new filmkritik

Dienstag, 19.05.2020

Filme der Fünfziger LVI: Ich denke oft an Piroschka (1955; R: Kurt Hoffmann)

Ein Herr mittleren Alters sitzt gedankenverloren in einem leeren Zugabteil und blickt auf den roten, leeren Sitz neben ihm. Dort haben seine Jugend, seine Hoffnungen, eine nicht erfüllte Romanze und – ja, auch sie – die verlorenen Ostgebiete ihren imaginären Platz eingenommen; alle sind zusammengefasst in dem Frauennamen „Piroschka“. Kommentiert von der Stimme des Reisenden geht es zurück in die zwanziger Jahre, als Andreas (Gunnar Möller) – wir erfahren nur den Vornamen – als Austauschstudent nach Ungarn fährt. „Es sind Erinnerungen an eine so nicht mehr existierende und für uns unzugänglich gewordene Welt. Darüber hinaus hatte das verlorene Ostdeutschland etwas mit dem alten Ungarn gemeinsam: Einen gelassen fröhlichen, breiten Lebensstil, dessen Krönung die vielgerühmte östliche Gastfreundschaft gewesen ist.“ (Hugo Hartung) Der Autor Hartung hatte 1951 für den Bayrischen Rundfunk ein sehr erfolgreiches Hörspiel verfasst, das von 28 Radiostationen übernommen wurde. 1954 entstand eine Romanfassung, 1955 dann der Film von Kurt Hoffmann.

Andreas trifft auf dem Weg zu seinen Gasteltern Greta (Wera Friedberg), eine selbstbewusste junge „Neue Frau“, die eine Arbeitsstelle in der Türkei antreten will. Der junge Andreas ist gleich in Balzlaune, stellt sich aber eher ungeschickt an. Er steht vor allem sich selbst im Wege; in seinen amourösen Versuchen verhält er sich wie ein Schlafwandler, magisch angezogen von der Weiblichkeit, aber immer wieder seiner Unerfahrenheit und der Tücke des Objekts ausgeliefert. Das Objekt ist eine mitgeführte Plattenkamera samt Stativ, das Andreas selbst dauernd zum Zusammenbruch bringt. Die Kamera begleitet Andreas wie ein Sinnbild seiner Überforderung. Das war eine Paraderolle für Gunnar Möller; zu seinem Leidwesen wollte ihn das Publikum fortan am liebsten als leicht verschusselten Liebhaber sehen.

Gunnar Möller, Liselotte Pulver

Greta bleibt am Plattensee, Andreas fährt zu seinen Gasteltern nach Hódmezővásárhelykutasipuszta (der Ortsname ist dem Ort Hódmezővásárhely nachempfunden) und nimmt uns mit in eine Welt des Zaubers und der Absurditäten. Schon im Zug wird er als deutscher Student erkannt; was für eine Freude! Und er muss essen und trinken, denn als junger Mensch hat man ja immer Hunger. Der Stationsvorstand von Hódmezővásárhelykutasipuszta Istvan Rasc (Gustav Knuth) lädt ebenfalls gleich zum Essen und Trinken ein; seine Lebensaufgabe besteht darin, zweimal am Tag ein Zugsignal zu setzen und auf die Pünktlichkeit des Zuges zu achten. „Nur zwanzig Minuten zu spät. So pünktlich war der Zug noch nie“, freut sich Istvan und ist ganz aufgeregt. Sind wir ins Alice’s Wunderland geraten? Da kommt Freund Sandor (Rudolf Vogel) mit dem Fahrrad in das Haus geradelt. Sandor ist Briefträger, Landbote, Weichensteller, Stationsgehilfe, alles in einer Person. Er stellt sich vor: „Guten Morgen, guten Abend, sehr gut, küß die Hand, lieber Bruder.“ Andreas wohnt bei einem Arzt und seiner Frau; morgens tritt er aus dem Zimmer– sechs fremde Menschen stehen in dem Flur auf. Er begegnet Piroschka (Liselotte Pulver), die ihn glauben lässt, dass sie kein Deutsch versteht, so dass ihm seine Worte später peinlich sein werden. In dieser Welt der Wunder wird Andreas von einem Fremden zu einem Freund. Piroschka zeigt ihm die Pferde der Puszta, die Schweine und Gänse, die Schafhirten und die Roma. Aber es gibt noch Greta und die Welt, aus der er gekommen ist. Greta schreibt eine Karte (“die ist von Franz, einem Freund“, erklärt Andreas Piroschka). Andreas fährt mit dem Morgenzug an den Plattensee, Piroschka folgt ihm. In der Peinlichkeit, sich zwischen Greta und Piroschka entscheiden zu müssen, tritt Andreas in lauter Fettnäpfchen. „Du machst alles kaputt“, sagt Piroschka, bevor sie allein nach Hause zurückfährt. Ein Fest bringt das Paar wieder zusammen. Jetzt bleibt ihnen noch eine Nacht bis zum endgültigen Abschied.
Auf der Bühne und im Film war die Ungarn-Operette ein fester Bestandteil des Repertoires. Hoffmann gibt dem Filmpublikum auch in Piroschka das romantisch-folkloristische Ungarn mit Musik, Tanz, Lagerfeuer und Liebe. Kameramann Richard Angst lässt die Farben leuchten, staffelt Menschen und Objekte zu kunstvollen Bildern, kann aber mit dem wilden Tanz nicht mehr anfangen als ihn in gelegentlichen Top-Shots auf Distanz zu halten. Kurt Hoffmann, das merkt man jeder Szene an, liebt seine Schauspieler. Liselotte Pulver hatte gerade in O.W. Fischers Hanussen (1955) eine skeptische Journalistin gespielt, die Fischer mir nichts, dir nichts überwältigt – nur das war der Sinn der Figur. Bei Hoffmann ist jede Rolle eine Paraderolle; Liselotte Pulver wurde mit ihrer Interpretation zum Liebling der Nation. Jeder konnte sich in die Unschuld verlieben und die Geschichte der vergangenen 30 Jahre im Seufzer bitter-süßer Melancholie vergessen. Die Entlastungsstrategie gelang vollkommen.

Weil der Verleih ein Happy End wollte, drehte Hoffmann ein alternatives Ende, das doch nicht verwendet wurde. Die Filmbewertungsstelle versagte zunächst ein Prädikat: „Diese Geschichte ist nicht originell gemacht, entfernt sich auch nicht von Klischees. Sie ist auch nicht so humorvoll gestaltet oder künstlerisch gespielt, dass man den Film durch ein Prädikat auszeichnen kann. Dem Film gelingt es nicht, zum echten Volksstück vorzustoßen. Er zeigt auch nicht den Zauber eines Märchens.“ Der Produzent legte Widerspruch ein; der Film erhielt das Prädikat „Wertvoll“ und gehörte kommerziell zu den zehn erfolgreichsten Filmen der Saison.

 

Auf DVD und Blu-Ray
Präzisierungen zu filmportal: Pressefotos: Kurt Huhle – Dreharbeiten vom 12. 9. 1955 in Palic bei Subotica (damals Jugoslawien) bis 5. 11. 1955 in Geiselgasteig

Montag, 20.04.2020

Auge und Umkreis (VIII)


The Whispering Chorus (1918 Cecil B. DeMille)

„Es ist so schwer den Anfang zu finden. Oder besser: Es ist schwer, am Anfang anzufangen. Und nicht zu versuchen, weiter zurückzugehen.“
(Ludwig Wittgenstein, 1948, Vermischte Bemerkungen)


The Affairs of Anatol (1921 Cecil B. DeMille)

Mit DeMille beginnen, heißt dem Irrtum entgehen, Anfänge wären unschuldig oder harmlos… es gäbe da in der Kindheit des Kinos noch keine Zerstörungswut. Archaisch, auch kindlich ist Aggression, die sich gegen das Abbild richtet.


La dame masqueé (1924 Victor Tourjansky)

Der Spiegel hat zwei Seiten. Die eine rückt zu nah heran, betont das Teilstückhafte, löst dadurch Angst aus. Die andere erst gibt Kontur und bietet das Ich zur Betrachtung an – – – mit den Augen der anderen.


Chicago (1927 Frank Urson)

Dali & Dr. Lacan waren fasziniert von den Schwestern Papin, die als Dienerschaft in Le Mans 1933 ihre Herrschaft, Mutter und Tochter, mit grobem Werkzeug ermordeten und ihnen (zuvor!) die Augen aus den Köpfen rissen.


Three on a Match (1932 Mervyn Leroy)

Der Gangster, der sich in Anwesenheit seiner Schergen die Haare aus der Nase zupft, ist nur eine (besonders böse) Nebenfigur in einem Frauenfilm von Mervyn LeRoy.


The Kiss Before the Mirror (1933 James Whale)

A Universal Picture. Ihr Blick in den Spiegel, ihr fest entschlossenes Schönseinwollen (für wen?) erweckt seine Eifersucht. Aber vollends vernichtet den Mann, dass sie durch den Spiegel auf ihn mit Verachtung schaut.
Mit seinem Wahnsinn impft er, zum Mörder geworden, seinen Anwalt. Oder steckt er ihn an?
Tragödie im Plural. Das Remake hieß Wives Under Suspicion


Strictly Dynamite (1934 Elliott Nugent), an RKO Radio Picture.

Der junge Autor (Norman Foster) betrachtet sich im Spiegel. Im Nacken sitzt ihm der Misserfolg. Es wurde ihm geraten, sich selbst anzupreisen – als regelrechter Sprengstoff.

Salvador Dali schreibt 1934 an André Breton: “I’m in Hollywood where I’ve made contact with the three American Surrealists, Harpo Marx, Walt Disney, and Cecil B. DeMille. I believe I’ve intoxicated them suitably and hope that the possibilities for Surrealism here will become a reality.”


Becky Sharp (1935 Rouben Mamoulian)

Nur eine Pose. Gerade noch hat sie (Miriam Hopkins) getanzt vor dem Spiegel.

„Das Gesicht ist ein Zeichen für die anderen, das ich selbst gar nicht entziffern kann – zumeist nicht einmal vor dem Spiegel, der mir stets verbirgt, was meine Geliebte, mein Feind, mein Kind oder mein Nachbar in meinen Gesichtszügen zu lesen glauben.“ (Thomas Macho: Wittgenstein und die Photographie, 2008)

„Aber es ist doch ein Jammer, dass jemand ganz allein für sich oft am schönsten ist.“ (Irmgard Keun: Nach Mitternacht, 1937)


The Plainsman (1936 Cecil B. DeMille)

Salvador Dali: “Die Wirklichkeit ist eine Begleiterscheinung des Denkens – eine Folge des Nichtdenkens, eine durch Gedächtnisschwund hervorgerufene Erscheinung.“

„Wenn du dich benimmst, werde ich dich ihm vorstellen“, sagte George Antheil zu Dali. Der küsste wenig später die Hände von Cecil B. DeMille und nannte ihn „den größten Surrealisten auf Erden“. DeMille hatte nichts dagegen, dass der Unbekannte ihm die Hände küsste, und ließ sich erklären, was das sei: ein Surrealist?


Go West Young Man (1936 Henry Hathaway)

Mae West. Komödiantin, Sexsymbol, Drehbuchautorin.
Dali porträtierte sie, machte aus ihrem Gesicht ein Appartement.


Go West Young Man (1936 Hathaway) – via

Angesichts der Gestaltung dieser Mahlzeit wird eine Beschwerde laut: Es sieht mich an! „Es sieht mich an!“ ruft ein alter Mann.

Dali erfand die „paranoisch-kritische Methode“ zur Herstellung von Doppel- oder Vexierbildern, zur Stimulation und Simulation von Halluzinationen.

“Dieses Laster, genannt Surrealismus, besteht in dem unmäßigen und leidenschaftlichen Gebrauch des Rauschgiftes Bild,“ sagt Louis Aragon.


Danger – Love at Work (1937 Otto Preminger)

„Im Film, wie auf der Photographie, sehen Gesicht und Haare nicht grau aus, sie machen einen ganz natürlichen Eindruck; Speisen in einer Schüssel dagegen sehen im Film oft grau und darum unappetitlich aus.“
(Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Farben)


The Sisters (1938 Anatole Litvak)

Ein Kapitel in John Dickson Carrs „Tod im Hexenwinkel“ (1933) ist einem Butler gewidmet, der gern ins Kino geht. Es wird da beschrieben, was Abenteuerfilme mit ihm machen: „Seine Seele wurde zu einem Ballon, einem Fesselballon zwar, aber immerhin einem Ballon.“

Es gefällt mir, wenn in einer handlungsreichen Erzählung plötzlich jemand Selbstgenügsamkeit an den Tag legt.

„Kaum konnte er lesen, hatte er auch die Geschichten der großen Entdeckungen verschlungen. Aber er nahm die Schilderungen nicht etwa kritiklos hin. Wenn er Robinson Crusoe gewesen wäre, hätte er vieles anders angepackt, vor allem aber die Insel niemals wieder verlassen.“
(Jules Verne: „Fünf Wochen im Ballon“)


The Buccaneer (1938 Cecil B. DeMille)

“Das menschliche Auge sehen wir nicht als Empfänger, es scheint nicht etwas einzulassen, sondern auszusenden. Das Ohr empfängt; das Auge blickt. (Es wirft Blicke, es blitzt, strahlt leuchtet.) Mit dem Auge kann man schrecken, nicht mit dem Ohr, der Nase. Wenn du das Auge siehst, so siehst du etwas von ihm ausgehen. Du siehst den Blick des Auges.” (Wittgenstein: Zettel)


Destry Rides Again (1939 George Marshall)

Sie (Marlene Dietrich) solle sich schämen, meint der Titelheld (James Stewart). Slut-shaming! Fast ein Grund, den Film nicht zu mögen. Aber das ist unmöglich – dank der Lieder (von Friedrich Hollaender), die sie singt.

„Da ist das berühmte von den boys in the backroom. Es ist eine Art von Vermächtnis einer Salon-Diva, die allen ihren boys zugetan ist – zweideutig und gutmütig zugleich -, und es läuft (soviel ich verstanden habe) darauf hinaus, dass sie sich auch über den Tod hinweg bei diesen Jungens noch ein herzhaft gutes Andenken bewahren will.“
(Dolf Sternberger, 1960)


The Letter (1940 William Wyler)

Sie (Bette Davis), die sich im Spiegel anschaut, sieht nicht, was wir sehen: die Tür zur Veranda, in den nächtlichen Garten hinaus, ins Mondlicht hinein, wohin es sie ziehen wird, auf der Suche nach irgendeinem Weg zu sterben.


The Little Foxes (1941 William Wyler)

Der Spiegel ist so positioniert, dass sie (Bette Davis) auf sich selbst herabblickt.
Wie es ist, sich zu vergleichen.

Es ergab sich so. Vom Geborgensein in der Katastrophe (Jules Verne) und vom “unrettbaren” Ich (Ernst Mach) führte eine Fährte hin zu Wassertropfen, Himmelskörpern, rundgerahmten Portraits und Spiegeln. Viele Monde vergingen, bis mir – im vorigen Kapitel – Exzesse des Argwohns (Agatha Christie und Wittgenstein) bei der Klärung halfen, was es werden soll, wenn es fertig ist: Eine Morphologie der Unsicherheit.


Cottage To Let (1941 Anthony Asquith)

In Austin Freemans „Auge des Osiris“ (1911) lobt der Detektiv den Erzähler, er habe Talent zum Ermittler: So selten zu finden sind diejenigen, die etwas notieren, was sie für unwichtig und irrelevant halten; wer nur das notiert, was ihm bedeutsam erscheint, macht alles falsch. „Denn er beraubt sich des Materials, über das er nachdenken könnte.“


Flying Fortress (1942 Walter Forde).

Genaugenommen ist niemand lange identisch. „Lippen und Zunge werden alle zwei Wochen erneuert. Die eigene Haut alle vier Wochen. Der allergrößte Teil des eigenen Körpers wird ständig neu synthetisiert. Man hat alle fünf Tage neue weiße und alle drei Monate neue rote Blutkörperchen. Die Zellen der Blutgefäße und des Darms werden alle fünf bis sieben Tage komplett ausgetauscht, sonst wäre man längst tot; die Oberfläche der Lunge alle acht Tage, die Knochen alle zehn Jahre. Die meisten der inneren Organe innerhalb von zwei bis drei Monaten (…) Nur der Zahnschmelz bleibt (wenn auch mit Löchern). Die Linse im Auge; und das Hirn.“ (Valentin Groebner in einem Radio-Essay, 2020)


Went the Day Well? (1942 Alberto Cavalcanti)

„Damals gehörten die Hoden für mich noch nicht zu der Assoziation Auge und Ei. Mein Freund wies mich auf meinen Irrtum hin. Wir schlugen in einem Lehrbuch der Anatomie nach, wo ich sehen konnte, dass die Hoden von Tieren und Menschen eiförmig sind und Aussehen und Farbe des Augapfels haben.“ (Georges Bataille: „Die Geschichte des Auges“)

Dali war der Ansicht, alle Kreativität hätte ihren Ursprung in den Hoden. Deshalb könnten Frauen keine Künstler sein. Das Schönste, was von Dali bleiben wird, ist das Buch, das Amanda Lear über ihn schrieb.


On Approval (1944 Clive Brook)

Diese britische Sexkomödie beginnt mit der Frage: Schon wieder ein Kriegsfilm? Nein, nein.

In der britischen Kinderkomödie Miss Robin Hood (1952 John Guillermin) brüllen wütende Kinder den Slogan “Down with Dali!” Der Grund dafür: Ihr Lieblingscomic hat plötzlich einen neuen Autor, der überhaupt nicht spannend erzählen kann, sich stattdessen in Kunsthistorie verzettelt.


Bluebeard (1944 Edgar Ulmer)

Der Maler (John Carradine) ist auch Puppenspieler und Mörder. Die Mordlust kommt beim Malen. Auf dem Umweg durch den Spiegel sollen sich Blick und Anblick verharmlosen.


Paris Underground / Madam Pimpernel (1945 Gregory Ratoff)

Ein Ehestreit. Es geht um Politik. Deshalb die Trennung. So fängt diese Geschichte an. Sie handelt von Freundschaft, Liebe, Widerstand. Ein Propagandafilm. Geringgeschätzte, hohe Kunstform. Hauptdarstellerin Constance Bennett war auch die Produzentin.


Spellbound (1945 Alfred Hitchcock)

Das Schuldgefühl, Überlebender zu sein.
An der Stelle des toten Bruders zu stehen, totenstarr.

Dalis Eltern erzählten ihm von klein auf, er sei die Wiedergeburt seines Bruders, der den gleichen Namen trug, und dessen Grab sie häufig besuchten – zusammen mit ihm, der dort Blumen auf einen Grabstein mit seinem eigenen Namen legte.
Dali meinte, dass er und sein Bruder „wie zwei Tropfen Wasser einander ähnelten, aber wir hatten unterschiedliche Reflexionen.“

Lacan meinte: Noch bevor wir zwei Jahre alt werden, erkennen wir uns im Spiegel. Zwischen den Geburtsjahren von Lacan (1901) und Dali (1904) liegen die Lebensdaten ihrer Brüder: 1901, im selben Jahr wie Lacan, wurde Dalis Bruder geboren. Er starb 1903. Lacans Bruder wurde 1902 geboren und starb 1904, in Dalis Geburtsjahr.


Spellbound (1945 Alfred Hitchcock)

Seinem „systematisierten Delirieren“ entsprach die Art, wie Dali sprach, eine unaufhörliche Attacke auf die korrekte Aussprache, mit der Ausdauer eines Kindes.

Dali und Lacan importierten Freud nach Frankreich. Philosophie aus Österreich gibt dem Gesprochenen den Vorrang vor der Schrift. Worüber man nicht schreiben kann, davon soll die Rede sein.


Dali & Dr. Lacan und Wittgensteins Hasen-Entenkopf

Jastrows berühmter „Hasen-Entenkopf“ beschäftigte Wittgenstein so sehr, dass er den Gesichtsausdruck und den Charakter des Hasen kritisch besprach.

Als Dali und Lacan, von gegenseitigem Respekt und gleichen Interessen erfüllt, einander in Paris zum ersten Austausch von Ideen trafen, da hatte der Maler etwas im Gesicht, etwas, das der Psychiater nicht ansprach: An Dalis Nasenspitze klebte ein Stück Zigarettenpapier. Das hatte beim Malen störende Reflexe auf einer Kupferplatte vermindern sollen, und war, wenn man Dali glaubt, ganz unabsichtlich an seiner Nase verblieben, ganz einfach vergessen worden. Erst anschließend, wieder allein, beim Blick in den Spiegel fiel es ihm auf. Aha, dachte Dali, war DAS also der Grund für die seltsame Art, wie Lacan ihn während des zweistündigen Gesprächs immer wieder angeschaut hatte?
„Aber warum haben Sie denn damals nichts gesagt?“ fragte Dali vier Jahrzehnte später beim Wiedersehen in New York…
Lacan war der Ansicht gewesen, Dali habe mit dem Papier auf der Nasenspitze eine irritierte Reaktion auslösen wollen, und deshalb hatte Lacan mit keiner Wimper gezuckt.


The Chase (1946 Arthur Ripley)

Der Gangster (Steve Cochran) ist auch Kind und Sadist.
In Bologna sah ich Steve Cochran in Tomorrow is another Day (1951 Felix Feist). Da spielte er einen, der mit 13 wegen Mordes ins Gefängnis kam und achtzehn Jahre später, wieder auf freiem Fuß, nichts über das Leben oder die Liebe weiß. Doch schlimmer als seine Unerfahrenheit ist die dunkle Ahnung, dass sich im Leben alles endlos wiederholt.


Jules Verne: „Fünf Wochen im Ballon“, 1863

„Ich werd‘ verrückt: da drüben fliegt noch ein Ballon… gib Zeichen mit der Fahne… tatsächlich sie erwidern… eine englische Fahne, genau wie unsere… “

Nachdem die Täuschung erkannt und auf Luftschichten verschiedener Dichte zurückgeführt ist, sagt einer der drei Reisenden: „Ich finde, wir sehen in diesem Luftspiegel recht imponierend aus.“


Bedelia (1946 Lance Comfort)

Eine schwarze Perle. So wertvoll, dass Bedelia (Margaret Lockwood) ihren Besitz als Fälschung ausgeben muss, um sich damit schmücken zu dürfen.
Sie will sich auch nicht fotografieren lassen. Aber in ihrem Schlafzimmer sind vier Spiegel.
Der Film enthüllt und feiert ihr Geheimnis, „the deepest of human mysteries – a problem that no detective, physician nor psychologist has ever solved.“


That Brennan Girl (1946 Alfred Santell)

Das Mädchen lernt den Gebrauch des Lippenstifts. Dem Film geht es darum, dass die Tochter anders werde als die Mutter, mütterlicher.

Von einigen der Filme, die von Republic produziert wurden, geht jene Faszination aus, die nur der Redner ausübt, der sich selber gründlich widerspricht.


The Secret Beyond the Door (1947 Fritz Lang),

A Universal Picture.
Verheiratet mit einem Mörder? Der Plot der 40er.
Ihr Mann sammelt Innenarchitektur – die Einrichtung von Räumen, in denen ein Mord geschah.

„Ich habe oft aus einem dummen amerikanischen Film eine Lehre gezogen.“ (Wittgenstein, 1947, Vermischte Bemerkungen)


Take My Life (1947 Ronald Neame)

Ein Mordfall. Das Medaillon führt auf eine Fährte. Die falsche. An die Unschuld des Angeklagten glaubt einzig seine Frau (Greta Gynt). Die folgt im Alleingang einer anderen Spur. Den Noten einer Partitur. Der deutsche Verleihtitel: Das Rettende Lied


The Paradine Case (1947 Alfred Hitchcock)

„Das Bewusstsein in des Andern Gesicht. Schau ins Gesicht des Andern und sieh das Bewusstsein in ihm und einen bestimmten Bewusstseinston. Du siehst auf ihm, in ihm, Freude, Gleichgültigkeit, Interesse, Rührung, Dumpfheit, usf. Das Licht im Gesicht des Andern.“ (Wittgenstein: Zettel)


The Amazing Mr. X (1948 Bernard Vorhaus)

Zwei Schwestern vor dem Spiegel. Es geht um die Quantität von Lippenstift und die Frage: Wer ist die Vernünftigere? Die Witwe hört nachts in ihrem zu großen Haus an der Steilküste eine Totenstimme. Die jüngere Schwester verliebt sich in einen Spiritisten. (Der wird gespielt vom erstaunlichen Turhan Bey.) Licht ins Dunkel bringt ein Detektiv, der einst Zauberkünstler war. Dunkel ins Licht bringt der Kamera-Magier John Alton.
Der Regisseur Bernard Vorhaus (schön ist auch sein Crime on the Hill von 1933) kam, vom FBI als verdächtig “vorzeitiger Antifaschist” klassifiziert, auf Hollywoods schwarze Liste und wurde in den 50ern in Italien unter Pseudonym Second-Unit-Regisseur von Wyler und Vidor.


The Weaker Sex (1948 Roy Ward Baker )

Ein Film gegen die Depression, die nach dem Krieg auf England lag.

„Ich stelle mir ein kleines Zimmer vor, das – an einen Fesselballon geknüpft – hoch oben in den Wolken hängt. Mein Schwebezimmer besteht aus einem Bett, in dem ich liege. Neben mir habe ich die notwendigsten Getränke, Rauchwaren und Nahrung. Niemand kann zu mir. Um mich sind nur Wolken. Ich habe Zeit. Ich könnte anfangen, mal Ordnung in mir zu schaffen. Wie eine alte Kommodenschublade kommt mein Hirn mir manchmal vor, vollgestopft mit Überflüssigem. Vielleicht ist hier und da auch was Brauchbares unter dem alten Ramsch. Ich müsste mal in Ruhe aussortieren können. Vielleicht würde ich auch zu faul sein, um in meiner Hirnschublade aufzuräumen, und würde sie einfach ausleeren. Vielleicht würde ich nur schlafen. Vielleicht würde ich wochenlang da oben bleiben, vielleicht würde ich nach ein paar Tagen wieder reif für die Menschen sein und sie nett und reizend finden.“ (Irmgard Keun: „Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen“, 1950)


Die Zeit mit Dir (1948 Georg Hurdalek)

Gegen die Depression: Die Dauerwelle. Es ist ihre erste.

Nachkriegszeit, das ist auch in den Filmen: Wiederbelebung durch Sex.

„Von den Sätzen, die ich hier niederschreibe, macht immer nur jeder soundsovielte einen Fortschritt, die anderen sind wie das Klappern der Schere des Haarschneiders, der sie in Bewegung erhalten muss, um mit ihr im rechten Moment einen Schnitt zu machen.“ (Wittgenstein, 1948, Vermischte Bemerkungen)


Höllische Liebe (1949 Géza von Cziffra)

Elfie Mayerhofer singt vor der südlichen Hemisphäre einer sich drehenden Weltkugel-Kulisse.

Ein alter filmkritischer Vorwurf lautet: historische Ereignisse seien „lediglich als Hintergrund“ (für irgendwas) benutzt worden. Ein intelligenter Mensch aber wird sich immer beschweren, nur als Vordergrund (für irgendwas) benutzt zu werden.

Geza von Cziffra hat mit Einstein und Schönberg Tischtennis gespielt; Tennis mit Staudte und Nabokov; er kannte alle. Seine Erinnerungen sind „Anekdoten-Raserei“, so nennt er die Sache selbst. Im Bastei-Lübbe-Taschenbuch (Wartesaal zum Ruhm, 1985) zitiert er gern ausführlich. Zum Beispiel den Dadaisten Huelsenbeck: „Der deutsche Dichter hat die Dichtung gepachtet. Er meint, das müsste alles so sein. Er begreift nicht, welch ungeheuren Humbug die Welt mit dem ‚Geist‘ treibt und dass es gut ist, dass Humbug damit getrieben wird.“


Night Unto Night (1949 Don Siegel)

Zwei Schwestern, Rivalinen, begrüßen einander im Spiegel. Und ein Arzt sieht tief ins Auge seines Patienten.
In einem alten Haus an der Ostküste Floridas treffen sich Geisterspuk und Epilepsie; eine schöne Witwe (Viveca Lindfors), die Stimmen hört, und ein Wissenschaftler (Ronald Reagan), der lieber tot als krank sein möchte. Der Meeresstrand und die Musik (Franz Waxman) geben dem Film die wesentlichen Konturen.


La beauté du diable (1949 René Clair)

Die Angst hat Michel Leiris mal gut beschrieben als das, was uns daran erinnert, „dass man selber dem körperlichen Verfall nicht entrinnen kann, wenn einmal die Uhr abgelaufen ist, und dass jetzt, wo das Alter meine Abwehrkräfte untergräbt, die ich noch nötiger hätte als je zuvor, meine abstrakte Angst vor dem Unausweichlichen tief genug ist, um von jedem beliebigen Umstand wachgerufen zu werden und sich praktisch in der Angst vor allem niederzuschlagen.“

In Friedrich Hollaenders Chanson „Das „Berg- und Talbahngefühl“ kommt die Angst in erster Person singular zu Wort, sie klagt, man habe sich an sie – den ständigen Begleiter – längst gewöhnt. Das wunderschön traurige Lied endet überraschend mit dem Rat: „Hab lieber Angst und sogar sehr, denn wer nicht Angst hat, der will gar nichts ändern mehr.“


The Red Menace (1949 R.G. Springsteen)

A Republic Production. Ein Journalist verlässt die Kommunistische Partei. In der Folge findet er nirgendwo mehr Arbeit. Überall kennt man seine Vergangenheit. Um ein Bild für seine Verzweiflung zu finden, geht die Republic-Produktion raus aus dem Studio auf unabgesperrte Locations, in die Stadt bei Nacht, wo der Ausgeschlossene umherirrt. Ob er will oder nicht, betritt der antikommunistische Film so den realen Alptraum des Antikommunismus.


Hellfire (1949 R.G. Springsteen)

Hellfire stromert stolz herum im Grenzgebiet von Feminismus und Fetischismus, in zweifarbigem Trucolor zwischen türkisem Himmel und orangenem Höllenfeuer.
Marie Windsor, Queen of the Bs, Swamp Woman, No Man’s Woman… Unter ihren 170 Filmauftritten war die gefährliche Doll Brown in Hell Fire ihre Lieblingsrolle.


1860 wurde Annie Oakley geboren.
1870 starben Dickens und Dumas.

Das wäre eine Kurzfassung des Rückblicks auf die 1860er. Ein Rückblick, den ich im nächsten Kapitel wagen will.

Noch einmal Jules Verne, Fünf Wochen im Ballon (1863): Um Mitternacht flammte es plötzlich überall auf. Tausende von Tauben mit ölgetränkten, brennenden Schwanzfedern durchkreuzten die Luft, sie waren losgelassen worden, den Ballon in Brand zu stecken.

Sonntag, 12.04.2020

Bruce Baillie

* September 24, 1931
† April 10, 2020

Ein Rezept von Bruce Baillie, abgedruckt in: »Canyon Cinema News«, Nr. 5 (1969), S. 13–14.

Samstag, 11.04.2020

Langtexthinweis

* Für EBERHARD

– von Rainer Gansera –

Freitag, 10.04.2020

Retrospektive Klaus Wyborny

„… eine jener Gelegenheiten, denen man nicht zweimal begegnet.
Er fragte, ob ich etwas vorhätte in nächster Zeit.
In seinen grauen Augen glitzerte die Angst.
3 Tage später trafen wir Carla in Acapulco.“
Das offene Universum (1989 Klaus Wyborny)

Filmuseum München
ab heute auf vimeo

*

Termine

Friday 10.4. to Monday 13.4.
Das offene Universum (1989) & Laudatio auf Tilda Swinton (2013)

Monday 13.4. to Thursday 16.4.
Hommage an Ludwig van Beethoven (1978/2006) & Zagreb Lecture (2010)

Thursday 16.4. to Friday 17.4.
Im imaginären Museum – Studien zu Monet (2014)
Mit Farocki denken (2015) & Bücher (2010)

Friday 17.4. to Monday 20.4.
Studien zum Untergang des Abendlands/Studies for The Decay of the West (1979/2010)

Monday 20.4.
Histoire du Cinéma (1974/2003)

Tuesday 21.4. to Wednesday 22.4.
Histoire du Cinéma (1974/2003)
Die Geburt der Nation – The Birth of a Nation (1973)

Wednesday 22.4. to Friday 24.4.
Sulla (2001)

Friday 24.4. to Monday 27.4
Syntax
Am Häuserfilm
Bartleby + Bartleby (englisch)
Der Ort der Handlung (alle 1976)

Monday 27.4 to Wednesday 29.4.
2084 (1982)
William Parmagino (1969)
Lecture: Wie mache ich einen Science Fiction Film. Tag 1 und 2

Wednesday 29.4 to Friday 1.5.
The Ideal Extended version (1974/78)
Auf der Suche nach dem verlorenen Schlachtfeld
Okto TV Interview with K. W.

Friday 1.5 to Monday 4.5.
Syracuse (2012)
Talk Wien Syrakus

Monday 4.5. to Wednesday 6.5.
Eine andere Welt
Zwischen den Bildern Interview with K. W.

Wednesday 6.5. to Friday 8.5.
Dämonische Leinwand – Demonic Screen (1968/70)
Interview 2016 with K. W. (Philosophenturm)

Friday 8.5. to Monday 11.5.
Unerreichbar heimatlos – Unreachable Homeless (1977)
Pictures of the Lost World (1974)
Berlin Lecture: Physics and film

Monday 11.5 to Wednesday 13.5
Am Rand der Finsternis – At the Edge of Darkness (1985)
Gnade und Dinge – Grace, Things (1985)

Wednesday 13.5. to Friday 15.5.
Verlassen; Verloren; Einsam, Kalt – Abandoned; Lost; Lonely, Cold (1992)
Ein Abend in Hammamet (2002)

Friday 15.5. to Monday 18.5.
Aus dem Zeitalter des Übermuts – From the Age of Lightheartedness (1993)
A room of my own (2009)
Interview mit Klaus Wyborny (1994)

Monday 18.5. to Wednesday 20.5.
Das letzte Jahr – The Last Year (2009)
Percy McPhee Agent des Grauens [Komplett] (1970)

Wednesday 20.5. to Friday 22.5.
Early Forms of Filmic Narration – Italien im Mittelalter (2017)
Die Vorhallenmosaiken von San Marco (2017)

Friday 22.5. to Monday 25.5.
Das Licht der Welt – The Light of the World (2015)
Im Imaginären Museum II Westwerk (2012)

Catalogue raisoné of Wyborny’s film- and videoworks
http://wyborny.cinegraph.de/Wymac/ATYPEE/Vita/Materie/Catal.htm

Montag, 06.04.2020

Langtexthinweis

* Zum Tod von Eberhard Ludwig

– von Susanne Röckel –

Donnerstag, 20.02.2020

Kasseler Filmkollektiv / Jugendhof Dörnberg

Unter dem Titel „Worin unsere Stärke bestand“ fand im November 2019 beim 36. Kasseler Dokfest eine Werkschau des „Kasseler Filmkollektivs“ statt. Im Januar 2020 waren die Filme auch im Kino Arsenal in Berlin zu sehen.

Peter Hoffmann, der die auf umfassenden Recherchen basierende Retrospektive zusammen mit Tobias Hering kuratiert hat, tauschte zwischen 2015 und 2020 Emails mit Gerhard Büttenbender aus, der gemeinsam mit Adolf Winkelmann sowie Jutta und Gisela Schmidt den Kern des Kasseler Filmkollektivs bildete. Für die Entstehung der Gruppe und das „Andere Kino“ insgesamt wichtig war der „Jugendhof Dörnberg“, an dem Büttenbender zwischen 1965 und 1972 als „Dozent für kulturelle Bildung“ arbeitete.

Eine ausführliche Montage aus dem Email-Wechsel mit Büttenbender – featuring Werner Nekes und Dore O., Bitomsky, Farocki und andere Berliner, Christian Rittelmeyer, Bazon Brock, Alfred Hilsberg und viele mehr – hat Peter Hoffmann kompiliert. Sie ist hier zu lesen und hier als PDF mit Abbildungen zu finden.

Mit herzlichem Dank an Peter Hoffmann und Gerhard Büttenbender.

Montag, 10.02.2020

Paratexte der FILMKRITIK (15): Salz der Erde

Werbeeinleger des Verlags Das Arsenal – mutmaßlich aus einer der Filmkritik-Ausgaben des Jahres 1977. Laut Verlagswebsite wurde der Verlag im Juli 1977 gegründet.

Vollständiger Flyer hier

„Um Mißverständnisse zu vermeiden, weisen wir darauf hin, daß zwischen dem Verlag DAS ARSENAL und dem Kino Arsenal (der Freunde der Deutschen Kinemathek Berlin, dem westdeutschen Verleih von SALZ DER ERDE) kein Zusammenhang besteht.“

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Kürzlich erschienen:

The Sound of Fury. Hollywoods Schwarze Liste, hg. von Hannes Brühwiler, Berlin: Bertz + Fischer 2020.

Darin – neben anderem Lesenswertem – Stefan Ripplingers ausführliche Rekonstruktion der Geschichte von „Salt of the Earth“ unter dem Titel „Mit der Gewerkschaft, gegen die Gewerkschaft“ – gekürzter Vorabdruck hier in der „jungen welt“.

Donnerstag, 06.02.2020

Donnerstag, 30.01.2020

Filme der Fünfziger LV: Schule für Eheglück (1954)

„Die Mehrheit der Filme [bringen] heute in unwürdiger Weise Ehebruch und sittliche Verfehlungen auf die Leinwand“, erklärte 1954 Familienminister Wuermeling. Im deutschen Film beobachtete er Erotik, Frauenhelden und eine auf vornehm frisierte Prostitution. Tatsächlich gab es 1953 vermehrt Filme über Eheprobleme wie Ich und Du von Alfred Weidenmann, Muss man sich gleich scheiden lassen von Hans Schweikart oder Hochzeit auf Reisen von Paul Verhoeven. In der Regel fanden die zerstrittenen Paare in diesen Filmen wieder zusammen. Und alle hätten auch „Schule für Eheglück“ heißen können, aber es brauchte vielleicht doch einen Film mit genau diesem Titel, um die Sittlichkeit der westdeutschen Filmindustrie unter Beweis zu stellen. Die Scheidungsrate war übrigens in der Bundesrepublik seit 1950 kontinuierlich rückläufig; das ließ sich dem Film schlecht anlasten. Und wie stand es mit dem Verfall von Sitte und Anstand? Den konnte man statistisch nicht erfassen, aber gefühlt wurde es natürlich immer schlimmer.
Der Film entstand nach einem Buch von Andre Maurois; Franz Geiger schrieb das Drehbuch (sein zweites von mehr als sechzig). Ein interessantes Interview mit Geiger führte Dr. Wolfgang Habermeyer für den Bayerischen Rundfunk. www.br.de › alpha-forum › franz-geiger-gespraech100~attachment.
Rainer Geis, ehedem Regieassistent bei Tourjanski, Karl Anton und Harald Braun führte Regie, aber der Produzent Toni Schelkopf erklärte sich selbst, reichlich ungewöhnlich, auch zum Regisseur.

Justus (Paul Hubschmid) Arbeitsplatz

Die Schule für Eheglück, mit Liselotte Pulver und Paul Hubschmid als Ehepaar, vermittelt unter anderem diese Lektionen:
1. Männer müssen ertragen, dass Frauen immer zu spät sind. Deswegen hat  Ehemann in spe Justus Schneemann (Paul Hubschmid) auch Zeit, dem Publikum seine Geschichte erzählen. Später im Film wird Liselotte Pulver ihrem Justus die Lektion nochmals erteilen.
2. Es gibt ein Recht des Mannes, sich Frauen wie auf einer Viehauktion anzusehen. „Die Beine sind tadellos“, lobt Tobby, Chefredakteur der Frauenzeitschrift Kristine (Wolf Albach-Retty). Als würden sie wie Jugendliche durch die Bretterwand eines Schwimmbades linsen, sehen die Männer durch die Vorhänge eines Schaufensters nach der Dame, die zu den Beinen gehört. Zur Belohnung fällt sie Justus beim Betreten des Geschäftes in die Arme.

Mariannes Arbeitsplatz

3. Frauen sind eher praktisch, Männer sinnlich orientiert. Beim ersten Rendezvous in einem Tanzcafe (Gisela Griffel singt „Diesmal muss es Liebe sein“) holt Justus einen Wohnungsplan heraus und richtet als erstes das Schlafzimmer mit kleinen Klötzchen ein. Marianne fragt: „Und wo ist die Küche“?

Marianne hat übrigens die Meisterschule abgeschlossen, möchte gern eigene Entwürfe machen und unabhängig sein. Sie hat keine Eltern, keine Geschwister, nur eine Freundin. Justus dagegen hat eine Sekretärin, einen Arbeitsplatz, einen Freund/Chef, alte Freundinnen und vor allem Ambitionen. Er will nicht länger Kristine sein, die Kummertante der Frauenzeitschrift, sondern ein ernsthafter Schriftsteller werden. Zunächst aber schreibt er den Bestseller „Die praktische Hausfrau“, kauft sich vom Vorschuss ein Opel-Kabrio, hält Vorträge zum Eheglück und plant auch gleich ein Buch zum Thema. Dann aber begegnet er Regina (Cornell Borchers), lässt Frau und Kind und auch die Anstellung bei der Illustrierten sausen und arbeitet nur an seinem Roman. Doch
4. Als Sachbuchautor und Illustrierten-Heini kann man schnell und ohne Mühe viel Geld verdienen. Kunst dagegen ist mühsam und bringt wenig ein.

Liselotte Pulver im Großmutter-Chic

Justus trennt sich auch von Regina, gibt das Romanprojekt auf und wird wieder zur Kummertante Kristine. Aber so ganz allein verschlampen Justus und seine Wohnung. Jetzt nimmt Marianne die Sache in die Hand, kehrt zu Justus zurück und räumt als erstes die Wohnung auf. Alles wird wieder gut.
Der Film hat das Problem, dass die Figuren in diesem Spiel nur vorgefasste Thesen illustrieren und die Schauspieler wie in einem Lehrfilm mit Spielhandlung agieren. Die Liebesgeschichte von Marianne und Justus wird als Tanzeinlage mit gezeichneten Kulissen dargestellt, aber die Choreographie ist bieder und wenig elegant und Paul Hubschmid ist nun mal kein Gene Kelly noch ein Fred Astaire. Er gibt sich, man sieht es deutlich, redlich Mühe; am besten gelingt ihm ein Schuhplattler oder ein Tanz, der in Hubschmids Interpretation wie ein Schuhplattler aussieht.
Wollte man, selbst in den 50er Jahren, im Kino die Alltags-Probleme einer Ehe sehen? So vom Katheder doziert sicher nicht; sittliche Verfehlungen waren doch wirklich attraktiver.

 

Keine DVD, aber bei youtube unter https://www.youtube.com/watch?v=LkfQF3WhXJ4

Präzisierungen und Ergänzungen zu filmportal:
Drehrbeiten: Begonnen Mitte Februar 1954 in Geiselgasteig, Halle 2; Regieassistent: Adolf Schlyßleder, Kostüme: Ursula Maes; Ton: F.W. Dustmann; Standfotos: Ferdinand Rotzinger


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