Der Film Vallée close handelt, wie der Titel sagt, von einem Tal. Dieses Tal enthält: einen Steinweg, Bäume, Büsche, den Fluss Sorgue, Autos, Vögel, eine Kirche, Hähne, Felswände, Häuser, Straßen, Kinder, Mopedfahrer, Passanten, Touristen vor der Quelle der Sorgue, einen verfallenen Innenhof, ein Feuerwerk, ein Hotelzimmer mit aufdringlicher Tapete, das Wasserrad der alten Papiermühle, Tische, Sonnenschirme, eine leere Weinflasche, eine Karaffe, die beide von einer Kellnerin weggeräumt werden, einen Kinderwagen, mehrere Karussells, eine Aquäduktbrücke, ein Schild, das an Petrarca erinnert, eine Telefonzelle und einiges andere, in Wahrheit unendlich viel anderes.
Es gibt folgende Methoden, diese Inhalte zu ordnen: alphabetisch, farblich, historisch, metrisch, numerisch, persönlich, und noch einige andere, in Wahrheit unendlich viele andere.
Rousseau, der Filmemacher, verwirft alle genannten Methoden und entschließt sich zu einer völlig neuen, unerhörten. Möglicherweise angeregt vom Namen des Tals, Vaucluse, vom lateinischen „vallis clausa“, geschlossenes Tal, behandelt er das pralle Ensemble nicht als offenes System, sondern als abgezirkelte Einheit. Und damit ihm diese überquellende Einheit nicht zwischen den Fingern zerrinnt, legt er auf sie die schlichte Schablone der Texte eines alten Erdkundebuchs; er tut das nicht von ungefähr, seine Mutter war Lehrerin.
In dem Erdkundebuch wird behauptet, morgens gehe die Sonne auf, abends gehe sie unter, tagsüber seien die Eltern bei der Arbeit, die Kinder in der Schule, die Erde drehe sich um die Sonne und dergleichen mehr. Wer den Film schaut, ist geneigt, all das nicht mehr zu glauben, denn obwohl der Film strikt in diesem Tal bleibt, lässt er doch unter der Schablone des Textes zuviel durchblicken, das in sie nicht passen will, die Sonne geht ständig auf, aber selbst in der Nacht ist es mitunter taghell, niemand arbeitet, es sei denn eine Bäuerin, die wäscht, und der Filmemacher selbst, die Kinder sitzen nicht in der Schule, auch wenn wir uns minutenlang in deren Ruine zu befinden wähnen, und welchen Platz in dieser Geografie haben Mopeds, Karaffe, Feuerwerk und Petrarca samt Laura?
Viel glaubhafter wirkt ein anderer, gegenläufiger Text, der ebenfalls eingesprochen wird, De rerum natura von Lukrez, jedoch in Bergsons Übersetzung für den Schulgebrauch: „Ewig ist die Bewegung der Atome. Vermöge ihres eigenen Gewichts oder vermöge des Zusammenstoßes mit anderen Atomen fliegen sie durchs Leere, irren sie umher, bis dass der Zufall sie einander annähert.“ Das erinnert an Althussers materialistisch-nihilistische Spätphilosophie und hat eine tatsächlich entropische, systemsprengende, aber auch eine kreative, kosmogonische Kraft. Und vielleicht lässt sich dieser Film am einfachsten so zusammenfassen: Was Ordnung sein will, wird Chaos. Was Chaos war, fügt sich auf unvorhergesehene Weise. Es geht alles sehr energetisch zu.
Für diese Auslegung spricht, dass Rousseau, befragt von Frank Beauvais, weshalb er alle Kapitel des Erdkundebuches mit Bildern versehe, nur das eine über den Sturm nicht, antwortet, der Sturm, das sei der Film selbst. (Er zitiert an einer Stelle des Films Giorgiones Gewitter, 1508.)
Vielleicht nicht stürmisch, aber doch beharrlich rennen Kräfte gegeneinander an, manches will in das Tal, manches will aus dem Tal hinaus, manches will in das Erdkundebuch, manches aus dem Erdkundebuch heraus. Und mag der Film auch eine „étude sur le terrain“ sein, also die Feldforschung, die Jean Brunhes, der Verfasser des Schulbuchs, nach dem Unterricht empfiehlt, dann doch bestimmt keine „leçon-promenade“, kein Spaziergang, auch wenn manches beschaulich, ja betörend schön wirkt.
Einen Teil dieser Schönheit macht das Material aus, Super-8, das Farben und Unschärfen erzeugt, die uns in unserer krispen und krossen Wirklichkeit verloren gegangen sind. Es wird manchmal fast zu viel! Wir sind daran gar nicht mehr gewöhnt! Es ist einfach unglaublich prächtig! (Ich weiß, ich sollte auf Huillet und Straub verweisen, denen im Abspann gedankt wird, aber mir drängt sich die Erinnerung an die Notes on the Circus (1966) von Jonas Mekas viel stärker auf.)
Rousseau nimmt das Tal, seine Dinge und Menschen, auf, setzt sie zusammen, wiederum auf verblüffend einfache Weise: Er montiert sämtliche von ihm belichteten Super-8-Streifen nebeneinander, samt Vorspannband und Weißfilm, die das Kodak-Kopierwerk angefügt hat, ohne Schnitte, außer den mit der Kamera bereits gemachten. Er bestimmt lediglich Abfolge und Kapitel. So ergeben sich Realitätspräparate, die mal miteinander, mal gegeneinander und durchweg mit dem Ton – Erdkundestunde, Lukrez, Telefonate des Filmemachers, Aussprüche von Passanten, Schritte, Tiere, Musikschnipsel, Stille – reagieren, wie umherirrende Atome mit ihresgleichen, sich abstoßen, sich anziehen, zusammenprallen, verwirbeln, auseinanderstieben, verwehen, wie im Wind, wie im Gewitter, wie im Sturm, auch wenn es der langsamste Sturm aller Zeiten ist.
La vallée close (F 1995, 143′) von Jean-Claude Rousseau ist (im Rahmen von „Sagen Sie’s den Steinen“) zu sehen an Allerseelen, Donnerstag, 2. November, Zeughauskino Berlin, 20 Uhr, in Anwesenheit des Filmemachers. Einführung: Volko Kamensky.