Einträge von Stefan Ripplinger

Sonntag, 12.05.2024

Emigholz über Arslan

Gedanken zu Thomas Arslans Film Verbrannte Erde von Heinz Emigholz

I will not go to hell in some dusty motel.
Mick Jagger

Der Verbrecher auf der Erbse

Die Prinzessin ist ein prekäres Wesen. Solange ihre Familie noch an der Macht ist. In einer Welt, die sich zwar von selbst dreht, aber dennoch unbedingt revolutioniert werden will, ist sie stets auf der Flucht. Sie stopft sich das Korsett mit Diamanten voll. Das wird die Kugeln nur bedingt abhalten, verlängert aber ihren Todeskampf. Dann wird sie unter einer Straßenkreuzung begraben, damit man ihr Grab nicht finden kann.

Verbrecher fangen gewöhnlich klein an und arbeiten sich manchmal an die Spitze eines Staates hoch. Als Schurke versucht er diesen zu seinen Gunsten umzuformen. Wird man in eine Klasse hineingeboren, die mit Geld umzugehen versteht, beansprucht diese Karriere nicht unbedingt viel Lebenszeit. Der Umgang mit wie auch immer beschafften Summen wird einem sozusagen in die Wiege gelegt. Solange er oder seine Familie aber nicht die Macht im Staat übernommen haben, steht er in einem ähnlich prekären Verhältnis zur Gesellschaft wie die Prinzessin – als Frosch mit der Maske. Das Gefängnis droht, wenn nicht die Todesstrafe.

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Sonntag, 28.04.2024

Dokfilmwoche Hamburg

Die andern fahren nach Cannes, Duisburg, Locarno oder Oberdingsbums. Ich besuche nicht mal die Berlinale. Aber dafür bin ich seit vier Jahren bei der Dokfilmwoche Hamburg und habe dort noch nie einen richtig schlechten Film gesehen (ich gebe zu, das ist beunruhigend). Hier, wie es heuer gelaufen ist.

Sonntag, 03.01.2021

Hurwitz

In der aktuellen konkret habe ich einen Artikel zum dreißigsten Todestag (am 18.) von Leo T. Hurwitz. Zu spät (nämlich vor einer Viertelstunde) habe ich gesehen, dass es dessen Filme neuerdings alle online gibt, auf dieser wunderbaren Seite. Nun sind die Winterferien ja schon fast vorbei, aber Zeit für Hurwitz sollte immer sein. Noch ein gutes neues Jahr in die Runde, friends and foes alike.

Donnerstag, 30.08.2018

Schwarze Liste

Hollywood Blacklist, die Reihe, die diesen Samstag im Arsenal Premiere feiert, hat mich von drei Vorurteilen befreit: 1. dass es in Hollywood gar keine Kommunisten gegeben habe, 2. dass die Verfolgten außer der Tatsache ihrer Verfolgung nicht viel miteinander verbinde, 3. dass Joseph Loseys M schlechter als das Fritz-Langsche sein müsse. Im Neuen Deutschland (31.8.) unterhalte ich mich mit dem Kurator Hannes Brühwiler.

Sonntag, 04.02.2018

Ida Lupino …

… zum Hundertsten! Es gratulieren das BFI, das National Public Radio und ich.

Donnerstag, 26.10.2017

Vallis clausa

Der Film Vallée close handelt, wie der Titel sagt, von einem Tal. Dieses Tal enthält: einen Steinweg, Bäume, Büsche, den Fluss Sorgue, Autos, Vögel, eine Kirche, Hähne, Felswände, Häuser, Straßen, Kinder, Mopedfahrer, Passanten, Touristen vor der Quelle der Sorgue, einen verfallenen Innenhof, ein Feuerwerk, ein Hotelzimmer mit aufdringlicher Tapete, das Wasserrad der alten Papiermühle, Tische, Sonnenschirme, eine leere Weinflasche, eine Karaffe, die beide von einer Kellnerin weggeräumt werden, einen Kinderwagen, mehrere Karussells, eine Aquäduktbrücke, ein Schild, das an Petrarca erinnert, eine Telefonzelle und einiges andere, in Wahrheit unendlich viel anderes.
Es gibt folgende Methoden, diese Inhalte zu ordnen: alphabetisch, farblich, historisch, metrisch, numerisch, persönlich, und noch einige andere, in Wahrheit unendlich viele andere.
Rousseau, der Filmemacher, verwirft alle genannten Methoden und entschließt sich zu einer völlig neuen, unerhörten. Möglicherweise angeregt vom Namen des Tals, Vaucluse, vom lateinischen „vallis clausa“, geschlossenes Tal, behandelt er das pralle Ensemble nicht als offenes System, sondern als abgezirkelte Einheit. Und damit ihm diese überquellende Einheit nicht zwischen den Fingern zerrinnt, legt er auf sie die schlichte Schablone der Texte eines alten Erdkundebuchs; er tut das nicht von ungefähr, seine Mutter war Lehrerin.
In dem Erdkundebuch wird behauptet, morgens gehe die Sonne auf, abends gehe sie unter, tagsüber seien die Eltern bei der Arbeit, die Kinder in der Schule, die Erde drehe sich um die Sonne und dergleichen mehr. Wer den Film schaut, ist geneigt, all das nicht mehr zu glauben, denn obwohl der Film strikt in diesem Tal bleibt, lässt er doch unter der Schablone des Textes zuviel durchblicken, das in sie nicht passen will, die Sonne geht ständig auf, aber selbst in der Nacht ist es mitunter taghell, niemand arbeitet, es sei denn eine Bäuerin, die wäscht, und der Filmemacher selbst, die Kinder sitzen nicht in der Schule, auch wenn wir uns minutenlang in deren Ruine zu befinden wähnen, und welchen Platz in dieser Geografie haben Mopeds, Karaffe, Feuerwerk und Petrarca samt Laura?
Viel glaubhafter wirkt ein anderer, gegenläufiger Text, der ebenfalls eingesprochen wird, De rerum natura von Lukrez, jedoch in Bergsons Übersetzung für den Schulgebrauch: „Ewig ist die Bewegung der Atome. Vermöge ihres eigenen Gewichts oder vermöge des Zusammenstoßes mit anderen Atomen fliegen sie durchs Leere, irren sie umher, bis dass der Zufall sie einander annähert.“ Das erinnert an Althussers materialistisch-nihilistische Spätphilosophie und hat eine tatsächlich entropische, systemsprengende, aber auch eine kreative, kosmogonische Kraft. Und vielleicht lässt sich dieser Film am einfachsten so zusammenfassen: Was Ordnung sein will, wird Chaos. Was Chaos war, fügt sich auf unvorhergesehene Weise. Es geht alles sehr energetisch zu.
Für diese Auslegung spricht, dass Rousseau, befragt von Frank Beauvais, weshalb er alle Kapitel des Erdkundebuches mit Bildern versehe, nur das eine über den Sturm nicht, antwortet, der Sturm, das sei der Film selbst. (Er zitiert an einer Stelle des Films Giorgiones Gewitter, 1508.)
Vielleicht nicht stürmisch, aber doch beharrlich rennen Kräfte gegeneinander an, manches will in das Tal, manches will aus dem Tal hinaus, manches will in das Erdkundebuch, manches aus dem Erdkundebuch heraus. Und mag der Film auch eine „étude sur le terrain“ sein, also die Feldforschung, die Jean Brunhes, der Verfasser des Schulbuchs, nach dem Unterricht empfiehlt, dann doch bestimmt keine „leçon-promenade“, kein Spaziergang, auch wenn manches beschaulich, ja betörend schön wirkt.
Einen Teil dieser Schönheit macht das Material aus, Super-8, das Farben und Unschärfen erzeugt, die uns in unserer krispen und krossen Wirklichkeit verloren gegangen sind. Es wird manchmal fast zu viel! Wir sind daran gar nicht mehr gewöhnt! Es ist einfach unglaublich prächtig! (Ich weiß, ich sollte auf Huillet und Straub verweisen, denen im Abspann gedankt wird, aber mir drängt sich die Erinnerung an die Notes on the Circus (1966) von Jonas Mekas viel stärker auf.)
Rousseau nimmt das Tal, seine Dinge und Menschen, auf, setzt sie zusammen, wiederum auf verblüffend einfache Weise: Er montiert sämtliche von ihm belichteten Super-8-Streifen nebeneinander, samt Vorspannband und Weißfilm, die das Kodak-Kopierwerk angefügt hat, ohne Schnitte, außer den mit der Kamera bereits gemachten. Er bestimmt lediglich Abfolge und Kapitel. So ergeben sich Realitätspräparate, die mal miteinander, mal gegeneinander und durchweg mit dem Ton – Erdkundestunde, Lukrez, Telefonate des Filmemachers, Aussprüche von Passanten, Schritte, Tiere, Musikschnipsel, Stille – reagieren, wie umherirrende Atome mit ihresgleichen, sich abstoßen, sich anziehen, zusammenprallen, verwirbeln, auseinanderstieben, verwehen, wie im Wind, wie im Gewitter, wie im Sturm, auch wenn es der langsamste Sturm aller Zeiten ist.
La vallée close (F 1995, 143′) von Jean-Claude Rousseau ist (im Rahmen von „Sagen Sie’s den Steinen“) zu sehen an Allerseelen, Donnerstag, 2. November, Zeughauskino Berlin, 20 Uhr, in Anwesenheit des Filmemachers. Einführung: Volko Kamensky.

Donnerstag, 23.06.2016

Zur Ordnung

Das wohlbekannte Problem, dass der Kapitalismus allerhand produziert, aber keinen Sinn, lässt sich innerhalb des Kapitalismus nicht lösen. Weil die Kunst von einer Lösung dispensiert ist, hat sie sich des Problems in einigen ihrer besten Werke annehmen können, von Sartres La Nausée über Becketts Theater bis zu dem Spielfilm Ordnung (1980) von Sohrab Shahid Saless. Saless unterscheidet sich von den Existenzialisten und Nihilisten dadurch, dass er das Problem verortet. Sein Ort ist die Bundesrepublik. Schon in Reifezeit (1976), einem Antwortfilm auf Jeanne Dielman aus der Perspektive des Kindes, hat er dieses Land genauer und finsterer porträtiert, als es die sentimentalen Herzog, Kluge, Wenders hätten tun können. Das nimmt der Finsternis ihre Absolutheit. Denn die Gesellschaft der Siebziger erscheint von heute aus gesehen idyllisch. Damals war bloß der Spießer der Feind, heute ist es auch der dezidierte Anti-Spießer, namentlich der inzwischen zum Rassismus gravitierende, ansonsten liberale, hässliche Medienmensch. Innerhalb des gegebenen historischen Rahmens konnte das Problem aber nicht eleganter bearbeitet werden als in dem nicht genug zu preisenden flauen, faden Schwarz-Weiß von Ordnung. Darin schreit ein Ingenieur, der nicht mehr bauen will, erst „Aufstehen!“, dann „Auschwitz!“ Heinz Lievens Gesicht ist das Emblem des Ekels.
Die Deutschen ehrten den Exiliraner Saless, der einen der besten Filme über ihr Land gedreht hat, damit, dass sie „Die Aufenthaltserlaubnis ersetzt nicht die Arbeitserlaubnis“ in seinen Pass stempelten.
Sohrab Shahid Saless, Ordnung, Berlin, Zeughauskino, 25.6., 20 Uhr

Donnerstag, 12.11.2015

Pickfords Werke

Mary-Pickford-Fans aus dem Raum Saarlorlux, die die Retrospektiven 1965 in Paris und 2015 in San Francisco verpasst haben, können sich am 20./21.11. in der Kinowerkstatt St. Ingbert einige ihrer schönsten Werke anschauen. Ich führe jeweils kurz in die Filme ein.

Freitag, 09.10.2015

Akerman

„Es ist zu spüren, ob es in Büchern oder Filmen Wahrheit gibt. Selbst wenn die Wahrheit undeutlich bleibt, vor allem, wenn sie undeutlich bleibt. Wenn sie undeutlich bleibt und es zu spüren ist, dass es Wahrheit gibt, geht unterirdisch und langsam, manchmal sehr langsam etwas vor sich, und gerade wenn du nicht groß darüber nachdenkst, erscheint plötzlich diese Wahrheit und das ist ein außerordentlicher Augenblick und er stellt sich nicht alle Tage ein und er ist gut, er ist so gut, dass du dich mit einem Mal leicht und ruhig fühlst.“
Chantal Akerman (19502015), Ma mère rit, Paris 2013, S. 37.

Donnerstag, 24.09.2015

Fontainhas

Pedro Costas Zyklus über den Lissaboner Slum Fontainhas ist in seiner Bedeutung nur mit Satyajit Rays Apu-Trilogie zu vergleichen. Es sind Filme, die Härte, Schönheit und Intelligenz auf höchst überraschende Weise miteinander verbinden.
Man hat Filme gesehen, die sich dem Elend intim nähern. Man hat Filme gesehen, die das Elend stilisieren. Aber Filme wie diese, die äußerste Faktizität mit höchster Stilisierung verschmelzen, sind neu. Das liegt wesentlich an der ungeheuer aufwändigen Methode, mit der Costa seit No quarto da Vanda (2000) arbeitet (und dank der neuen Digitaltechnik arbeiten kann): Die Protagonisten, allesamt Bewohner des Slums, liefern ihm Geschichten und Sätze zu und in einem Monate währenden Prozess wählt Costa den Raum, die Komposition, das Licht, die Farbe, die Montage, in denen diese Geschichten und Sätze zu leben beginnen. Das hat ihn in seinem neuesten Film Cavalo Dinheiro (2014) von Fontainhas weg, in ein traumartiges Labyrinth geführt. Es lässt sich über Costa sagen, was André Suarès über Dostojewski gesagt hat: Er ist der „Mann, der von der Realität her den Traum nicht schädigt, und nicht vom Traume her die Wirklichkeit“ (Übers. Franz Blei).
Der Zyklus stellt damit alles in Frage, was politischer Film einst sein sollte: Diese Filme sprechen nicht von Ursachen, sie sprechen nicht von Auswegen. Aber sie lassen die Armen sprechen, sie geben ihnen Würde, sie geben dem Elend einen Raum (darüber schreibe ich ausführlich in der Novemberausgabe von konkret).
Wer in Berlin wohnt, hat ausnahmsweise einmal Glück gehabt und kann vom heutigen Donnerstag bis Sonntag sämtliche Fontainhas-Filme im Arsenal anschauen. Der Regisseur ist anwesend.


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