der Betrachtung des Films und überhaupt so verzweifelt Dingfest machen wollen, nicht ist; es ist nur ein Gespenst der Deutlichkeit, von dem, und damit von 99,5 Prozent von all dem zu Fragen von Gewalt-Eltern-Kinder-Schule-Medien Gesendeten, Van Sant einen notwendigen Abschied filmt.
Zum Blicken noch kurz: Ab dem oben erzählten Schnitt ist klar, die Kamerafahrten, die Wiesen, Flure, Zimmer, Büros, die Menschen, wir haben alles aus Gameeinstellungen gesehen. Das heißt einfach: nicht mit fertiger Psychologie, Jugend, Schule, Hysterie, Gesamtlage im Kopf, was uns sonst unsere Bilder vorauseilend inszeniert. Wenn das alles nicht da ist, was sehen wir dann noch von der Welt…weniger als jeder Serienmörder…wir sind drin im Game…der Mensch mit dem ich den Film sah, meinte, der Film fängt einfach an und hört einfach auf, das sei ja ein leerer Film…dessen Blick hat die Schüler genauso erledigt, wie die Gewehre der Jungs. Nicht gesehen: Das Weinen des Blonden, waren Filmtränen jemals aussagekräftiger (wenn der am Ende gestorben wäre, wäre ich mit gestorben; und damit die ganze Balance des Films; das weiß Van Sant natürlich). Die Gewehre der Jungs sind Verwandte dieser Tränen…sagt die Plazierung der Figuren im leeren Raum…auch das nur als Windhauch, wirklich Filmkunst, das alles. Nicht gesehen: ganz und gar nicht, niemals, sind die drei Schlankheitsgirlies banal; wenn die auf dem Klo erledigt werden, entscheidet sich, ob man den Film als ein Mensch sieht, oder, ob einem die Klischees oder die eigene Blindheit jede Sensibilität weggepustet haben. Auch das sage nicht ich, das legt der Film nahe.
Was mich endgültig einnimmt: Dieser Film ist engagiert, er ist auf jeder Schülerseite, was die Schützen selbstverständlich einbezieht. Danke Gus Van Sant.

*
Zärtlicher Zusatz:
Die Position der Figuren im leeren Raum habe ich eben gesagt. Wovon leer? Von liebenden Eltern/Erwachsenen/Menschen…von Zärtlichkeit und Mitgefühl…die einzigen Szenen, in denen es etwas davon gibt: wenn der Blonde von einer Mitschülerin im Vorbeigehen getröstet wird, und, ganz zentral, wenn die Täter sich küssen und streicheln unter der Dusche…Anti-„Psycho“-Duschszene…eine der Stellen im Film, von der aus gesehen, die Elephant-Welt so steril, so abtötend ist in ihrer Aufgeräumtheit. Sich in schönen, leichten, gleichgeschlechtlichen Berührungen und Küssen kurz findende, sensible Serienmörder; wenn ich diese Worte als Drehziel in einen Förderungsantrag für einen Film geschrieben hätte, würde mir ein Vogel gezeigt. DESWEGEN ist „Elephant“ kein Genre, deswegen artikuliert er so etwas stumm; auch um sich dem Kitschverdacht nicht auszusetzen…und es gelingt. Aber sind Bilder jemals stumm…für Van Sant nicht…dass am Ende das einzige klassische Liebespaar erschossen wird, nein, es wird bedroht, der Film endet…gleich sterben auch die Liebenden…das ist doch (bei allem Hauch, bei aller Balance) ein mit dem Vorschlaghammer gefilmtes „Bitte eingreifen, Bitte verhindern, Bitte hinsehen und Zustände ändern.“ Dass niemand nirgendwo über die vermisste und vorhandene Zärtlichkeit und Liebe in diesem Film spricht, macht, dass man die Realität als Teil von „Elephant“ empfinden kann.

Sonntag, 21.03.2004

* langtexthinweis

Johannes Beringer: Zu Grandrieux (Sombre, 1999 / La vie nouvelle, 2002)

Mittwoch, 17.03.2004

* langtexthinweis

„Ein Geheimnis der Verkörperung“. Über „Gertrud“ von Carl Theodor Dreyer (1964). Von Manfred Bauschulte

Donnerstag, 11.03.2004

* langtexthinweis

Was Gewaltbilder berühren – Michael Girke zu Klaus Theweleits neuem Buch „Deutschlandbilder“

Sonntag, 30.11.2003

auf der langtextseite: Weltstadt in Flegeljahren. Ein Bericht über Chicago. Regie: Heinrich Hauser, D 1931, von volker pantenburg

Montag, 17.11.2003

KATEGORIENGLÄUBIGKEIT
Momentaufnahmen von den 27. Dokumentarfilmtagen in Duisburg

Von Michael Girke

Die Dokumentarfilmtage in Duisburg zwingen Besuchern keine Wahl auf, es läuft stets nur ein Film. Und sie verschaffen Kinoerfahrungen Raum; nach jedem Film kann das Publikum das Gesehene mit den Machern ausgiebig diskutieren. So verändert sich die Position des Zuschauers, er wird vom bloßen Empfänger zum Akteur. Von hier zum Filmparadies ist nur ein Schritt: Man müsste das Kino von innen abschließen, den Schlüssel verlieren und auch den Rest des Jahres so verbringen.

Michael Pilz Film über den afrikanischen Musiker Simon Maschoggi ist beinahe vier Stunden lang. Die Kamera genießt Gastrecht in dessen Haus, ist dabei, wenn er immer wieder zu selbstgebauten Instrumenten greift, wenn Familienmitglieder und Nachbarn einsteigen in die Musik, wenn diese einfach abbricht oder zum Medium kollektiver Intensität wird.
Nach gängigen Vorstellungen von Professionalität ist Pilz’ Film dilettantisch. Es gibt minutenlang keinen Schnitt, kein Untertitel übersetzt Lied- und Sprechtexte. Dadurch sieht man, was synchronisierte, untertitelte Profifilme uns immer ersparen: Die Erfahrung wirklicher Fremdheit; dass Kennenlernen Zeit kostet und Verstehen Arbeit macht; dass Verständigung, zumal über Kontinente hinweg, ohne Missverständnisse, Reibungen und Geduld gar nicht zustande kommt. Hier technische Standards oder Untertitel einzufordern, wie das im anschließenden Filmgespräch geschah, ist unverschämt, ist Gewalt, die sich als solche nicht wahrnehmen kann, weil sie ganz selbstverständlich ist. Reibungslos soll alles Menschliche ins Bekannte übersetzt, in vertraute Filmformen und Sprachen eingepasst werden. Gerade weil der Film SIMON MASCHOGGI sich frei außerhalb der Marktgesetze bewegt, die sonst das Leben regeln, kann er fühlbar machen, wie sein Regisseur einen afrikanischen Musiker empfindet und hört; auch das Nicht-Begriffene, Nicht-Erfasste.
Eine einzige afrikanische Familie in ihrem Haus ein wenig kennen zu lernen, braucht das nicht noch mehr als 4 Stunden? Die Erfahrungen, die man mit Pilz’ Bildern machen kann, geben einem das Gefühl zurück für die Brutalität von handelsüblichen Fiktionen und Generalisierungen, mit denen die Medienmaschinerie unsere Erwartung abrichtet.

Sind Dokumentarfilme nicht auch Inszenierungen? Kann beim Reden übers Dokumentarische die Grenze zwischen den Kriterien „echt“ und „falsch“ sinnvoll aufrecht erhalten werden? Diese Fragen waren offizielles Thema in Duisburg. Zuschauern sollte, laut Festivalkatalog, ein Spiegel ihrer Bildergläubigkeit vorgehalten werden.
Der Vortrag des Wiener Filmwissenschaftlers Drehli Robnik über das in den letzten Jahren verstärkt zu beobachtende Phänomen der Fake Documentaries schleuderte in Hochgeschwindigkeit ungefähr alle Stich- und Schlagworte aller Cultural Studies- und Theoriediskussionen der letzten 10 Jahre in den Raum. Schön, wenn Theorie mal offen deliriert und heitere Effekte produziert. Was Theorie grau macht: Wenn eigene Lesarten und Ideen vollständig an die Stelle geduldiger Auseinandersetzung mit Film treten.
Filmbilder aktivieren die Sinne im gleichen Maße wie den Intellekt. Robniks Vortrag aber gründete ganz auf der Vorrangstellung abstrakter, logischer, wissenschaftlicher Sprache und Begrifflichkeit. So war es kein Zufall, dass ihm die sinnliche Seite des Films vollständig entging. Einige der von ihm vorgeführten Filmbeispiele zeigten, für jedermann sichtbar, etwas ganz anderes als das, was er an ihnen beschrieb. Anders formuliert: Manche der Bilder, die Robnik als Belege für seine Thesen dienen durften, blickten zurück und hielten einer verbreiteten Einstellung grausam den Spiegel vor: Der Kategoriengläubigkeit hiesiger Kultur- und Filmwissenschaft.
Indem Robnik Filme in die Disziplin sprachlicher Rationalität nahm, wurde den Sinnen jede erkennende Funktion bestritten. Folgt man dieser Art von Theorie, hat das Kino 100 Leben, aber keines davon hat mit Erfahrungen von Wirklichkeit zu tun. Wer sich, seine Vorstellungen und vorformulierten Begriffe nicht herausfordern lässt von dem, was bewegte Bilder an Geschichtlichem, Körperlichem, Psychischem, Sinnlichem aufzeichnen und aufzuzeichnen vermögen, bringt das Kino um seine Tragweite.

Harun Farockis ERKENNEN UND VERFOLGEN führt anhand zitierter Bilder aus der Waffenwerbung, aus Flug- und Panzersimulatoren, vor, wie Großrechner und moderne Waffen die Welt sehen. Farockis gefundenen Bilder wirken aseptisch und unspektakulär, keine Zensurbehörde beanstandet sie. Es sind aber atemberaubende Gewaltbilder. Gewalt geschieht hier, anders als nach landläufiger Auffassung, nicht, in dem Schauspieler Brutalität nachstellen, die Gewalt ist im Blick. Der Betrachter dieser Bilder aus Rechner- und Waffenperspektive sieht Menschen, also sich selbst, als störende Biomasse auf dem Weg der Waffe zu wichtigen Zielen oder als längst ausgelöscht.
2001 zeigte Robert Bramkamp in Duisburg PRÜFSTAND 7, seinen Film über die Geschichte der Rakete. Bei der Recherche stellte er fest, dass es kein einziges Bild von Raketen aus der Perspektive anvisierter Ziele gibt. Weil Raketen mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit lautlos anfliegen und weil sie jederzeit überall auftauchen können, ist Aufzeichnung unmöglich. Diese Seite der Wirklichkeit lässt sich nicht dokumentieren, schon gar nicht lässt sie sich in dramatischen Konflikten mit handelnden Personen darstellen. Die beschleunigte Vernichtungskraft moderner Technologie hat sich der Wahrnehmung menschlicher Sinne entzogen, sie macht bilder- und sprachlos. Um überhaupt einen Zugang zu finden, um sichtbar zu machen, wie Technologie in die Geschichte eingreift und das Leben umbaut, muss Farockis Film die Perspektive der Maschinen einnehmen. Das ist nicht kalt und unsexy, es ist präzise.
Farockis Montagen ziehen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft zusammen, machen registrierbar, wie der 2.Weltkrieg im Heute weiter wirkt. Dass Technologie Menschen in industrieller Produktion und Krieg überflüssig macht, hat bei Farocki eine freundliche Seite: Vielleicht lassen sich waffentechnologische Entwicklungssprünge, und das heißt Kriege, ganz in die Simulatoren und Rechner verlegen.
Wie soll man ERKENNEN UND VERFOLGEN bezeichnen? Dokumentation, Essayfilm, Found Footage Film, Industriefilm; alles ist richtig und nichtssagend. Frieda Grafe erklärte vor Jahren, einen Film von Farocki neben einem üblichen Geschichtsfilm zu sehen, mache deutlich, was es heißt, auch mit gefundenen Bildern für sich selbst zu sprechen. Verglichen mit ERKENNEN UND VERFOLGEN, waren viele Filme in Duisburg erschreckend standardisiert, geschichtsfrei und blind für die technologische Seite der Wirklichkeit.
ERKENNEN UND VERFOLGEN geht nicht auf in plakativen Anliegen, mit denen Preisverleiher meinen das schlechte Gewissen rühren und sich selbst schmücken zu müssen. Der Film lädt nicht zur Identifizierung ein, gibt dem Zuschauer an keiner Stelle vor, wie er das Gesehene in vorhandene Begrifflichkeiten einzuordnen hat. Seine Moral liegt in seiner Genauigkeit. Das Anliegen von ERKENNEN UND VERFOLGEN ist ganz schlicht, er fordert auf, die Augen arbeiten zu lassen; zu sehen, was zu sehen ist. Ein solcher Film erhält in Deutschland natürlich keinen Filmpreis.

Sonntag, 01.06.2003

Langtext-Hinweis

Auf new filmkritik für lange texte:
Röte des Rots – Zu Michelangelo Antonionis IL DESERTO ROSSO.
Von Volker Pantenburg.

Montag, 19.05.2003

Lemke

Für die Lemke Retrospektive, die jetzt in Hamburg und Berlin vorwiegend als Videoprojektion läuft, waren keine Filmkopien aufzutreiben. Das kommt auch daher, dass Klaus Lemke sich nicht um Bestandssicherung schert. In mancherlei Hinsicht ist sein einziges Interesse das, was davor passiert: Vor Drehbeginn, vor der Kamera, vor allem Endgültigen. Das ist auch die einfachste Erklärung, warum der vergangene Ruhm und zwanzig Jahre ohne Erfolg, den Mann so wenig tangieren. Beim spannenden Match zwischen der Nummer 1 unter den Nostalgikern (Werner Enke) und der Nummer 1 unter den Anti-Nostalgikern (Klaus Lemke), beim Podiumsgespräch anläßlich der 60er Jahre Retro auf der Berlinale 2002, erlebte man komplett unvereinbare alte Freunde, die sich aber einig waren, dass Stereo impotent macht – und dass die besten Filme entstehen, wenn man sich total verschuldet hat. Das wenige was Lemke immer gerne von „damals“ erzählt: Sie hätten das amerikanische Kino ganz naiv für ein getreues Abbild des Lebens gehalten, wie es dort stattfindet und hier stattfinden müsste: „Dokumentationen darüber, wie’s sein könnte.“ Dazu passend demonstrierte Werner Enke mit welcher Geste Dean Martin in SOME CAME RUNNING dem Sinatra, der an der Schreibmaschine verzweifelt, so nebenbei die Schnapsflasche hinschiebt. Solche Gesten, meinte er, die seien es gewesen. Aber indem Enke das so nachmachte, war da auch mit drin, dass Lemke eben noch an der Schreibmaschine sitzt, das heißt Filme macht, und Enke nicht mehr. Vor drei Jahren hat Klaus Lemke einen Film mit dem Titel RUNNING OUT OF COOL gemacht, den bislang nur ein paar Dutzend Leute gesehen haben. Ein konzentriertes Alterswerk, getarnt als atemloser Debütfilm, dessen Schöpfer im Vorspann ohne Namensnennung sein Gesicht hinter einer Piratenflagge versteckt. Der Raubzug in den eigenen Gewässern, den Straßen Schwabings, birgt als funkelnden Schatz ein Ensemble begnadeter Darsteller. Lemke erzählt, der fertige Film hätte einem Sender ganz gut gefallen, man hätte ihm vorgeschlagen ein TV-Remake zu machen mit richtigen Schauspielern, die langsam und deutlich sprechen. Wer weiß, meint er, wie viele Filme in Deutschland vom Fernsehen mit richtigen Schauspielern „noch mal neu“ gemacht werden; und die eigentlichen Filme werden heimlich vernichtet. Eine tolle Paranoia-Fantasie, selber Stoff für einen Film. Die tieferen Gründe für Lemkes feste Position im filmpolitischen Abseits liegen woanders. In RUNNING OUT OF COOL ist es für den Jungen aus Hamburg (Maxi Treu) ein Kinderspiel bei ARRI eine 35mm Kamera zu klauen. Aber die Kellnerin (Marlene Morreis) und die Stripperin (Claudia Grimm) sind nicht leicht rumzukriegen zum Filmemachen. Es sind Frauen, die für Schwärmereien ungern die starke Position aufs Spiel setzen, die sie beim Sex innehaben. Kein anderer Spielfilm über das Kino hat je so viel Enthusiasmus hergezeigt, ohne das geringste Pathos aufkommen lassen. Wie bei Hawks kämpft jeder mit jedem, mit billigen Tricks und geklauten Sprüchen, bis klar ist, worum es geht: um den heiligen Moment, wenn sich zwei von einander hinreißen lassen. Dass anwesende Dritte und Vierte dabei nicht stören, gar förderlich sind, verträgt sich gut mit dem Wesen der filmischen Arbeit. In NEVER GO TO GOA, einem wilden Urlaubsfilmessay über die Liebe am Ende der Ferien, tritt sein treuer Kameramann Rüdiger Meichsner zu Lemke und zur jungen Produktionsleiterin Annika Herr vor die Kamera. Mitten ins Geschehen. Wie einst bei Hawks so geht es bei Lemke um gegenseitige Überforderung, Reizung, Sex, Konkurrenz, Kumpanei, aber diese Lebenslust ist fordernd, verlangt eine irre Selbstbehauptung. Straub war so wichtig, sagt Lemke, wegen der Art wie Straub redet. Zum eigenen Schutz ist Lemke pseudo-anti-intellektuell. Aber seine Filme sind ohne Deckung. Als roter Faden gehen Geschichten von Jungs und ihren älteren Vorbildern durch das Oeuvre. Einen toll finden, selber toll sein wollen, darum geht’s. Ich behaupte, dass von daher auch die Geringschätzung der Filmgeschichtsschreibung rührt. Denn vom Überleben durch bloße Selbstbehauptung – Lemke nennt es attitude – davon zu handeln, ist irgendwie nicht wirklich respektabel. In Lemkes Filmen sieht man, was sonst auf der Leinwand nie zu sehen ist: Leute die rot werden. Klaus Lemke sei ja eigentlich gar kein richtiger Filmregisseur, sagte mir ein Filmmuseumsdirektor. Ein richtiger Rektor. Formale Gründe wo es um Inhalte geht. Die Angreifbarkeit des Selbstbewußtseins ist eben etwas, was man nicht zu ernst nehmen sollte, und gleichzeitig was, worüber man keine Witze macht. Von daher Stoff für Komödien. Und doch sind Lemkes Komödien im Grunde schwer melancholisch. Dokumentationen darüber, wie’s sein könnte. Aufrichtiges, weil unreines Kino, zu 40 Prozent reine Poesie.

TV-Tipp: Do, 22.Mai – ARD 00:50 – Liebe, so schön wie Liebe (1971) –
Regie, Buch: Klaus Lemke; mit Marquard Bohm, Sylvia Winter

Internet-Tipp: www.mach-dich-grade.de

Rainer Knepperges

Freitag, 16.05.2003

Langtext-Hinweis

Auf unserer Langtextseite @ antville:
Anderes Sehen
6 filmische Momente bei den 49. Kurzfilmtagen von Oberhausen.
Von Michael Girke

Sonntag, 11.05.2003

Fernseh-Hinweis

Montagnacht/Dienstagmorgen, 13.5., in „KurzSchluss“, arte 01.05 – 01.50

Peter Tscherkassky: DREAM WORK, Österreich 2001, 11 Min.

„Der Film ist – nach ‚L’Arrivée‘ (1998) und ‚Outer Space‘ (1999) – der dritte Teil meiner CinemaScope-Trilogie. Verbindendes formales Element dieser Trilogie bildet eine Technik der Kontaktkopierung, bei welcher gefundenes Filmmaterial in der Dunkelkammer auf Rohfilm umkopiert wird. Auf diese Weise verwirkliche ich in einer wörtlichen Weise die zentralen Mechanismen des Traumes zur Bedeutungserzeugung, der Traumarbeit, wie Sigmund Freud sie beschrieben hat.“ (Tscherkassky)

In der gleichen Sendung auch ein Porträt Peter Tscherkasskys.


atasehir escort atasehir escort kadikoy escort kartal escort bostanci escort