Einträge von Stefan Ripplinger

Sonntag, 16.02.2014

Hinterwäldler

King Vidors Beyond the Forest (1949) kommt mir wie eine Fortsetzung von John Fords Doctor Bull (1933) vor. Hier wie da ein Kaff, das in einer trostlos gewordenen Vergangenheit verharrt, hier wie da untröstliche Frauen, die wegwollen, aber nicht wegkönnen, hier wie da der Zug, der in die Zukunft fährt („Chicago, Chicago, Chicago!“), aber den keine von ihnen besteigen darf, hier wie da ein Armenarzt, der die Stellung hält (bei Ford gespielt von Will Rogers, bei Vidor von Joseph Cotten).

Ein Unterschied besteht darin, dass es bei Ford schließlich einige doch noch in den Zug schaffen und bei Vidor am Schluss eine Leiche auf dem Bahnsteig liegt. Der zweite wesentliche Unterschied, der sich aus dem ersten unmittelbar ergibt, ist, dass an die Stelle von Fords meisterlich ausgeglichenem Stil ein grandios-manieristischer tritt, der an die Filme Sirks, inbesondere Written on the Wind, erinnert. Bette Davis verleiht ihrer Rolle bei Vidor eine ebenso triebhafte, selbstzerstörerische Kraft wie Dorothy Malone der ihren bei Sirk.

Der deutsche Verleihtitel Der Stachel des Bösen kann sich auf den Vorspruch zu Vidors Film berufen: „This is the story of evil …“ Ja, doch das Böse wird hier aus seiner Wurzel, als „Partikularwille“ (Schelling) entwickelt, es ist (tragische) Potentialität. Das heißt, die Frau, die Vidor zeigt, ist nicht ohne Grund böse, wird nicht ohne Grund zur Mörderin. Sie will sich ganz begreiflicherweise verwirklichen, aber kann es nicht. Beyond the Forest schildert gescheiterte Selbstverwirklichung. Es ist, recht verstanden, ein feministischer Film.

Noël Burch weist in seinem Buch De la beauté des latrines (L’Harmattan 2007), das mich überhaupt auf den Film aufmerksam gemacht hat, auf die Szene hin, in der eine neunfache Mutter, deren „Massenzucht“ Rosa Moline (Davis) gerade noch verspottet hat, über sie sagt, sie sei doch immer etwas Besonderes gewesen, „it’s hard on Rosa to be tied to a town like this“.

Burch arbeitet die feministische Lesart der Melodramen Vidors heraus: „In Beyond the Forest wird, wie schon in Duel in the Sun, die Unterdrückung der Frauen mit der der ‚Farbigen‘ in einen Zusammenhang gebracht.“ In Forest gibt es nämlich eine zweite Rebellin, es ist die indianische Hausangestellte der Molines, Jenny (Dona Drake), die Rosa fast aufs Haar gleicht. Sie hat nicht die geringste Lust auf ihren Putz- und Koch-Job und auf die Großtuerei der Dame des Hauses. Das Double Jenny deutet den tragischen Aufstand der Rosa materialistisch. „Sie macht sich lustig über die Rezepte, die Rosa aus Illustrierten ausgeschnitten hat, und ist überhaupt diejenige, die den Finger auf die Entfremdung Rosas legt.“ Diese Entfremdung äußert sich eben auch in kleinbürgerlichen Abstiegsängsten. Sie formen sich in einer alptraumhaften Passage aus, in der es Rosa, die ihren Mann, den Arzt, verlassen hat und endlich in Chicago ihr Glück machen will, in ein Elendsviertel verschlägt.

Jenny ist es aber wiederum, die der unglücklichen Mitkämpferin in deren Agonie beizustehen versucht. Dieser schockierende Schluss, aber auch die Bilder von den Flammen, die Tag und Nacht aus dem Sägewerk des Kaffs schlagen und Rosa nicht zur Ruhe kommen lassen, prägen sich tief ein (Kamera: Robert Burks).

Burch schreibt, dass die Luzidität dieses Meisterwerks sich nicht Vidor allein verdanken könne, der im selben Jahr The Fountainhead, „einen Film von trauriger Berühmtheit“, drehte. Ein Film wie Beyond the Forest  ist immer ein kollektives Werk. Leider vergisst Burch, an dieser Stelle Lenore J. Coffee zu erwähnen, die das Drehbuch schrieb, eine Überlebende jener frühen Zeit des Kinos, die noch von Frauen (als Produzentinnen, Regisseurinnen und Autorinnen) mitbestimmt war.

De la beauté des latrines ist eine polemische Abrechnung mit der herrschenden Kinogeschichtsschreibung, gerade auch der à la parisienne, die Burch mit wenigen Ausnahmen für maskulinistisch und bürgerlich hält (die Bevorzugung von Hawks scheint ihm da ebenso typisch wie die der Coens, von Lynch oder Tarantino). Er überzieht oft, auch frage ich mich, ob er sich immer die richtigen Gegner wählt (sein Titel bezieht sich auf die Autonomieästhetik von Théophile Gautier, der einmal schrieb, Kunst dürfe kein nützlicher Ort sein, denn der nützlichste Ort im Haus sei immer der Abort. Doch wer Gautiers Gedichte liest, etwa die Sammlung Émaux et Camées, wird sie eher elegant als elitär finden. Sie sind insofern nützliche Begleiter, oft liedhaft, durchaus populär). Dennoch ist Burchs Streitschrift höchst anregend, allein schon wegen solcher Analysen wie der der Melodramen von King Vidor.

Freitag, 19.06.2009

Amerika

François Bondy: „Wenden wir uns New York zu. Das war dein erster Kontakt mit Amerika.“
Romain Gary: „Es ist nahezu unmöglich, einen ersten Kontakt mit Amerika zu haben. Das ist vielleicht das einzige Land, das tatsächlich so ist, wie man es kennt, bevor man es betreten hat. Das erste, was dir auffällt, wenn du ankommst, ist, dass das amerikanische Kino das wahrste der Welt ist. Noch der schlechteste amerikanische Film ist wahrhaftig, er legt getreulich Zeugnis von den Vereinigten Staaten ab. Das gestaltet die Entdeckung Amerikas sehr schwierig. Dir bleibt nichts, als dich immerzu bestätigen zu lassen. Nimm irgendeinen amerikanischen Film, und jeder Fetzen des Filmstreifens ist vollgesogen mit Wirklichkeit, ganz gleich, wie banal und unwahrscheinlich das Ganze ausschaut. Amerika ist ein Film. Das ist ein Land, das Kino ist.“
(La nuit sera calme, Paris: Gallimard 1974, S. 118f.)

Samstag, 30.05.2009

Schnittke als Filmkomponist

Alfred Schnittke hat, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, jahrzehntelang Musik für Filme geschrieben, „und bei weitem nicht nur für Filme, die mich interessiert haben“. Im Ernst begeistert er sich nur für Bergman und für Tarkowski, mit dem er zusammengearbeitet hat. Was die andern betrifft, pflastern unzählige Märsche, Walzer, sentimentale Dekors für Landschaftsbilder und Liebeleien seinen Weg. „Im Westen arbeitet derzeit kein Komponist, der redlich ist und auf sich hält, fürs Kino. Das Kino wird immer seine Formen dem Komponisten aufzwingen. Die Zusammenarbeit zwischen Eisenstein und Prokofjew ist die große Ausnahme, vielleicht gibt es noch andere. Aber selbst Schostakowitsch musste sich dem Diktat der Regisseure beugen. Dagegen kann man nichts machen – es geht auch gar nicht so sehr um die Maßgaben des Regisseurs als um die des Mediums. Wer sich dessen bewusst ist, kann mit denjenigen Regisseuren zusammenarbeiten, deren Filme interessante Herausforderungen für die Musik aufwerfen – und das habe ich in den letzten Jahren versucht.“ (Alexander Ivashkin, Hg., A Schnittke Reader, Indiana University Press: Bloomington & Indianapolis 2002, S. 50)

Es ist aber gerade Schnittkes Genie, dass er die öde und blöde Welt nicht links liegen lässt, sondern in seinen polystilistischen Kompositionen aufgreift, verzerrt, verkehrt und verwandelt. Und so erscheint seine eigene Filmmusik in dem hinreißenden Concerto Grosso Nr. 1, unter anderem ein Tango, übrigens ein gefährlicher Ohrwurm, aus seiner Musik für Elem Klimows „Agoniya“ (1981) – nach den scores zu urteilen, die Frank Strobel eingespielt hat, eine seiner besten Filmmusiken. „Ich träume von einem einheitlichen Stil, in den Fragmente von ernster und unterhaltsamer Musik nicht bloß frivol eingestreut sind, sondern Elemente einer andersartigen musikalischen Realität bleiben, Elemente, die originalgetreu gespielt werden, aber zur Manipulation benutzt werden können – seien es Jazz, Pop, Rock oder serielle Musik (denn auch die Avantgarde ist zur Gebrauchsmusik geworden). (…) Also führte ich innerhalb des Rahmens eines neoklassischen Concerto Grosso Fragmente ein, die nicht zum sonstigen Stil des Stücks passen und die zuvor Teil von Kinopartituren waren: einen munteren Kinderchoral (zu Beginn des ersten Satzes und auf dem Höhepunkt des fünften; auch in den andern kehrt er wieder), eine nostalgisch-atonale Serenade – ein Trio (im zweiten Satz), einen echten Original-Corelli ‚made in the USSR’ und den Lieblingstango meiner Großmutter (im fünften Satz), den ihre Urgroßmutter auf ihrem Cembalo zu spielen pflegte …“ (S. 45)

Aber die Brotarbeit fürs Kino hat noch andere Auswirkungen. Die Montagetechnik in „I vsyo-taki ya veryu…“ (And Still I Believe / The World Today), einem Dokumentarfilm von Klimow, Marlen Khutsijew und Michail Romm, welch letzteren Schnittke sehr bewundert hat, beeinflusste nach eigenem Bekunden seine Erste Symphonie (1972). Ein phantastisches, wüstes Stück Musikmontage, ein Kinostück.

Freitag, 15.05.2009

Wyborny

„Wybornys Aufbruch aus einer als in hohem Maße unbefriedigend empfundenen Gegenwart, insbesondere aus der Gegenwart des Mediums Film, ging in zwei Richtungen gleichzeitig: in die Geschichte des Mediums und in seine Zukunft, – zurück zu Griffith und dem Sündenfall des ersten Schnitts (DAS GRÖSSTE VERBRECHEN ALLER ZEITEN) und voraus in den reinen Himmel des befreiten Sehens, nämlich zur Wiedergeburt des aller narrativen Zwänge ledigen Bildes.“
(Dietrich Kuhlbrodt in Cinegraph, Lg. 16)

Dieses einzigartige Werk – ein Kino, das denken, das komisch, aber auch verzweifelt sein kann – liegt nun in einer vollständigen DVD-Edition vor, die Klaus Wyborny selbst zusammengestellt hat.

Donnerstag, 29.01.2009

All My Life

Scheugl & Schmidt nutzten jede Gelegenheit, um gegen ihre „irrationalen Gefühle“ loszudonnern, die New Yorker Formalistenszene fand sie „hairy“, doch ganz gleichgültig, die Filmer der Westcoast haben ihre Tadler und Spötter überlebt. In den Jahrzehnten, die seither vergangen sind, sind ihre mit den primitivsten Mitteln zusammengestoppelten Sachen immer noch reizvoller geworden. Man nehme nur den einen, supersimplen „All My Life“ von Bruce Baillie, die Musik von Ella Fitzgerald mit Teddy Wilson und seinem Orchester, all my life, I’ve been waiting for you, ein zerfallener Zaun, immerzu dieser Zaun, Büsche, you seem so lovely, so far above me, Blumen, Blumen, I’m almost afraid to look, und dann, es zerreißt einem das Herz, ein Schwenk in den Himmel, darling, just hold my love.

Dieser Film und andere morgen (Freitag) Abend in der (zusammen mit dem Institut für Neue Musik veranstalteten) Reihe „Musik Bild Magie“ im Berliner Arsenal, 19.30 Uhr: Bruce Baillie, All My Life (USA, 1966, 3 Min., Musik: Ella Fitzgerald) und Castro Street (USA, 1966, 10 Min.), Kenneth Anger, Eaux d’Artifice (USA/Italien, 1953, 13 Min., Musik: Antonio Vivaldi), Manuel Knapp, Visibility of Interim (Österreich, 2007, 14 Min.), Karoe Goldt, Non est hic (Deutschland, 2006, 5 Min., Musik: pumice), Magdalena Kallenberger, Grand Pas de Deux (Deutschland,2007, 5 Min., Musik: Leo Brouver)

Donnerstag, 18.12.2008

Wunder

Der dümmste Vorbehalt gegen Religion ist, ein Mensch könne schwerlich über Wasser laufen. Der Film hat, als ob er diese Dummheit entkräften und den unrettbaren Volksglauben retten wollte, Wunder wörtlich genommen, ein Mann läuft über Wasser („Being There“, 1979), ein Stab wird zur Schlange („Moses und Aron“, 1974), eine Tote wird zum Leben erweckt („Ordet“, 1955). Überhaupt erscheinen die Toten wieder; unheimlich in den Doppelbelichtungen von „Der müde Tod“ (1921). Genau genommen sind immer nur Tote zu sehen, eine fortwährende Resurrektion. Noch der hohle und der nüchterne Film haben etwas Wunderbares, und das widervernünftige Wunder deutet nicht selten auf das, was begreifen zu wollen unvernünftig wäre.

Donnerstag, 09.10.2008

Tati

Heute vor 100 (manche sagen, vor 101) Jahren wurde Jacques Tati geboren. Hier eine Kleinigkeit über Fenster in Tativille und bei Le Corbusier, sowie über Paul Celans Gedicht „Playtime“.

Dienstag, 23.09.2008

Immersion

Als ich nach Nolans neuem „Batman“ ein wenig zu eilig dem Ausgang zustrebe, habe ich das Gefühl, mein Parka flatterte hinter mir im Luftzug.

Mittwoch, 30.07.2008

Absolutes Rauchverbot

Journalist: Do you go to the movies?
John Ford: No, never. Because you can’t smoke.

(Bertrand Tavernier, „Notes of a Press Attaché: John Ford in Paris“ (Positif, 82/1967), in Gerald Peary, Jenny Lefcourt, Hg., John Ford. Interviews. Jackson 2001)

Freitag, 18.07.2008

Ein ganzer Film in einem Bild

Hiroshi Sugimotos Fotografien, die gerade in Berlin zu sehen sind, wirken auf den ersten Blick statuarisch und verdichten doch allesamt Zeit. Die Bilder von Wachsfiguren verwandeln sich zurück in die Gemälde, die diesen Puppen als Vorlagen dienten, und erwachen zugleich zu einem gespenstischen Leben, als ob sie Schnappschüsse wären. Lebloses, das zu leben beginnt, ist unheimlich, ist Kino. Kino ist das Thema in dem Zyklus „Theatres“ (1978–2001). Belichtet wurde jeweils für die Dauer eines Films. Der Kinosaal oder der Drive-in nimmt reiche Textur an wie die Pyramiden oder Dome auf den Fotografien des 19. Jahrhunderts, die Leinwand leuchtet. Die Verdichtung der Filmzeit ist Licht. „Different movies give different brightnesses. If it’s an optimistic story, I usually end up with a bright screen; if it’s a sad story, it’s a dark screen. Occult movie? Very dark.“


atasehir escort atasehir escort kadikoy escort kartal escort bostanci escort