Einträge von Volker Pantenburg

Samstag, 07.02.2009

Yes Man

„Stellen wir uns in einem phantastischen Roman einen Menschen (einen Helden oder Heiligen) vor, der krankhaft unfähig wäre, nein zu sagen, und deshalb außerstande wäre, jemandem irgend etwas abzuschlagen. Stellen wir uns vor, wie grotesk und dramatisch zugleich sein Leben verliefe (daraus ließe sich gut eine Fabel à la Voltaire machen) → Sich weigern: eine Frage auf Leben und Tod“

[Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans, 2. Das Werk als Wille, Sitzung vom 19. Januar 1980, Kapitel III: Zweite Prüfung: die Geduld, Unterkapitel Vita Nova, Abschnitt Schutzmaßnahmen, Rubrik Weigerung]

Freitag, 06.02.2009

[…] (2)

Da ist dieses Mädchen in meinem Linguistik-Kurs, sagt der College-Junge zu seiner Jugendfreundin, die er seit Ewigkeiten (»since 8th grade«) kennt. Die beiden sitzen im Schneidersitz im Gras. Sommerferien, Kartenspiel, er kann die Menge der Karten kaum in einer Hand halten. Ich weiß nicht, wie ich an sie herankommen soll. Einmal haben wir uns fast geküsst. Kennst du das? Wenn sich zwei Blicke streifen und aneinander hängen bleiben? Für zehn, fünfzehn Sekunden, wirklich lange? Aber dann hat sie weggeschaut.

Während er das seiner Jugendfreundin erzählt, in den Sommerferien, im Gras, schaut er ihr in die Augen, für zehn, fünfzehn Sekunden, wirklich lange.

[The Exploding Girl, Regie: Bradley Rust Gray, USA 2009, Berlinale Forum, heute um 19.30 Uhr, CineStar 8 und vier weitere Termine]

[…] (1)

Wir müssen uns langsam auf die Landung vorbereiten, sagt der psychisch Kranke zum Arzt, ich habe noch zwanzig, dreißig Jahre zu leben. Der Arzt nimmt einen Zettel und malt zwei überlappende Kreise, einen kleinen links und einen großen rechts. An den linken zeichnet er die japanischen Schriftzeichen für »Kindheit / Alter«, an den rechten die für »Erwachsensein«. Dann fügt er noch ein paar angedeutete Pfeile auf der Linie des rechten Kreises hinzu, so dass von der Kindheit ausgehend eine Richtung angedeutet ist, die nach dem Durchlauf durch den Kreis wieder beim Alter landet.

Aber wo ist der Tod, wundert sich der Patient.

Der Arzt beginnt eine zweite Zeichnung, wieder mit den gleichen Schriftzeichen, aber anders verteilt, mit dem Unterschied, dass nun ein gerader Strahl von der Kindheit zum Alter führt. Das Schriftzeichen für »Tod« macht er ein paar Zentimeter von diesem Strahl entfernt; der Tod ist wie ein Sprung aus der Achse heraus. Welche Zeichnung gefällt Ihnen besser, fragt er den Patienten. Die mit den Kreisen, antwortet der Patient.

[Mental, Regie: Soda Kazuhiro, Japan 2008, Berlinale Forum, 6.2., 18.00 Uhr, Arsenal 1 und weitere Termine]

Montag, 02.02.2009

Äpfel | Birnen | Beuys

„Nun, fangen wir mit dem ‚Wooster Pearmain‘ an, der einmal der beliebteste unter den frühen Äpfeln war, aber man hat sie vom Markt genommen, sie sind heutzutage recht selten. Und ich habe noch einen frühen Apfel, ursprünglich ein deutscher Apfel, genannt ‚Gravensteiner‘, aber er wird auch in englischen Büchern über Äpfel aufgeführt, weil er für lange Zeit in England gepflanzt wurde, und sie haben ein herrliches Aroma. Aber er ist ein früher Apfel, der sich nicht sehr lange hält. Er sollte eigentlich dieser Tage gegessen werden, weil er bald anfangen wird zu faulen. Hier haben Sie einen späteren Apfel, den ‚Ribston Pippin‘, der ins England des 18. Jahrhunderts zurückreicht und ein Ahne des ‚Cox Orange Pippin‘, nach wie vor einer der beliebtesten Äpfel. Eigentlich ziehe ich ihn dem Cox in vielerlei Hinsicht vor, und hier in Suffolk treibt er weit besser, als ein Cox das tut. […]“

[Michael Hamburger in Tacita Deans Film MICHAEL HAMBURGER, 2007, 16mm-Film, anamorphotisch, Lichtton, 28 min; noch bis zum 15.2.2009 gemeinsam mit Deans Filmen DARMSTÄDTER WERKBLOCK, 16mm-Film, Lichtton, 18 min und PRISONER PAIR, 16mm-Film, stumm, 11 min sowie übermalten Fotografien („Painted Kotzsch Trees I-VI“) und einigen anderen sehens- und hörenswerten Dingen in der VILLA OPPENHEIM zu besuchen. Übersetzung des Michael Hamburger-Texts von Marion Dick.]

Samstag, 10.01.2009

21/100

Die Geschichte vom theoretisch imprägnierten Filmpraktiker, der im Vorwort zu einer Neuauflage seines einflussreichen Buchs nicht ohne Koketterie die Revision vornimmt, dass „die feierliche Verkündigung, es gebe fünfzehn Arten von raum-zeitlicher Einstellungsverknüpfung mit Sicherheit zu den unnötigsten Informationen über das Filmemachen gehört, die je in einem gedruckten Werk vorgebracht worden sind.“

Mittwoch, 07.01.2009

„I had always assumed that Matthew Barney pioneered the art of financing films by packaging props into more easily monetizable vitrines, but Fischli & Weiss had him beat by a full Documenta.“ (Gregg Allen)

Überlegungen zu DER LAUF DER DINGE, unsichtbar-sichtbaren Schnitten, das Tanzen auf Walter Benjamins Grab, der Aura und den Preisen zeitgenössischer Kunst.

Hier, dann hier und hier.

[via CARGO]

Dienstag, 06.01.2009

MEDICINE FOR MELANCHOLY

Wenn es bei der Jahresliste um schöne Überraschungen gegangen wäre und man nicht ohnehin immer alles mögliche vergisst beim Listenmachen, dann hätte MEDICINE FOR MELANCHOLY auf meine Liste gehört.

Klassische Festivalerfahrung: Irgendetwas verzögert sich, deshalb schafft man es nicht, den Film noch zu erreichen, den man eigentlich gern sehen wollte, stattdessen bleibt man semizufrieden, wo man grad ist, und manchmal, eher selten, ist es dann genau gut so, wie es kommt.

Angenehmes DV-Kino, mit sehr wenig Geld hergestellt, wenn ich mich an das Q&A richtig erinnere, haben sie auf eine ganz billige Kamera irgendwie eine 35mm-Optik draufgebastelt oder so ähnlich. Die beiden Hauptdarsteller (die Frau mit dem LODEN-T-Shirt und Micah) bewegen sich sehr schön, und auch sonst ist vieles richtig oder erinnert mich an Dinge, die ich mal richtig fand und die auch jetzt nicht ganz falsch sind.

Einmal war der Film scheinbar schon hier zu sehen, im Babylon. Am Freitag kommt er dort nochmal, im Rahmen des „Unknown Pleasures“-Festivals, wo er auch das Poster ziert.

FR 9.1., 20.00 Babylon Mitte

Medicine for Melancholy, USA 2007; R: Barry Jenkins; mit Wyatt Cenac, Tracey Heggins; Digibeta, 87 min, OV.

Mittwoch, 31.12.2008

Zwei bis drei Restgedanken des Jahres 2008

Idee zu einer Filmreihe „Theoretiker in Nebenrollen, 1964 bis 1978“. Eröffnung der Reihe mit Giorgio Agamben in Pasolinis „Il Vangelo secondo Matteo“; Abschluss mit Roland Barthes in Téchinés „Les Soeurs Bronte“. Unklar, ob zwischen Eröffnung und Abschluss weitere Filme gezeigt werden. # Neben den Krimis hatte ich noch zwei andere Bücher in den Urlaub mitgenommen: Peter Wollens „Paris Hollywood. Writings on Film“ und Victor Burgins „The Remembered Film“. Ein paar Wochen später kaufte ich im Frankfurter Städelmuseum einen Burgin-Katalog und stellte fest, dass Peter Wollen den einführenden Essay geschrieben hatte. # Buch des Jahres: Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978-1979 und 1979-1980, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008. Einziger Vorsatz für 2009ff.: Dieses Buch von nun an in jedem Jahr einmal lesen. # „Dermaßen viele Menschen sind wie geplatzte Weißwürste oder zerschlagene Eier, so überbordend fett und formlos.“ (aus der Email eines Freundes aus den USA). # „ich war überrascht, an einem gate vorbeizukommen, das den flug nach reykjavik abwickelt – als gäbe es die insel noch.“ (aus einer Email desselben Freundes vom Flughafen Kopenhagen) # Wie mir in Amsterdam im Schwimmbad die Brille gestohlen wurde und ich daraus lernte, den Begriff „Wertsache“ von nun an radikal subjektiv zu interpretieren. # Zuerst denkt man: Fein, dass DIE ZEIT den Lesern ihr gesamtes Archiv im Internet zur Verfügung stellt. Wenn man bei Stichproben dann auf Texte wie Peter Naus Besprechung von Helmut Färbers BAUKUNST UND FILM stößt, die der Nachwelt dank der Mitautorschaft der automatisierten Scanner unter dem Titel „Von der Kathedrale ziirlitEeisiliäu“ überliefert wird, fragt man sich, ob hier nicht die Bewahrung der Vergangenheit mit ihrer Vernichtung verwechselt wird. # Mark Lewis: North Circular (2000).

[„#“ courtesy of woerterberg]

Montag, 22.12.2008

Ritual 2.0

Im Park sahen wir einen, der seinen Oberkörper in gleichmäßigen, wellenartigen Bewegungen abwechselnd nach vorne neigte, wieder aufrichtete und nach hinten bog. Er hielt einen aufgeklappten, weißen Computer in den waagerecht nach vorne gestreckten Händen und wirkte wie in ein nah- oder fernöstliches Ehrerbietungssritual versunken. Erst als er nach einigen Minuten zum Abschluss den Computer an sein Gesicht heranzog und die Stelle über dem Bildschirm küsste, an der bei diesem Modell die integrierte Kamera zu sein pflegt, wurde uns klar, dass er höchstwarscheinlich keiner Hi-Tech-Gottheit huldigte, sondern seiner Freundin eine schwungvolle Videobotschaft aufzeichnete.

Mittwoch, 17.12.2008

PS: Klassizismus

Kurzer Nachtrag zum weiter unten diskutierten Klassizismus-Eintrag: Die 11 Podiumsveranstaltungen, die Anfang Dezember unter dem Großtitel „Où va le cinéma?“ im Centre Pompidou stattfanden, sind inzwischen auch als Stream anzusehen.

Das Gespräch mit Serge Bozon, Emmanuel Bourdieu, Joana Hadjithomas / Khalil Joreige und Valérie Mréjen zum Beispiel ist hier; Serge Bozons von mir aus der Erinnerung zitierte Passage über das Plansequenzkino, Antonioni etc. beginnt bei 33:25.


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