Einträge von Rainer Knepperges

Donnerstag, 05.12.2013

Dampfnudelblues

Sebastian-Bezzel-Dampfnudelblues-2013-Ed-Herzog
Sebastian Bezzel in Dampfnudelblues (2013 Ed Herzog)

Dampfnudelblues, den ich vorgestern im Münchner Rio auf der Leinwand sah, ist ein bemerkenswert europäischer Film. Aus allen Richtungen münden Traditionspfade in die reizende Rundheit dieses kleinen Krimis. Von Osten her kommt Zbynek Brynychs gewagtes Spiel mit Blicken, die in die Kamera und durch uns ins Nichts gehen. Aber weniger nervös, eher auf die ruhige Art, in der es der Norweger Rasmus Breistein schon 1926 in Brudeferden i Hardanger zelebrierte. Von Westen gelangt Jean-Pierre Mockys drastische Kunst der menschlichen Karikatur in diesen kontrastreichen Kreisverkehr. Und nach Süden hin führt letztendlich die italo-bayrische Fliehkraft von Lemkes Amore und Niklaus Schillings Vertreibung aus dem Paradies. Ed Herzogs rundum gelungene Komödie ist das ganz unauffällig höchst persönliche Werk eines Routiniers, der nicht vergessen hat, was ihm im Kino und am Leben gefällt. Best of Rock. In einer schönen Nebenrolle außerdem noch: Nina Proll!

Heute um 20:15 in der ARD

Montag, 11.11.2013

Freizeichen / Phantomzeichnung

Die Bande des Schreckens
Die Bande des Schreckens (1960 Harald Reinl)

„All die stillen Objekte, die unser Heim konstituieren, die Flure, Treppen, Winkel, Türen, (…) die nur auf den Weckruf ihres tönenden Anführers warten, um endlich ihre Knechtschaft abzuwerfen.“
(wayward cloud: „Das Telefon sagt du„)

Als Frühaufsteher unter den Dingen sind die Puppen die Ersten, die den kinematografischen Weckruf hören: das Tote möge lebendig werden. Zum Leben erwachen, um zu töten.

1949 - Follow Me Quietly - Richard Fleischer

„Die Polizei hat eine Phantomzeichnung des bewaffneten Mannes veröffentlicht, der am Donnerstag den Besitzer eines Juwelengeschäfts auf der Jamaica Avenue in Queens erschossen hat.“

Anhand von Beschreibungen wird eine lebensgroße, gesichtslose Puppe hergestellt und Photografien davon werden vervielfältigt.

1949 - Follow Me Quietly - Richard Fleischer.

Follow Me Quietly (1949 Richard Fleischer) ist ein Polizeifilm, der sich dem Realismus nicht verpflichtet, eher zum Surrealismus hingezogen fühlt. Auf der Suche nach Groschenheften streifen die Fahnder durch Antiquariate. (Ich musste an Peter Cushings schwedischen Buchladen denken.)

1949 - Follow Me Quietly - Richard Fleischer..-

Würde man behaupten, dieser 60minütige Film markiere den Weg von Bunuel zu den Zucker-Brüdern, dann wäre mit gleichem Recht zu sagen, der Vogel Strauß sei: halbe Strecke – Huhn – Giraffe. Was ja auch nicht ganz falsch ist.

A Dandy in Aspic - 1967 - Anthony Mann 1

A Dandy in Aspic - 1967 - Anthony Mann 2
Gleisdreieck spielt Friedrichstraße, A Dandy in Aspic (1967 Anthony Mann)

Einer der Autoren von Follow Me Quietly war Anthony Mann. Als roter Faden geht durch dessen Werk: die innige Todesnähe. Ein Sarg bietet Schutz vor Attentätern in The Tall Target (1951), bei der Bergung einer Leiche wird der Tod nicht gescheut in Naked Spur (1953), ohne Leben sind die Befehlenden in Men in War (1957) und El Cid (1961). Während der Dreharbeiten zu A Dandy in Aspic starb Anthony Mann im April 1967 in Berlin.

1949 - Follow Me Quietly - Richard Fleischer...
Follow Me Quietly (1949 Richard Fleischer)

„Ein Mann rief gestern bei der Polizei an und sagte, er wollte sterben, oder reden. Als die Polizei kam und ihn retten wollte, sagten sie zu ihm: ‚Hey Pedro, was ist das Problem?'“
(Claudia Basrawi: Jamaica Avenue – Dérive)

„Die Welt ist dumm, die Welt ist blind.“ So lautet die Parole, die der Doppelagent in A Dandy in Aspic ins Telefon spricht, auf Deutsch. Worte von Heine, der Anfang eines Liebesgedichts. *

Lemke the plumber, Jamaica Avenue, Queens, Detail, Foto - Claudia Basrawi
Lemke the Plumber, Queens, Jamaica Avenue (Foto: Claudia Basrawi); Geheimnis des verkehrten „u“

„Wer vorgibt, die Zeit zu messen, mißt in Wirklichkeit nur Veränderungen im Raum. Die Zeit ist nicht homogen. Sie ist eine nicht umkehrbare Reihe. Eine Rückkehr zur vorherigen Situation ist unmöglich. Man kann sich nicht vorwärts und rückwärts in der Zeit bewegen, nicht so wie im Raum. Jeder Moment ist etwas Neues, Einmaliges, Unwiederholbares.“

Die Zitate sind Claudia Basrawis Blog entnommen, der frisch eröffnet und sehr zu empfehlen ist. Als Zugabe ist ihr legendärer psychogeografischer Diavortrag (2001 von Matthias Eder dokumentiert) auf vimeo zu genießen.

side street 1950 anthony mann
Side Street (1950 Anthony Mann), „the surrealist mystery of New York“

Das gab es vor dem Internet nicht: Ein Nachschlagewerk als Flaschenpost. Mit einem Register in Geheimtinte. Das Werk eines Lyrikers. Christopher Mulrooney. Unermüdlich und ein wenig ermüdend ist sein Wüten gegen die Zunft der Kritiker, das Dumme und Blinde. Aber mit wachsendem Interesse schlage ich nach, was Mulrooney dagegen ins Feld führt, was er zu sagen hat – zu Fleischer, zu Mann, zu Aldrich, Jacques Becker, William Castle, DeMille, Blake Edwards, Franju, Ben Gazzara (Regisseur zweier Columbo-Folgen)… Für Mulrooney ist das Kino (und das Fernsehen) ein Kosmos der Ähnlichkeiten, voll von Vorbildern und Vorwegnahmen. In die Texte eingeschrieben ist die Begeisterung, dass nichts einen Film besser kritisiert und interpretiert als ein anderer Film.

1968 - Dominique Webb

Dominique Webb hypnotisiert 3 Passanten. Auf welche Art das (1968 von Bernard Bouthier) gefilmt wurde, amüsiert und verblüfft mich. Es ist nicht herauszufinden, ob dieser Fernsehbeitrag ursprünglich schon nach 13 Minuten so wunderbar plötzlich endete.

Unser Doktor 1970

Man kann, wie Dominique Webb, mit einem Sack überm Kopf eine Autofahrt durch Paris unternehmen, aber ebenso gut auch mal, wie Martin Müller und Veith von Fürstenberg, raus aus der Stadt, tief in den Wald fahren, wo die Lichtspiele des Herbstlaubs stattfinden.

Angereiste aus Aachen und Nürnberg kamen am vorletzten Wochenende in den Kölner Filmclub 813, wo drei Kurzfilme von Martin Müller liefen: Die Kapitulation (1967), Zinnsoldat (1968), und Unser Doktor (1970)- produziert von Boris Marangosoff alias Marran Gosov.

The Fall of the Roman Empire - 1964 - Anthony Mann
The Fall of the Roman Empire (1964 Anthony Mann)

Das kleine Reservat, das Martin Müllers Regieschaffen in der deutschen Filmgeschichte zukommt, lässt sich beschreiben als munteres Quellgebiet, lichter Urwald, aus dem heraus vor langer Zeit zwei ungleiche Ritter namens Lemke und Wenders entgegengesetzte Richtungen einschlugen.

selestat sommer 2013 a
Sélestat, Elsass

Wir wunderten uns. Nicht weit entfernt von Sélestat entstieg dem Mont St. Odile eine gewaltige Nebelwolke. Dort, wo Odile Tränen vergossen hatte im Gebet, ihren verbrecherischen Vater aus dem Fegefeuer zu erlösen, liegt heute eine Kultstätte. Ein Treffpunkt verbrecherischer Väter? Vor Dieben wurde gewarnt, und Blaulicht umzuckte im Viertelstundentakt diesen Vulkan der Kälte.

Uns entging nicht, dass die Menschen südlich des Berges den Storch kultisch verehren; nördlich betet man den Schwan an.
Im Stadtpark von Lyon hatten wir auf unserer Reise viele Flamingos gesehen. Der Flamingo ist ein schlanker, rosa Schwan auf Storchenbeinen.

Montag, 30.09.2013

Karten, Pläne (Väter, Söhne)

Cinema Victoria, Aix les Bains, 2013
Der Abendhimmel steht in Flammen über dem Victoria in Aix les Bains.

Landkarten, die wir von den „geheimen“ Wegen unserer Gegend machten, Schatzpläne von „Schätzen“, die wir selbst vergraben hatten, gefielen uns erst dann so richtig, wenn ihr Rand verkokelt, von Streichholzflammen angenagt, Alter vorgaukelte. Alte Geschichte. Altes Verbrechen.

Unconquered Pittsburg
Ein brennender Pfeil trifft Pittsburgh, in Unconquered (1947 Cecil B. DeMille)

Hätte ich wegen Brandstiftung (es war nur eine Nachbarswiese) vor einem Kinderrichter gestanden, dann hätte mich ein guter Kinderanwalt mit dem Hinweis auf den Vorspann von Bonanza (Anstiftung zur Pyromanie!) vielleicht vor dem Kindergefängnis retten können.

Bonanza 1960
Virginia City fängt Feuer. Bonanza (1959-1973)

„Lorne Greene (synchronisiert von Friedrich Schütter) war als Ben Cartwright die Gussform des väterlichen Mannes in der BRD (Erik Ode, Werner Höfer, Hennes Weisweiler, Willy Brandt…). Seine Söhne waren ständig in Gefahr. Meine Eltern sprachen darüber, dass der sympathische Dan Blocker (Hoss) schon 1972, im Alter von 40 Jahren, so jung! gestorben war. Die Fernsehzeitung wies beharrlich darauf hin. Aber sonntags um 18:10 ritt der Tote froh heran und blickte aus dem Flammenkranz heraus, als sei dieser ein warmes Nest. Eine harmlose Welt, in der es von Anfang an keine lebende Mutter gab.“ Diese Sätze schrieb ich vor einigen Jahren in SGE ganz arglos hin. Jetzt schau ich mir wieder Bonanza an, zumindest all jene Folgen, die von Lewis Allen inszeniert wurden. — Harmlose Welt?

1957 - Dangerous Exile - Brian Desmond Hurst-

Ein roter Vorhang wird hochgerafft und eröffnet den Blick auf England zur Zeit der französischen Revolution: Dangerous Exile (1957 Brian Desmond Hurst), deutscher Titel: Im Dienste des Königs.
Ein Royalist (Louis Jourdan) schickt seinen kleinen Sohn ins Gefängnis, im heimlichen Tausch gegen den Thronfolger, der nach England fliehen kann. Der Schauplatz des Films, die Küste, leuchtet rot wie Blut.

Storys von Vätern und Söhnen waren in der zweiten Hälfte der 50er Jahre ganz besonders in Mode. In Robert Mulligans Baseball-Psychodrama Fear Strikes Out (1957) lebt Anthony Perkins in ständiger Angst, er würde seinem Vater etwas schuldig bleiben; erbarmungslos giert Karl Malden nach sportlichen Erfolgen seines Sohnes. Jean-Pierre Mocky wird in die Psychatrie gebracht, von seinem Vater, in Franjus La Tête contre les murs. Unüberboten: Der vitale Vater, der seinem labilen Sohn die Freundin ausspannt in Aldrichs Autumn Leaves, dargestellt von Lorne Greene.

12 Angry Men

12 angry men.
Lee J. Cobb zerreißt das Foto seines Sohnes am Ende von 12 Angry Men (1957 Sidney Lumet).

Burl Ives war 1958 in mehreren Filmen als Vater tief unzufrieden – mal mit Paul Newman (Cat on a Hot Tin Roof), mal mit Chuck Conners (The Big Country). In Hathaways From Hell to Texas ist Dennis Hopper der glücklose Patriarchensohn und die Enttäuschung wird zum Spektakel. In verträglicheren Variationen des Themas, verlangt der tote Vater gerächt zu werden. Das ist die Hamletaufgabe. Beispielsweise in Käutners Der Rest ist Schweigen, 1959.

Alle Söhne enttäuschen alle Väter. Das galt auch für Alfred Hitchcock und den heiligen Franziskus. Beide wurden von ihren Vätern vorrübergehend hinter Schloss und Riegel gebracht.
Ebenso Otto Gross. Der „erste Gesellschaftskritiker unter den Psychoanalytikern“ wurde 1913 in eine Anstalt eingeliefert von Hans Gross, dem „Vater der Kriminologie“ (der mit seiner Idee, Landstreicher, Revolutionäre und Degenerierte zu deportieren, Kafka zu „In der Strafkolonie“ inspirierte).

derricks-buero-skizze_660
via

Auch in Dominik Grafs Lawinen der Erinnerung (2012) kommt das Vater-Sohn-Problem zur Sprache. Der 82jährige Fernsehspielveteran, Raumpatrouillenerfinder, Schriftsteller und Kultusministersohn Oliver Storz beschreibt sein Gefühl, dem Vater etwas schuldig geblieben zu sein. Er liefert diese Auskunft als Antwort auf Grafs Frage nach dem notorisch abwesenden Schuldgefühl der Deutschen. Eine seltsame Verlagerung ist das. Von der Schuld – zur Bringschuld – zur Verpflichtung – zur Leistung – zur Qualität. Lobesworte, die ich allzu häufig lese: Genauigkeit, Strenge, Präzision. Die dazu passenden Abfälligkeiten über Komparsen amüsieren mich nicht. Glücklicherweise lässt sich Storz von Dominik Graf zu Grundrisszeichnungen seiner Heimat anstiften – das Schwimmbad, der Marktplatz. Da macht die flüsternd versprochene Lawine einen kleinen Rutsch.

Decoy (1946 Jack Bernhard)
Decoy (1946 Jack Bernhard) via

Zwei, die nur so tun als seien sie Vater und Sohn, skizzieren einen „Schlachtplan“, in We’re the Millers (2013 Rawson Marshall Thurber). Es ist der Vater (Jason Sudeikis), der den Plan entwirft – mit einem Kronkorken und einer Zigarettenkippe im Staub eines mexikanischen Straßenrands – und es ist selbstverständlich der Sohn, der sich opfern soll.

I Died a Thousand Times 1955
I Died a Thousand Times (1955 Stuart Heisler)

Eine empirische Untersuchung wünsche ich mir, die meine Ahnung bestätigt und statistisch belegen kann, dass auf Papier skizzierte Unternehmungen in der Mehrzahl aller Filme scheitern.

Man mag fragen, ob es wirklich einen Zusammenhang gibt zwischen Kartografie und dem Vater-Sohn-Problem. Aber das Kino nimmt unter all den vielen Wünschen, die es erfüllt, auch immer wieder den ernst: sehen zu wollen, dass jemand etwas plant – und versagt. Und das erlaubt Söhnen und Vätern in Filmen zu sein, was sie sind: Enttäuschungen.

„Ich behaupte übrigens, dass Eltern ihre Kinder und Kinder ihre Eltern als eigentlich lebendige Menschen zu sehen gar nicht leicht bereit sind, vielmehr füreinander eine gegenseitige Sollvorstellung bilden, die, wenn man sie genauer betrachtet, mit dem Gedanken, dass so ein Vater etwa ja auch ein eigenes Leben, eine Lebensgeschichte habe, fast unvereinbar erscheint …“ (Heimito von Doderer: „Ein Mord den jeder begeht“, 1938)

Seven Thieves 1960 Henry Hathaway
Seven Thieves (1960 Henry Hathaway)

Kunstvoll eingelassen, wie eine Intarsienarbeit, ist die Vater-Sohn-Geschichte in Seven Thieves, ein unscheinbares, überraschend schönes Schmuckstück.

Rawhide 1951 Henry Hathaway
Rawhide (1951 Henry Hathaway), der spannendste Western aller Zeiten.

Ob Hathaway seine furiosen Actionszenen so geplant hat wie der Outlaw Zimmerman (Hugh Marlowe) den Postkutschenüberfall in Rawhide?

Gore's birdseye map of Los Angeles as it appeared in 1871.
In die wunderschöne Kartensammlung des Filmemachers Chad Freidrichs sollte man unbedingt einen Blick werfen. Big Map Blog

Robert Louis Stevenson schrieb über die Entstehung seiner Schatzinsel, es geschehe vielleicht nicht häufig, dass eine Landkarte eine so bedeutsame Rolle in einem Romane spielt, doch sei es immer von Wichtigkeit, dass der Autor seine Landschaft kenne, egal ob sie wirklich oder aus der Phantasie entstanden sei. Dass er sie „kenne wie seine Hand. Die Entfernungen, die Kompasspunkte, die Stelle des Sonnenaufgangs, das Benehmen des Mondes, alles sollte klar vor ihm liegen. Und wie beschwerlich ist der Mond!“

duel - 1971 - Spielberg
Duel, Conversation with Steven Spielberg (2001 Laurent Bouzereau)

Steven Spielberg plante den extrem kurzen Dreh seines Duel (1971) nicht mit Hilfe eines Storybords, sondern mit einer Landkarte, auf der die Fahrtroute, das Geschehen und die vorgesehenen Kamerapositionen eingezeichnet waren.

duel - 1971 Spielberg
Im Film fährt der Truck andersherum, ohne Umweg, hinein in die Telefonzelle.

Kommt das Gespräch auf Spielberg, dann fällt unweigerlich der Satz: „Der weiße Hai ist gut.“ Man sollte aber sagen: Auch Duell ist gut. Auch Die Begegnung der dritten Art. Und Im Reich der Sonne. Und Always. Anfang August sah ich im Kinderprogramm des Metropolis-Kinos endlich wieder E.T. (1982).
Ein Atlas und ein Globus werden da herangezogen, um dem kleinen Fremdling die Frage zu verdeutlichen, von wo er denn herkomme, und sein langer Finger hebt sich himmelwärts.

Freud 1917
Freud, 1917

Wir wissen natürlich, „dass der Wunsch fliegen zu können, im Traume nichts anderes bedeutet als die Sehnsucht, geschlechtlicher Leistungen fähig zu sein“ (Freud: „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“, 1910). Auf Kinderfahrrädern Straßensperren zu überwinden ist aber nur das eine, das andere ist: die Intimität der geschwisterlichen Geheimnisse im verschlossenen Kinderzimmer. Für die rätselhafte Schönheit dieses (vaterlosen) Films ist eine Szene ganz besonders beispielhaft: Wenn E.T. an Halloween als Gespenst verkleidet am helllichten Tag umherspaziert. Unterm Bettlaken versteckt erblickt er zum ersten mal ganz viele Menschen auf der Straße, in tausend Varianten bezaubernd kostümiert, alle zum Fürchten, nur die Mutter gefällt ihm.

Um Religion ginge es in E.T., wurde gesagt. „Man übersieht dabei nur, dass eine solche Entstellung unerlässlich ist, wenn eine poetische Gestaltung des Stoffes versucht wird.“ Der kahle kleine Freund der dem Knaben in aller Heimlichkeit solche Freude beschert, hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgendeinem bislang bekannten Propheten. Er, um dessen Verlust der Knabe so nachvollziehbar fürchtet, wird von uns Menschen Penis genannt. Die mondbeschienene Gartenlaube, der klirrende Schlüsselbund und die Ärzte in Astronautenmontur, es wird wohl nie eine poetischere Gestaltung der Kastrationsdrohung gelingen. „Die ganze Begebenheit, in der man wohl das zentrale Erlebnis der Kinderjahre erblicken darf, das größte Problem der Frühzeit und die stärkste Quelle späterer Unzulänglichkeit, wird so gründlich vergessen, dass dessen Rekonstruktion in der analytischen Arbeit auf den entschiedensten Unglauben des Erwachsenen stößt.“ (Freud: „Abriss der Psychoanalyse“, 1938)

Smith
John F. Smith, 1888 via

Spielbergs Lincoln (2012) ist ein famoser Film über Demokratie und ebenfalls ein famoser Vater-Sohn-Film. Die wichtigste Stimme holt sich der Präsident (Daniel Day Lewis) bei einem unbestechlichen Gegner, zu dem er wie nebenbei von seiner Beziehung zum eigenen Vater spricht, vom Vater-Sohn-Konflikt als Selbstverständlichkeit. Die Loslösung von der Parteilinie vollzieht der Überläufer dann mit einem gewaltigen Urschrei.

An anderer Stelle drückt sich Lincoln durch ein Gleichnis aus: Ein Kompass (die Moral) sei in sumpfigem Gelände kaum von Nutzen, wenn man die Lage der Sümpfe (die Interessen) nicht kennt.

Close Encounters of the Third Kind 1977 Spielberg
Close Encounters of the Third Kind (1977 Steven Spielberg)

Um der Gefahr zu entgehen, beim Dreh auf Pariser Straßen und an französischen Stränden in die Fallen des Dekorativen, unter das Diktat der fotografischen Schönheit zu geraten, hielt sich Eric Rohmer stets eisern an die geografisch korrekte Wiedergabe seiner Drehorte.

Eric Rohmer in New York 1972

Durch New York lief Rohmer 1972 mit einem angeklebten Schnurrbart. Aber das gehört hier nicht hin.

Dem eigenen Vater von Jahr zu Jahr zunehmend ähnlich zu sehen, empfinde ich beim Blick in den Spiegel als alberne Maskerade.

King Kong (1933 Merian C. Cooper & Ernest B. Schoedsack)
King Kong (1933 Merian C. Cooper & Ernest B. Schoedsack) via

„Ich weiß aus meiner Filmerfahrung“, sagt der Filmregisseur in King Kong, „dass man Kamera und Stars immer bei sich haben sollte. Vielleicht könnte man sie gebrauchen.“

Son of Fury 1942 John Cromwell
Sehr schöne Überblendungen gibt es in Son of Fury (1942 John Cromwell), und sehr schöne Bilder von Walen.

Hanns Zischler stößt im Shellatlas auf einen Ort namens Machtlos und schlägt einen Abstecher vor. Aber den hat Rüdiger Vogler schon auf seiner letzten Tour gemacht: „Ein Dorf wie jedes andere“. Im Lauf der Zeit (1976 Wim Wenders)

„Es gibt nichts unbetretenes mehr. Es sieht so aus, als wäre überhaupt kein Stückchen unerfasster Natur mehr übrig, weder draußen noch drinnen. (…) Nicht bloß werden Verkäuferinnen im Lächeln ausgebildet und der Betriebsleiter in Menschenbehandlung, sondern es wird gang und gäbe, das mühsam gelernte, wohl gar durch Psychotherapie bewirkte, unverpflichtende, neutrale Wesen, das durch Bekundung von Affekten sich keine Schwierigkeiten schafft und mit den Spielregeln der Gesellschaft auf gutem Fuße steht, als das natürliche anzusehen – und das natürliche in seiner Befangenheit als unnormal.“ (Max Horkheimer: „Begriff der Bildung“, 1952)

The Lady in Cement 1967 Gordon Douglas
The Lady in Cement (1967 Gordon Douglas), mit Dan Blocker.

Die Männer, die auf Stevensons Schatzinsel schlussendlich in den Besitz der Karte kommen, werden damit nicht froh.

Natürlich erzählt „Die Schatzinsel“ weniger von einer Schatzsuche als vielmehr von der Suche nach einem Ersatzvater. Eine nicht ungefährliche Suche, die einigermaßen glimpflich missglückt.

In Stevensons unvollendetem Vater-Sohn-Roman „Weir of Hermiston“ hätte am Ende ein strenger Richter über seinen Sohn das Todesurteil verhängt.

1974 - The Apprenticeship of Duddy Kravitz - Ted Kotcheff
The Apprenticeship of Duddy Kravitz (1974 Ted Kotcheff)

Ein Mann sei ohne ein Stück Land kein Mann, hat Duddy Kravitz (Richard Dreyfuss) vom Großvater gelernt. Die Geringschätzung, die mit dieser Perspektive väterlicherseits vererbt wurde, lässt sich unmöglich ins Gute wenden. Der Vater (Jack Warden) ist erst froh, wenn der Sohn Geschichte ist. Ted Kotcheffs Filme sind unkapriziös analytisch und unvorhersehbar drastisch. (Tiara Tahiti, Life at the Top, Wake in Fright, Billy Two-Hats, The Apprenticeship of Duddy Kravitz, First Blood… Ich verlange eine Retrospektive.)

Close Encounters of the Third Kind (1977 Spielberg)
Close Encounters of the Third Kind (1977 Steven Spielberg)

Um sich voll und ganz der Berglandschaft in seinem Wohnzimmer zu widmen, schickt Richard Dreyfuss seine Familie zum Teufel. Das habe Spielberg, laut eigener Auskunft, so unbarmherzig nur darstellen können, solange er selber kinderlos war (sagte mir Claudia Basrawi, bevor ich ihr von meiner Bildersammlung erzählte).

„Zeit aber steht für Liebe; der Sache, der ich Zeit schenke, schenke ich Liebe; die Gewalt ist rasch.“ (Horkheimer, 1952)

oz
Ost und West sind vertauscht auf Lyman Frank Baums „Map of the Marvellous Land of Oz

Zum ersten Mal gefiel mir 3D. Das greifbar Unechte des Verfahrens passte in Oz the Great and Powerful (2013 Sam Raimi) sowohl zur Kirmesbudentraurigkeit am Anfang als auch zum großen finalen Triumph, der mittels billiger Zaubertricks über die böse Hexerei errungen wird. Nebenbei erzählt der Film sehr schön, was aus Frauen Hexen macht: die Gleichgültigkeit eines Mannes.

Mysterious Island
Jules Vernes geheimnisvolle Insel: Île Lincoln. Mysterious Island (1961 Cy Endfield)

Es kommt vor, dass sich ein Mann mit seinem U-Boot unter einer Vulkaninsel versteckt hält.

In Guillermo del Toros Pacific Rim (2013) gibt es keine Pläne auf Papier, sondern Holografien, die sichtbar machen, was man nicht verstehen kann: ein Zugang zur Erde, eine Art Geburtskanal, auf dem Meeresgrund gelegen. Außerirdische schicken da hindurch urzeitliche Godzilla-Gorilla-Echsen in exponentialer Häufung zum Kampf gegen die Menschheit. Die wehrt sich mit gigantischen Robotern, in deren Köpfen Piloten und Pilotinnen paarweise – in einem Zustand totalen gegenseitigen Vertrauens, „Drift“ genannt – als rechte und linke Gehirnhälfte ihr Bestes geben. Unter den Pilotenpaaren auch ein Vater und sein Sohn… und wie man weiß, sterben im Krieg die Söhne, die Väter überleben.

Dass es in vielen Science-Fiction-Kriegen schlussendlich gegen Mütter-Monster, gegen die Fruchtbarkeit schlechthin zu kämpfen gilt, das will ich als Thema noch nicht mal anreißen. Bei Del Toro wird einem gerade geborenen, äußerst aggressiven Ungetüm die Nabelschnur zum Verhängnis.

Sea Monsters (C van Duzer) 012
Die umfang- und einflussreichste Seeungeheuersammlung des 16ten Jahrhunderts, in Olaus Magnus‘ „Carta Marina“, 1539/1572, via Bibliodyssey

„Dass die ungeheure Wassermenge, die beinahe den ganzen Erdball umgibt, Tiere verbergen kann, die man sich überhaupt nicht vorstellen kann – wer hätte die Kühnheit, zumindest diese Möglichkeit zu leugnen?“ (Guy Endore: „The Werewolf of Paris“, 1933)

Guy Endore (1900 – 1970) hat das allerspannendste Vater-Sohn-Buch geschrieben: „King of Paris“ über Alexandre Dumas, den Älteren und den Jüngeren.

Baptista Boazio's illustrations of Francis Drake's West Indian Voyage, from 1589
Francis Drakes Karibikfahrt; Detail aus Giovanni Baptista Boazios Kupferstich von 1589 via

Nur am Rande: Väter von Töchtern – beispielsweise Will Rogers in State Fair (1933 Henry King) oder Chishu Ryu in Banshun (1949 Ozu), Fred MacMurray in Father Was a Fullback (1949 John M. Stahl), Spencer Tracy als Father of the Bride (1950 Vincente Minnelli), Walter Matthau in The Bad News Bears (1976 Michael Ritchie) und Louis C.K. als Louie – sie sind alle sanfte Seelen.

Gerade aktuell im Kino zu bewundern, in The Conjuring (2013 James Wan), Patrick Wilson und Ron Livingston – gleich zwei tolle Väter von Töchtern – im Kampf gegen Dämonen, Möbel und Mütter. Ganz kurz wird da auch mal eine Landkarte zu Rate gezogen, aber statt vergangenen Bodenspekulationen nachzuforschen, werden gegenwärtige Gespenster mit adäquaten Mitteln gejagt, mit Kassettenrekorder und Schmalfilm, mit der technischen Gerätschaft der modernen Poesie.

Väter von Töchtern, so scheint es mir, werden allgemein sehr viel sympathischer gezeichnet als Väter von Söhnen. Nichtsdestotrotz stecken letztere in den herzerreißenderen Rollen: Emilio Cigoli in I bambini ci guardano (1943 Vittorio De Sica), Robert Keith in Fourteen Hours (1951 Henry Hathaway), Alan Arkin in Popi (1969 Arthur Hiller), Judd Hirsch in Running On Empty (1988 Sidney Lumet), Barry Otto in Strictly Ballroom (1991 Baz Luhrman), André Dussollier als Vater von Tanguy (2001 Étienne Chatiliez), Richard Jenkins in Stepbrothers (2008 Adam McKay), Robert de Niro in Silver Linings Playbook (2012 David O. Russell).

Gastaldi - La Descriptione de la Puglia (1567)
Ausschnitt aus Gastaldis „La Descriptione dela Puglia“ (1567). Am Ufer.

Noch ein letztes Zitat aus Heimito von Doderers „Ein Mord den jeder begeht“ – der berühmte Anfang des Romans: „Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.“

His Majesty O'Keefe 1953 Byron Haskin
His Majesty O’Keefe (1953 Byron Haskin)

„Die sogenannte Bildung der Persönlichkeit, die Verinnerlichung, die Rückwendung des gestaltenden Willens auf sich selbst, so viel Positives sie auch gewirkt haben mögen, trugen doch zweifellos zur Verhärtung der einzelnen Menschen, zum Hochmut, zum Privilegbewusstsein und der Verdüsterung der Welt bei.“ (Max Horkheimer: „Begriff der Bildung“, 1952)

„Alle Triebe, die zärtlichen, dankbaren, lüsternen, trotzigen, selbstherrlichen, sind durch den einen Wunsch befriedigt, sein eigener Vater zu sein“ (Freud: „Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne“, 1910). *

Das „Unter-Über-Ich “ (eine Begriffsfindung Heino Jaegers) bleibt weitenteils unerforschtes Terrain.

Ende des zweiten Teils

Freitag, 20.09.2013

Cinema Lux, Montmédy

Ab morgen läuft im Cinema Lux in Montmédy der neue Film von Jean-Pierre Mocky. Gedreht wurde Le Renard jaune in sieben Tagen. Mit Michael Lonsdale, Dominique Lavanant, Richard Bohringer, Claude Brasseur, Jean-Francois Stévenin, Béatrice Dalle

Sonntag, 15.09.2013

Aufgehoben

1928 - The Docks of New York - Josef von Sternberg
The Docks of New York (1928 Josef von Sternberg)

Eine Kreidezeichnung anzuschauen in einem Kesselraum.

Hedy Lamarr - Experiment Perilous 1944 - Jacques Tourneur
Experiment Perilous (1944 Jacques Tourneur)

Im Museum nur ein einziges Bild sehen zu wollen, und davor, warum auch immer, in Starre zu verfallen.

James Stewart - Harvey 1950 - Henry Koster
Harvey (1950 Henry Koster)

Ein Bild von sich selbst zu besitzen, auf dem zu sehen ist, dass man nicht alleine ist.

Cornel Wilde in Saadia 1953 Albert Lewin
Saadia (1953 Albert Lewin)

„Doch was ist das Sehen, die Sicht, wenn nicht, unzweifelhaft, ein aufgeschobenes Berühren?“ *

Hans Clarin I cento cavalieri 1964 Vittorio Cottafavi
Cento Cavalieri (1964 Vittorio Cottafavi)

Little Man Tate 1994 Jodie Foster
Little Man Tate (1991 Jodie Foster)

00 Schneider 1994
00 Schneider jagt Nihil Baxter (1994 Helge Schneider)

Ein Gemälde, das dem Maler ein Alibi gibt. Doch wie sich herausstellt, hat die Kirchturm-Uhr in Wirklichkeit gar keine Datumsanzeige.

Freitag, 30.08.2013

Karten und Pläne

Christophe Colomb (Gaumont production 1910)
Christophe Colomb (1910 Louis Feuillade)

Landkarten, Globen und handgezeichnete Pläne im Kino. Eine der eindrucksvollsten Bildersammlungen, die mir bislang im Internet begegnet sind, hat Roland-Francois Lack zusammengetragen. Auf Nebenpfaden seiner verwinkelten Webseite begibt sich The Cine-Tourist mit detektivischer Leidenschaft an die Schauplätze der Filme von Capellani, Feuillade, Becker, Chabrol… – oder er trauert um Bernadette Lafont.

Le Chevalier de Maison Rouge (Albert Capellani 1914)
Le Chevalier de Maison Rouge (Albert Capellani 1914) via

„Wenn wir eine Weile in einem gewissen Weltbereich gelebt haben und viele Wege darin gegangen sind, bildet sich in uns ein Netzwerk all dieser Wege in Form einer inneren Landkarte.“
Das schreibt Klaus Wyborny in seinem langerwarteten und jetzt endlich erschienenen Buch „Elementare Schnitt-Theorie des Spielfilms“.

„Diese im Bewusstsein entstehende Landkarte ist etwas äußerst Seltsames. In ihr steckt ein Großteil unserer Lebenserfahrung, in einer merkwürdig wabernden Gesamtheit, worin wir plötzlich aber auch in Details einzutauchen vermögen, die unglaubliche Präzision und Schärfe aufweisen. Dann wieder enthält sie unklare Bereiche, von denen wir gerade mal wissen, dass es darin eine Straße gibt. Solche Landkarten gehören für uns zu den wichtigsten Verankerungen in der Welt, in ihnen findet man das, was man die ‚eigene Heimat‘ nennt. Diese Heimat ist in unserem Bewusstsein auf seltsame Weise ganz und – in paradoxem Sinn – weglos geworden: Weil es so zahlreiche Wege darin gegeben hat, dass sich diese zu einem Gefühl von Verbundenheit verdichteten.“ (Wyborny)

Les Vampires (1916 Feuillade)
Les Vampires (1916 Louis Feuillade) via

„… man müsste da sagen, dass sich eine ganze Anzahl von früher bemerkten und anfangs sogar zur Orientierung benutzten Einzelheiten inzwischen sozusagen eingeebnet hatten – beispielsweise wurde das große rote Schild eines Teegeschäfts beim Heimfahren nicht mehr beachtet, welches lange Zeit hindurch die Einbiegung der Strecke zum Park und die richtige Aussteigestelle verlässlich vorgemerkt hatte. Nein es gab jetzt Dutzende anderer bemerkter Weiser, an die man sich einzeln halten konnte, jedoch tat man nicht einmal das mehr: der ganze Brei zusammen genügte stumpf und sicher für den Weg.“ (Heimito von Doderer: „Ein Mord den jeder begeht“)

Male and Female 1919 Cecil B. DeMille
Reiseplanung in Male and Female (1919 Cecil B. DeMille)

Das ist einer jener Filme von DeMille, in denen mittendrin auf einer Wegstrecke ein Unfall die Karten neu mischt: die Klassenverhältnisse, Männer/Frauen, die Welt fängt neu an, von vorne. Luc Moullet hat darüber sehr schön geschrieben.

sundown 1941 hathaway
Gene Tierney landet am Rhino Rock, in Sundown (1941 Henry Hathaway)

„Man tritt in ein unbekanntes Geschehen und bemüht sich, eine Vertrautheit mit diesen Örtlichkeiten zu entwickeln. Wesentliche Teile des narrativen Systems versuchen, dem Zuschauer die Bildung einer ähnlichen Landkarte zu ermöglichen, wie man sie zur Orientierung in der eigenen Umgebung verwendet.“ (Wyborny)

1951 - Lightning Strikes Twice - King Vidor a

1951 - Lightning Strikes Twice - King Vidor b
Überblendungen in Lightning Strikes Twice (1951 King Vidor).

„Von besonderem Interesse sind im Film daher Situationen, in welchen der Held ein Terrain erkundet, das auch ihm noch unbekannt ist. Dann stehen wir mit ihm auf Augenhöhe und es entsteht eine filmspezifische Spannung.“ (Wyborny)

„Wo man was erlebt, dort ist man bald daheim.“ (Doderer)

Le Trou (1960 Jacques Becker)
Le Trou (1960 Jacques Becker)

Aber kein Plan kann schöner sein als der eines Ausbruchs.

Pepe le moko (Julien Duvivier, 1936)
Pepe le moko (1936 Julien Duvivier)

Ein Polizeikommissar schaut auf kartografiertes und dennoch unwegsames Gelände: Die Kasbah von Algier. Der Gejagte (Jean Gabin) muss aus seinem Refugium herausgelockt werden.

„Der Aal verlässt sein Saragossameer, um in seinem Heimatfluss zu laichen. Er lässt sich von der Strömung und allem Möglichen leiten, gewiss aber nicht von einer Landkarte oder Begriffen wie Zukunft und Vergangenheit. Er jagt einen Zustand, in dem er sich befinden, der er sein möchte, er flieht vor einem Zustand, der er gewesen ist. Die Verbindungslinie besteht gewöhnlich in einer Geraden mit einer Spitze. Sie ist ein Pfeil. Er ist dieser Pfeil. Er folgt der Idee, die er von sich hat. Er jagt dieser Idee, die er von sich hat, in ein Äußeres in ein Unbekanntes hinein. Dies Äußere nennen nur wir Menschen Raum.“ (Wyborny)

Charlie Chan In Panama 1940 - Norman Foster
Charlie Chan In Panama (1940 Norman Foster) via

Würde das X den Ort markieren an dem eine Bombe platziert werden soll, dann müsste uns die Sache keine Sorgen machen, sagt Charlie Chan, denn er weiß: Dies ist der Plan eines Friedhofs.

Rohrpost Paris
Und das sieht fast so aus wie ein Filmschnitt-Diagramm von Klaus Wyborny, ist aber die Pariser Rohrpost. *

Verknüpfungen „zwischen zwei der Erregung fähiger Wesen“ sind das Kleingedruckte in Wybornys Schnitt-Theorie. Das „Kollisionspotenzial“ ist ihr verstecktes Zentrum. „Kollisionsschnitte“, schreibt er, seien „so ungefähr das Komplizierteste, was das narrative System leistet. Deshalb bleiben sie, außer in ihren einfachsten Formen, vielen Regisseuren relativ rätselhaft. Ich meine sogar, dass sie nur im kalifornischen Kino der 1950er und 1960er Jahre von Regisseuren wie Hawks, Vidor, Ford, Walsh, Dmytryk, Hathaway, Mankiewicz, um ein paar zu nennen – sowie vor allem Hitchcock und dem in der Inszenierung von Außenaufnahmen noch erstaunlicheren Anthony Mann – einigermaßen begriffen wurden.“

39 Steps
39 Steps (1935 Alfred Hitchcock)

the furies 1950 anthony mann
The Furies (1950 Anthony Mann)

Nur selten kann eine Landkarte im Film Orientierung stiften, häufiger knüpft sie lose an ein Vertrauen an, sie beglaubigt Autorität, oder aber sie stellt die Macht in Frage.

Prince of Foxes -1949- Henry King
Prince of Foxes (1949 Henry King)

Cesare Borgia (Orson Welles) beobachtet durch ein Loch in der Wand den Mann, den er mit einem Auftrag auf den Weg schickt: nach Venedig.

Reisebefehle, Mordaufträge, Planungen ganz allgemein wecken Misstrauen gegen die Mächtigen, das Schicksal, die große Geschichte.

1931 - Heroes for Sale - Wellman
Heroes for Sale (1933 William Wellman)

Arbeitssuchende werden von riesigen Plakaten abgewiesen, weggeschickt ins Nirgendwo, in eine Landkartenmontagesequenz. We can’t take care of our own. Das Wir entscheidet. Die Slogans der Bundestagswahl wollen entsprechend der Wortkombination „Rotgrün“ aneinander montiert werden: Das Wir entscheidet. Und du? Was willst du noch?

detour - ulmer
Detour (1945 Edgar Ulmer)

„Who knows the city? Only those who walk, only those who ride the bus. Forget the mystical blatherings of Joan Didion and company about the automobile and the freeways. They say, nobody walks; they mean no rich white people like us walk. They claimed nobody takes the bus, until one day we all discovered that Los Angeles has the most crowded buses in the United States. The white men who run the transit authority responded to the news not by improving service, but by discouraging ridership. They raised fares. They stopped printing maps of the bus system. They refused to post route maps or schedules at bus stops. They put their money into more glamourous subway and light rail projects.“ (Thom Andersen: Los Angeles Plays Itself)*

danger diabolik 1968
Danger: Diabolik (1968 Mario Bava) via

Lange habe ich gewartet. Endlich gibt es Neues zu lesen von Pico Be. Zwei schillernde Überblendungstexte, überbordende Pendlerschriften – zwischen München und Berlin.
„München, von Mönchen erbaut, von Bier gestillt, Ort des blauen Himmels und himmlischer Gleichgültigkeit, und dann Berlin, die Stadt im Sumpf. Denn nichts Anderes bedeutet Berlin in seinem slawischen und altpolabischen Ursprung – schlammiger Sumpf und Morast.
Wir müssen uns also diese Busfahrt vorstellen wie die Busfahrt in dem Film Der Weg, der zum Himmel führt von Luis Buñuel, nur rückwärts betrachtet, als würden wir uns den Film rückwärts anschauen. Der Weg führt nach unten und zurück in der Zeit.“

Und interessanterweise, das kann kein Zufall sein, fühlt sich der Reisende schuldig – „so schuldig wie der Knabe in Buñuels Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz eines Verbrechens für schuldig befunden wird. Des Verbrechens, kraft böser Gedanken seinen Mitbürgern Tod und Unglück zu bescheren.“

village of the damned - wolf rilla
Village of the Damned (1960 Wolf Rilla)

Kinder testen Schule. Meine Lieblingsstelle in diesem Kurzfilmportrait des Fundus Theaters ist bei Minute 5:30, wenn während der psychogeografischen Erkundung des Schulgebäudes ein Junge sagt: „Ich bin hier auch schon einmal vorbeigegangen und hab mich gewundert; ich hatte plötzlich ein ganz schlechtes Gewissen.“ Mit Erstaunen wird nachgefragt: „Ein schlechtes Gewissen? Hier an dem Ort, wo man die Schuhe vor der Klasse auszieht, kriegt man ein schlechtes Gewissen?“ – „Hab ich jetzt auch!“

Les Misérables - 1934 - Raymond Bernard
Les Misérables (1934 Raymond Bernard)

Ein Verzweifelter (Harry Baur) studiert eine Karte. Sie sagt ihm, dass er wählen muss: Seiner inneren Stimme folgend vor ein Gericht treten oder einer Sterbenskranken das lang vermisste Kind herbeischaffen. Beides eilt. Beides ist unvereinbar. Die Geografie lässt es nicht zu.

1950 - Mister 880 - Edmund Goulding
Mister 880 (1950 Edmund Goulding)

Der alte, bescheidene Geldfälscher, der immer nur Ein-Dollar-Noten druckt, verbirgt in seinem Kleiderschrank einen gewissenhaft markierten Stadtplan. Der junge, ehrgeizige Fahnder studiert an großen Wandkarten, nach welchem Prinzip seit vielen Jahren die Blüten in New York gestreut werden.

Mister 880 - 1950 - Edmund Goulding
Burt Lancaster in Mister 880 (1950 Edmund Goulding)

Eine eigenartige Spannung liegt über diesem Film. Die Mühe, Sorgfalt, Leidenschaft, mit der dem amateurhaften Straftäter nachgeforscht wird, der Arbeitsaufwand kann uns nur unangemessen vorkommen. Aus dieser falschen Proportion baut sich der Film ein überzeugendes dramatisches Dilemma.

Armistice Day Blizzard of 1940
Armistice Day Blizzard of 1940

In Gerhard Lamprechts Emil und die Detektive (1931) hängen an den Wänden des Polizeireviers, so groß wie Stadtpläne, die Plakate von Fingerabdrücken.

High Sierra (1941 Raoul Walsh)
High Sierra (1941 Raoul Walsh) via

Ungezählt: Die Karten auf denen die Polizei eine Menschenjagd plant. Aber noch nie war eine Straßensperre erfolgreich. Nicht im Kino.

Ende des ersten Teils

Im zweiten Teil geht es dann um Karten, Pläne, Väter und Söhne.

Dienstag, 13.08.2013

Mr. Hitchcock, was haben Sie da gemacht?

Family Plot

Topaz

Torn Curtain

Marnie

The Birds

Pycho

North by Northwest

Vertigo

The Wrong Man

Rear Window

Dial M for Murder

I Confess

Strangers on a Train

Strangers on a Train b

The Paradine Case a

The Paradine Case b

Notorious

Spellbound

Lifeboat

Shadow of a Doubt

Foreign Correspondent

Rebecca

Sabotage

The 39 Steps

The Man Who Knew Too Much

Blackmail

The Manxman

The Ring

via

Donnerstag, 08.08.2013

Nichts

In seiner scheinbar häufigsten Erscheinungsform, als illusionszerstörende Ironie, interessiert mich der Blick in die Kamera nicht. Denn im Schatten dieses Scherzes, der alt ist, bleibt ein Rätsel ewig jung: Wie kann ein Regelbruch so häufig unbemerkt geschehen? Vielfach verleugnet, vielfältig wirksam, auf dem unerforschten Meeresboden des Kinos.

1927 - The Ring - Alfred Hitchcock
The Ring (1927 Alfred Hitchcock)

We Faw Down 1928 Leo McCarey
We Faw Down (1928 Leo McCarey)

1935 - The Murder Man - Tim Whelan
The Murder Man (1935 Tim Whelan)
Virginia Bruce: „Go away someplace where you can do something worthwhile.“
Spencer Tracy: „What is worthwhile?“

The Masseurs and a Woman - Hiroshi Shimizu
Anma to onna / The Masseurs and a Woman (1938 Hiroshi Shimizu)

1940 John Carradine - Brigham Young - Hathaway
Brigham Young (1940 Henry Hathaway)
John Carradine: „Halleluja!“

1948 - behind locked doors - Boetticher
Behind Locked Doors (1948 Budd Boetticher)

Valerie Hobson in Blanche Fury 1948 Marc Allegret
Blanche Fury (1948 Marc Allegret)
Valerie Hobson: „I don’t know myself as well as I did.“

1948 - Moonrise - Frank Borzage
Moonrise (1948 Frank Borzage)

1949 - Prince of Foxes - Henry King
Prince of Foxes (1949 Henry King)

1956 - Joan Crawford - Autumn Leaves - Aldrich
Autumn Leaves (1956 Robert Aldrich)

1957 - Dangerous Exile - Hurst
Dangerous Exile (1957 Brian Desmond Hurst)

1958 - Kim Novak - Bell Book and Candle - Richard Quine
Bell Book and Candle (1958 Richard Quine)

1960 - The Criminal - Joseph Losey
The Criminal 1960 (Joseph Losey)

Bonanza Rain from Heaven (1963 Lewis Allen)
Bonanza: Rain from Heaven (1963 Lewis Allen)

Life at the Top - 1965 - Ted Kotcheff
Life at the Top (1965 Ted Kotcheff)

Donald Pleasence - Wake in Fright - 1971 Ted Kotcheff -
Wake in Fright (1971 Ted Kotcheff)

litan mocky
Litan (1982 Jean-Pierre Mocky)

Olivia Thirlby - 2012 - Dredd - Pete Travis
Dredd (2012 Pete Travis)
Olivia Thirlby: „Welcome to the inside of your head. It’s kind of empty in here.“

Der Blick in die Kamera ist zwar auf uns gerichtet, aber nicht an uns. Wir fühlen, dass dieser Blick im Moment äußerster Verwirrung oder tiefster Erkenntnis, abseits der Welt, bei uns weder Hilfe noch Verständnis sucht, sondern ins Nichts geht. Nirgendwo sonst wäre das Nichts besser anzutreffen als bei uns Zuschauern.

Samstag, 11.05.2013

Umschlag Geschichte (Forts.)

Die „Aktion saubere Leinwand“ forderte angesichts der sogenannten sexuellen Revolution Mitte der 60er Jahre ein Eingreifen des Staates in die Filmproduktion. Zur gleichen Zeit ließen sich „filmkundige Politiker“ von Alexander Kluge überzeugen, es sei möglich, die vielbeschworene, verlorengegangene Qualität der nationalen Filmproduktion durch staatliche Förderung neu herzustellen. Die damit einhergehende Unterwerfung unter staatliche Kontrolle war von rechts nicht so recht durchzusetzen. Von links mit links.

Als illustriertes Magazin hatte „film“ auf seinen großformatigen Covers Platz für Kampf und Selbstbeherrschung. Im Februar 1967 hieß es im „Notizbuch der Redaktion“: „Eines bewirken unsere Nackedei-Titel nicht: Auflagensteigerung. Die formal überlegt arrangierte Nacktheit – wir haben darauf schon einmal hingewiesen – wird vom Publikum offenbar spontan richtig eingestuft. Verwechslungen mit Erotik-Magazinen finden nicht statt. Nur katholische Buchhändler fürchten die Verwechslung.“
Angesichts der formal überlegt arrangierten Nacktheit in Rolf Thieles Venusberg (1963) war es vorgestern im Kölner Filmhauskino ein Leichtes dahinter zu kommen, warum die Propheten des Neuen deutschen Films keinen anderen Vertreter des „alten“ und „toten“ so sehr verachteten wie Thiele. Man fürchtete die Verwechslung. Das alte und neue deutsche Kino sahen sich nämlich verteufelt ähnlich. (Ein Bildband, der sich den Badewannen und Hallenbädern in den Filmen der Neuen Wellen widmete, wäre unvollständig ohne die ans Schwimmbadfenster in Raureif gezeichneten Art-Brut-Figuren, durch die hindurch die nackten Künstlerinnen zu ahnen sind, in Thieles Venusberg. Fünf Jahre vor Wilps Afri Cola.)

Oberhausen 2010, der Auswahl wegen für Sie Ihn und Paare
Oberhausen, 2010

Wer den Zustand des Kinos beklagt, offenbart lediglich, dass er die richtigen Filme noch nicht kennt. Das wurde vorgestern im Filmhauskino bewiesen mit Nordstadt (2004 Michael Kupczyk). Ich wusste nicht, dass es ihn gibt – den deutschen B-Film, in dem jede Szene ihren Reiz hat, und der etwas schon oft Erzähltes ganz zu recht noch einmal von neuem erzählt, mit glaubwürdiger Härte und überraschender Action, mit einer langen Verfolgungsjagd zu Fuß, und mit einem ganzen Dutzend ausgezeichneter Darsteller, deren Sprechen nicht Drehbuchsätze, sondern Persönlichkeit spüren lässt. Rührend, wie im amerikanischen und französischen Genrefilm der 50er Jahre, wie alle Haupt- und Nebenfiguren das Geschehen demokratisch, also konfliktreich und unvorhersehbar mitbestimmen. Der größte Reichtum des Kinos, glücklich eingefangen in Dortmund vor zehn Jahren. Ich wusste davon nichts.

Ich weiß allerdings: Vom Fernsehen kann unmöglich verlangt werden, mit Filmankäufen die Beweise heranzuschaffen, dass das Beste außerhalb des eigenen Einflussbereiches entsteht. In der Sekunde, in der durch einen Ankauf zu einem anständigen Preis alle rückgestellten Löhne eines unabhängig produzierten Films ausbezahlt werden könnten, wäre das vor fast fünfzig Jahren Erreichte schlagartig zunichte gemacht.

Mittwoch, 08.05.2013

Umschlag Geschichte

Time 1960 - Midi Minuit Fantastique 1962

„Und der Deutsche ist, wie die Erfahrung zeigt, für Filme solcher Art anfällig. Wenn er sie nicht aus dem Ausland beziehen kann, macht er sie sich selbst. Das war schon nach dem ersten Weltkrieg so. Es wurde dann besser. Jetzt scheint die Entwicklung wieder anders zu gehen. Da sich in Deutschland gute Filme offenbar nicht mehr auszahlen, setzt man wieder auf ‚Sex‘.“ (D. Otto Dibelius, Evangelischer Bischof von Berlin, in „Die Kirche“) – Zitat aus „Film“ 6/1965

film 1965-1 und 3

„In einer Heidelberger Diskussion, an der sich Universitätsprofessoren beteiligten, (…) fanden sich denn auch bald genug Stimmen, die ganz unverblümt nach einer staatlichen Zensur für alles, was sich Film nennt, riefen. (…) Kurz vor der Wahl ist es eindrucksvoll einen Kreuzzug gegen die Unmoral zu führen. Nur, man findet da so recht keine Gegner. Denn wer möchte sich selbst in der Öffentlichkeit geringen Moralbewusstseins zeihen? Die SPD steigt da nicht auf die Barrikaden, und die FDP biegt sich ihre Liberalität so zurecht, daß sie die Intoleranz ohne Federlesens toleriert.“ (Reimar Hollmann in „Film“ 6/1965)

„Wir sehen uns alle Filme mit Werner Krauss, Heinrich George, Ferdinand Marian, Christine Söderbaum usw. noch einmal an. Sie sind uns lieber als alles, was uns jetzt vorgesetzt wird.“ (Elise S., Leserbrief an das Hamburger Abendecho, 28.10.1965) – „Ob uns die Tendenz nicht passt, das ist eine andere Frage. Besonders gegenüber der Flut der entsetzlich faden Sex- und Gesellschaftsfilme hat der KOLBERG-Film wirklich eine spannende Handlung.“ (Friedrich-Karl Z., Leserbrief an das Hamburger Abendecho, 28.10.1965) – Beide Zitate aus „Film“ 12/1965

film 1965-8 und 66-11

Notizen der Redaktion (in „Film“ 9/1966): „Alexander von Cube, Kölner Mitarbeiter dieser Zeitschrift, früher Redakteur des ‚Vorwärts‘, heute beim WDR – Cube hat in seiner Besprechung von Truffauts und Richards Mata-Hari-Kolportage ‚Agentin H 21‘ eine kleine Anmerkung über Kino-Nuditäten eingebaut.“ – „Nudität, die spätestens seit Agnès Vardas ‚Le bonheur‘ das Betrachten der Filmzeitschriften so prickelnd und den Konsum der dazugehörigen Zelluloidprodukte so rätselhaft unerotisch macht“. Neben der Enttäuschung, dass die Truffaut-Produktion die Motive für Mata Haris Spionagetätigkeit im Dunkeln lässt, findet Cube etwas anderes bemerkenswert: „wo selbst Opas Kino sich eine kleine Fleischbeschau kaum verkniffen hätte, geht die Avantgarde sittsam hochgeschlossen.“

Die Notizen der „Film“-Redaktion widmen sich eingehend einem „pikanten Zufall“: die Titelbilder der Augusthefte von „Film“ und „Filmkritik“ ! „beide zeigten – jeweils nur in einem anderen Motiv – die zentrale Liebesszene in Formans Film. Das Geschäft freilich hat sich deswegen nicht gehoben: die schmalen Kinder-Körper Formans vermögen gegen Brigitte Sachs (‚Quick‘) und die aus dem Grab geholte Monroe (‚Stern‘) und die Liebe zwischen Frau und Frau (‚Twen‘) und die studentischen Sexparties (‚konkret‘) wenig auszurichten.“

film 1966-12 1967-3

„Die Mischung aus Draufgängertum und Zurückhaltung, mit der wir alle gemeinsam in der Bundesrepublik Kulturpolitik des Films in den letzten Jahren geprobt haben, erinnert mich an die Atmosphäre um Friedrich Wilhelm III. von Preußen vor der Schlacht von Jena und Auerstädt. Die Schlacht ging bekanntlich verloren.
Man muss an dieser Stelle dazu sagen, daß es für ein Ministerium des Innern, dessen Struktur der Inneren Verwaltung entspricht, wie sie das 19. Jh. geprägt hat, nicht einfach ist neue Wege zu gehen. Ministerialrat Fuchs und der Leiter der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums, Ministerialdirektor Hagelberg, versuchen zwischen alten und neuen Kräften im Film und zwischen Film und Politik gangbare Straßen zu finden. (…) Es wäre einfacher für fertige Filme, die ‚bemerkenswert‘ erscheinen, Prämien auszuschütten (Gießkannenprinzip). Trotzdem haben sie mit der Drehbuchprämie und dem Kuratorium sich für qualitative Entscheidungen eingesetzt, die auch tatsächlich eine starke Auswirkung auf die Qualitätsverbesserung des Films haben. (…) Es besteht die Gefahr, daß sich ein Phänomen aus der Verhaltensforschung hier auch bei der Verwaltung bewahrheitet: ‚Zwischen Angriffslust und Furcht fällt der Soldat in Schlaf‘.
Hier müssen die filmkundigen Politiker helfen. Dr. Martin und Dr. Lohmar, der frühere und der jetzige Vorsitzende des kulturpolitischen Bundestagsausschusses, haben 1962 gesagt: ‚Wir müssen in kleinen kulturpolitischen Schritten erreichen, daß wir auch in der Bundesrepublik in 10 Jahren eine Filmkultur besitzen, wie Deutschland sie früher einmal hatte.‘ Dieses Programm hat durch die große Koalition (auch dadurch, daß im Bundeskabinett jetzt mehr Leute sitzen, die Kunst nicht für einen unnötigen Luxus halten) eine tatsächliche Chance.“
(Alexander Kluge, „Film“ 3/1967)

film 1967 6 7

„In zwei Jahren, wage ich zu prophezeien, werden sich alle die jungen Filmer und Barrikadenstürmer von heute zurücksehnen nach der Zeit, in der sie es nur mit der Altmänner-Riege der FSK in Wiesbaden zu tun hatten. (…) Aber nun schreien die alten wie die jungen Filmproduzenten nach staatlichem Geld – oder staatlich geregeltem Geld -, und wundern sich, daß Bundesregierung, Abgeordnete, Kirchen und Rundfunkanstalten dafür Mitspracherecht haben wollen. Diese Träumer aus Schwabing. (…) Sie werden sich wundern, wie schnell jeder x-beliebige deutsche Filmverleih, die Bertelsmann-Mutter an der Spitze, nur noch Filme in den Vertrieb nimmt, die geeignet sind, das Wohlwollen der Anstalt ohne Schwierigkeiten zu erlangen.“
(Will Tremper: Blick nach vorn in Zorn, „Film“ 6/1967)

esquire 1966 SGE 2013

Das Filmhauskino in Köln zeigt ab morgen Filme von Thiele (Venusberg) Roland (4 Schlüssel) Olsen (Blutiger Freitag) und Neueres von den Gästen: Buttgereit, Gosejohann und Kupczyk. Freitagnacht läuft Riccardo Fredas Gesicht im Dunkeln.

Gerade frisch erschienen: SigiGötz-Entertainment – Der zweiundzwanzigste Wurf


atasehir escort atasehir escort kadikoy escort kartal escort bostanci escort