Sonntag, 01.06.2003

Röte des Rots

„Il Deserto Rosso“, Regie: Michelangelo Antonioni, Italien 1964.

Von Volker Pantenburg

Screen / Canvas. Vom ersten Bild an versuche ich, die Leinwand mitzudenken, auf die der Film eigentlich projiziert werden müsste. Das bedeutet einen zusätzlichen Übersetzungsvorgang, einen Prozess, der den Film „angemessen“ sehen will und sich dabei von ihm entfernt. „Die Rote Wüste“, Antonioni 1964, eine abgenutzte VHS-Kopie, italienisch mit englischen Untertiteln. Selbst in dem unbeholfenen Bildschirmformat entwickeln die Bilder eine auffällige Dynamik. Farbflächen, abgezirkelte Suchbilder, in denen man Monica Vitti als Giuliana und Richard Harris als Corrado, oft verloren zwischen Rohren, Stahlmasten oder Silos, erst mit einem Augenblick Verzögerung erkennt. Sie gehen von A nach B, aber das B, das sie dort finden, entpuppt sich immer wieder nur als ein weiteres A. Ein Sog entsteht, man will sich in einem Bild umsehen, aber untereinander stoßen die Bilder sich zugleich ab, immer wieder prallt eine neue Komposition hart auf das vorherige Tableau. Selbstbehauptung, Abgetrenntsein. Der Film ist – darin schließt er an Antonionis frühere Filme an – eine Studie über das Thema Bindungslosigkeit; zwischen Menschen und Menschen, zwischen Menschen und Dingen, zwischen ’neuer‘ und ‚alter‘ Zeit. Auch zwischen den Bildern, die ihrerseits von diesen Bindungslosigkeiten sprechen. Zumindest die Dinge gehen einigermaßen unbeschadet aus diesem Durcheinander hervor.

Innen / Außen. Schon in der unscharf gehaltenen Vorspannsequenz ringen zwei Tonebenen um die Vorherrschaft. Der einsame Gesang, der später in der Geschichte für Valerio wieder aufgegriffen wird, und die von Vittorio Gilmetti komponierten elektronischen Geräusche. Elektronische Musik im Film, das läßt an Louis und Bebe Barrons Score für „Forbidden Planet“ denken, den ersten vollelektronischen Soundtrack, 1958. Dort signalisiert das Befremdliche, „Kalte“ der Soundeffekte Außerirdisches, hier dagegen geht es um Innerirdisches, um Dissonanzen im eigenen Körper, ein Sich-selbst-fremd-sein, eine Art akustische Rückkopplung, die an die Stelle fehlender sozialer Rückkopplungen tritt. Auch die Fabriken machen solche Geräusche, übertönen oft die Dialoge, so wie ihr Dampf die Bilder zudeckt.

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Insoluble Maths Equation. Die Anordnung innerhalb einzelner Einstellungen hat etwas Mathematisches, es gibt immer wieder neue, im buchstäblichsten Sinne ‚malerische‘ Bilder zu sehen, und trotzdem kann man diese Häufung auch als Subtraktion empfinden. Zumindest in jedem einzelnen Bild werden die unwirtlichen Industriekomplexe, durch die sich die Figuren bewegen, immer wieder heruntergerechnet auf Geometrie, Form, Farbe. Ein Verfahren, das der „Realität“ nichts wegnimmt, sondern sie anreichert, umformuliert, immer wieder neu zu fassen versucht.

Aus Forschung und Technik. Antonioni hat nachdrücklich darauf hingewiesen, man solle seinen Film nicht als Zivilisationskritik mißverstehen. Der Fehler, wenn es einen gibt, auch für das psychische Desaster Giulianas, liege bei den Menschen, die sich noch nicht an die neuen Verhältnisse gewöhnt haben. An eine grundsätzliche Technisierung des Lebens, heißt das, an die Zukunft in der Gegenwart – über die Vergangenheit erfahren wir nichts. Zukunft, das hiess vor knapp vierzig Jahren noch: Industrieanlagen und gigantische Teleskope, heute gäbe es da nichts Sichtbares mehr zu filmen, da sich die Zukunft ins Mikroskopische von Genen und Chips verflüchtigt hat; aber schon in Antonionis Film sieht die Welt der Industrie und Technik eher nach Demontage als nach Aufbruch aus; nicht wie Vorstellungen, eher wie Rückstände muten die Gebäude an.

Technik, Color. Für die gelingende Anpassung an die neuen Verhältnisse steht im Film Giulianas vierjähriger Sohn Valerio, der sich selbstverständlicher als alle anderen zwischen Chemiebaukasten und selbständig herumfahrendem Roboter im Kinderzimmer (seiner Welt) zurechtfindet. Für die neuen Verhältnisse kann aber auch der Farbfilm stehen, den Antonioni in „Deserto Rosso“ zum ersten Mal benutzte. Denn auch er ist ein Resultat der Industriewelt, die der Film als moderne Wüste mit Faszination und Distanz schildert, und die Manipulationen, die Antonioni und sein Kameramann Carlo di Palma mit Filtern und über gezielte Unschärfen vornehmen, sind technische Verfahren, die den industriellen Komplexen entstammen, die sie abbilden. Der Konflikt zwischen neuer und alter Zeit, zwischen „Natur“ und „Technik“ wird hier im Gegensatz von Eastmancolor und Technicolor ausgetragen. Natürlich ist das eine Verfahren so technisch wie das andere, aber nach dem lauten Technicolor der Frachtschiffe und Industrieanlagen wirken – in der utopischen Geschichte, die Giuliana ihrem Sohn als Einschlafgeschichte erzählt – das Meer, der Strand, das Segelschiff so archaisch und beruhigend wie die Motive und die singende Stimme, die sie begleitet. Mir kommt es vor, als gebe es eine so deutliche Abstufung von Zuständen über unterschiedliche Farbverfahren selten in Filmen. Immer muß gleich körniges Schwarz-Weiss gegen das Bunte gestellt werden, um überdeutlich auf Zeit- oder Realtitätssprünge innerhalb einer Erzählung hinzuweisen.

Augen, Blicke. Als der Sohn eine Lähmung seiner Beine vortäuscht – oder sie tatsächlich empfindet – und Giuliana ihm vergeblich zu helfen versucht, sieht man auf der Fensterbank seines Zimmers ein merkwürdiges Spielzeug: ein großes, nacktes Plastikauge, auf einen weissen, geschwungenen Sockel montiert. Auch der Roboter, der nachts von selbst immer wieder aufs Neue gegen die Wand fährt, scheint hauptsächlich aus zwei leuchtenden Augen zu bestehen. (Künstliches) Sehen und (künstliches) Leben, das wird hier ganz im Sinne einer langen Tradition miteinander kurzgeschlossen, die in den Augen ein Fenster zur lebendigen Seele erblicken will. Für Giuliana ist beides im gleichen Masse fragwürdig geworden. „I feel as if my eyes are wet“, sagt sie an einer Stelle zu Corrado, „but what do people expect me to do with my eyes? What should I look at?“ Und er antwortet: „You say: what should I look at. I say: How should I live. It’s the same thing.“ Zumindest in der Fragwürdigkeit versucht er, eine Gemeinsamkeit herzustellen und sieht nicht, daß es gerade die Gemeinsamkeit sein könnte, die ihr fragwürdig geworden ist.

La Caméra pinceau. Antonioni hat, um die gegenseitige Bedingtheit von Guilianas Psyche und der wahrgenommenen Welt ins Bild zu setzen, damals eine ganze Straße grau-grün anmalen lassen, und die Fabriken hat er in ihrer Funktionslosigkeit fotografieren lassen, als wären es Kunstwerke. Unklar, was hier hergestellt wird außer Rauch und gelb-giftigen Dämpfen; es wirkt tatsächlich, als seien es in erster Linie Produktionsstätten für Farben und Bilder. Man liest auch immer wieder, daß in diesem Film der Farbe ebenso viel Gewicht verliehen werde wie den Charakteren und ihren Dialogen oder dem Schnitt. Das läßt sich leicht behaupten; bei wenigen anderen Filmen habe ich allerdings tatsächlich das Gefühl gehabt, daß sich die Bereiche gegenseitig so entschieden in Schach halten und jedes für sich im gleichen Maße Aufmerksamkeit beansprucht. „In ‚Die rote Wüste‘ hatte ich den Eindruck, daß die Farben nicht vor der Kamera, sondern in der Kamera seien […]. Man hat wirklich das Gefühl, daß es die Kamera ist, die ‚Die rote Wüste‘ hergestellt hat“, hat Godard 1967 in einem langen Gespräch mit den Cahiers du Cinéma gesagt und den Film dadurch in seiner Farbdramaturgie von Le mépris abgegrenzt. Eine Selbstverständlichkeit, die man – gerade deshalb – leicht vergisst: die Kamera stellt die Farben her, sie malt, wo sie vorgibt, aufzunehmen. Der physikalischen Wirklichkeit wird damit nicht eine zweite Wirklichkeit entgegengesetzt; vielmehr werden die Kamera und Giuliana in ein Verhältnis zueinander gebracht. Als Farb-, Licht- und Klangsensoren, deren Wahrnehmung nicht stabil, sondern veränderlich ist. „Innenfarben“, „Affektfarben“ hat Frieda Grafe das genannt. Affektfarben, so liesse sich anschliessen, in doppeltem Sinn: Farben, die als Affekt (Giulianas) verstanden werden wollen, die aber zugleich ihrerseits (den Zuschauer) affizieren.

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Temperaturen. In einer Szene albern Giuliana, ihr Mann Ugo, Corrado, ein befreundetes Pärchen und eine weitere Frau in einer heruntergekommenen Anglerhütte herum; es geht um die sexuell stimulierende Wirkung von Wachteleiern, um Lust und Arbeit. Dahergesagte Worte nehmen den Platz ein, den Gesten füllen könnten. Die Schlafkoje, ein enger Holzverschlag im Raum, in dem sich die fünf tummeln, ist innen knallrot gestrichen; als es kalt wird und das Brennholz ausgegangen ist, beginnen sie, die Koje abzureissen und im Ofen zu verfeuern: Wärme ist nur um den Preis der Zerstörung möglich, um den Raum zu beheizen, demontiert man ihn vollständig. Wenn ich die gellend roten Wände sehe, kommt es mir vor, als müsse dieser Film Pate gestanden haben für Bitomskys Buchtitel „Die Röte des Rots von Technicolor“. Ein Signalrot, daß dem Zuschauer seine Ambivalenz ins Auge schleudert: Es alarmiert, aber es könnte ebensogut als Orientierung im Nebel und Rauch dienen, durch den Giuliana in anderen Szenen wankt. Zwischen Grau und Grell taumelt auch der Film ästhetisch hin und her, die Farben vermischen sich wie Stimmen im Kopf.

Babel. Ein Film, der so gemacht ist, als würden permanent verschiedene Sprachen durcheinandergesprochen, wie es in der Episode mit dem türkischen Seemann am Ende dann tatsächlich auch ist. Sie fragt, ob das Schiff auch Personen mitnehme, er versteht kein Wort, redet seinerseits auf Türkisch. Und genau in dieser Situation öffnet sich Giuliana stärker als im ganzen Film zuvor. Weil sie weiss, daß sie nicht verstanden wird. „Ich muß daran denken, daß alles, was mir begegnet, mein Leben ist.“ Resignation, Trost. Das eine im anderen. Sich selbst als Ort von Übersetzungen begreifen.

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Ein weiterer Text – von Wolfgang Schmidt – zu „Die rote Wüste“ findet sich hier.

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