new filmkritik

Sonntag, 03.01.2021

Hurwitz

In der aktuellen konkret habe ich einen Artikel zum dreißigsten Todestag (am 18.) von Leo T. Hurwitz. Zu spät (nämlich vor einer Viertelstunde) habe ich gesehen, dass es dessen Filme neuerdings alle online gibt, auf dieser wunderbaren Seite. Nun sind die Winterferien ja schon fast vorbei, aber Zeit für Hurwitz sollte immer sein. Noch ein gutes neues Jahr in die Runde, friends and foes alike.

Mittwoch, 23.12.2020

Auge und Umkreis (IX)


Johnny Reno (1966 R.G. Springsteen)

„Sun‘s going down. That‘ll be a long night,“ sagt einer, der aus dem Gefängnisfenster auf diesen Abendhimmel schaut.

Wir waren im Sommer nach Deauville geraten. Der neue Film von Claude Lelouch hatte uns dort hin getragen. Vom Balkon konnten wir nachts die Fischerbote aufs Meer fahren sehen, und nah bei den Hafenlichtern von Trouville war das Casino mit seiner Leuchtschrift.


Charade (1963 Stanley Donen)

In Le Havre, im „Studio“, in einer Nachmittagsvorstellung sahen wir dann wieder einmal Charade, dieses dunkle rätselhafte Filmgedicht. Über die Ungewissheit, die dauernde. Und über die Kurzfristigkeit – und ihren Triumph.
„For a few minutes they were mine. That is enough.“


Mädchen am Kreuz (1929 Jacob und Luise Fleck)

Gerne sähe ich mehr von der Regisseurin Luise Fleck und ihrer Produzentin Liddy Hegewald. Die „Hegewaldfime“ waren Exploitation-Kino, kostengünstige „Problemfilme“, von der Kritik verspottet. Aber was die Filme erfolgreich machte, wirkt heute noch. Ein klarer Blick auf die Schräglage, die das Leben früher oder später aus dem Gleis geraten lässt. Die Unwucht der Ordnung.


Maman Colibri (1929 Julien Duvivier)

Der Vater kommt zur Tür herein, während Mutter und Sohn miteinander tanzen. Als würden sie von ihm erwischt, so rahmt der Spiegel sie als Paar und ihn allein.

Die Einsamkeit ist überall im unerschöpflich reichen Werk von Duvivier. Genau betrachtet war auch Don Camillo einsam.


Darling, How Could You! (1951 Mitchell Leisen)

Eine Komödie des Peter-Pan-Autors J.M. Barrie, in dessen Welt sich die Lebenszeit um ein Schwerkraftzentrum krümmt: um die Eltern herum. Da ist ein Ort – „where we never grow old,“ sang Aretha Franklin (in Sydney Pollacks Doku) in Griffweite des Vaters, schrie sie gleichsam aus dem Abgrund der Familie heraus.


A Walk In The Spring Rain (1970 Guy Green)

Ich sah wieder Guy Greens Light in the Piazza und war wieder begeistert, beglückt. Wie damals in Wien.


St.Ives (1975 J. Lee Thompson)

In den 1860er Jahren wohnten Arthur Schnitzlers Großeltern im Carltheatergebäude. Die Operetten Offenbachs und der Komiker Knaack befeuerten die Nachahmungsfreude des kleinen Jungen. Also, erinnert er sich, „unternahm ich es einmal, mit dem undisziplinierten Ehrgeiz meiner sechs oder sieben Jahre, das Couplet ‘Als ich noch Prinz war von Arkadien‘ ganz in Knaack‘scher Manier, mit einem Kehrbesen manövrierend, im Beisein einer mir völlig unbekannten Dame vorzutragen, die eben bei meiner Mama zu Besuch anwesend war. Noch heute ist mir der ungerührte, kalte, geradezu vernichtende Blick gegenwärtig, mit dem mich die Dame nach geendeter Produktion von oben herab maß.“


Orphée (1950 Jean Cocteau)

„Was ich im Theater immer am schönsten fand, in meiner Kindheit und auch heute noch, das war der Kronleuchter – ein schöner, leuchtender, kristallener, reichverzierter, kreisförmiger und regelmäßiger Gegenstand.“ (Baudelaire: „Mein entblößtes Herz“)


Frédérique Franchini in Noviciat (1965 Noël Burch)

Eine Komödie frei nach Sacher-Masoch. Ein Mann, der nur schauen will, wird im Nahkampf zum Gefangenen, dann zum Diener und zuletzt zur Ware, wechselt gegen seinen Wunsch seine Besitzerin.


Gloria Swanson in Stage Struck (1925 Allan Dwan)

Gloria Swanson wechselte unbeschwert von ernsten zu komischen Rollen, hin und her, wie es ihr gefiel.
Curtis Harrington, mit dem sie beim Dreh von Killer Bees (1974) Freundschaft schloss, betonte (in: Video Watchdog, Nov/Dez 1992), dass Norma Desmond in Sunset Boulevard und Gloria Swanson von einander so verschieden waren, wie man nur sein kann.


Baron Eugen Ransonnet-Villez, erster Unterwasserzeichner, Selbstportrait mit Taucherglocke, 1867


Journey To The Center Of The Earth (1959 Henry Levin)

In einem ungewöhnlich schweren Brocken Lava ist ein Senkblei verborgen. Darauf ist etwas geschrieben, mit Blut.

Agatha Christie mochte Jules Vernes Bücher. Besonders Die Reise zum Mittelpunkt der Erde. „Mir gefiel der Gegensatz zwischen dem besonnenen Neffen und dem übertrieben selbstsicheren Onkel.”

„Als Kind schon spürte ich in meinem Herzen zwei sich widerstreitende Empfindungen: Lebensangst und Lebensüberschwang. Dies entspricht durchaus dem Charakter eines nervösen Faulenzers.” (Baudelaire: „Mein entblößtes Herz“)


The Unholy Wife (1957 John Farrow)

Der Junge wird gefragt, ob er „manchmal einsam“ sei. „Immer!“ antwortet er zornig. Darauf bekommt er, zur Beschwichtigung, eine Muschel geschenkt, aus der jederzeit die See zu ihm spräche.
Wir kennen die simple Erklärung: Man höre das eigene Blut rauschen. Nein, wir sind der Ozean, sagt John Cage.


Saraband For Dead Lovers (1948 Basil Dearden)

„Vertrauen wir dreist allen Zeugnissen der Sinne. Da ist nichts Falsches vom Echten zu sondern. (…) Wenn bei erregtem Blute oder äußerlichem Drucke das Auge zuckende Blitze oder leuchtende Kreise sieht, sind das sowenig Irrtümer, als wenn es irgendandere Erscheinungen der Außenwelt wahrnimmt. (…) Die Welt des Geistes oder der Wissenschaft findet in der Sinnlichkeit ihr Material, ihre Voraussetzung, ihre Begründung, ihren Anfang, ihre Grenze.“(Josef Dietzgen: „Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit. Dargestellt von einem Handarbeiter“, 1869)


The Unvisible Man Returns (1940 Joe May)

Was glaubt der Unsichtbare, im Spiegel sehen zu können?
Von seiner Liebsten wird er dabei erwischt, wie er sich entpackt. Ihr Entsetzen ist das vor der Hohlheit, vor dem fehlenden Inneren, ein Schrecken, den der Film mit vorzüglichen Tricks zelebriert.


3 Women (1977 Robert Altman)

„Manchmal stand sie mitten in der Nacht auf, um sich Notizen zu machen,“
(Anne Hart: „Live and Times of Miss Jane Marple“)


Maskerade (1934 Willi Forst)

Sie kommt nachts besoffen heim, singt im Treppenhaus, weckt den Hausmeister, und erzählt ihm, sie habe eine Eroberung gemacht. Paula Wessely schwankt nur ganz sanft, artikuliert dabei feinstens. Und Hans Moser, aus dem Schlaf gerissen, total verhuscht, begreift nichts. Seine Nüchternheit ist hilfloser als ihre süße Betrunkenheit. Das gibt ein hübsches Bild dafür, wie klar man sieht, wenn man betrunken ist, denn ohne die Wirkung des Schaumweins glaubt sie die Wahrheit nicht, dass ein schöner Mann sie lieben könnte.


Moonstruck (1987 Norman Jewison)

„The past and the future are a joke for me now. I see that they are nothing. I see that they ain‘t here. The only thing that‘s here is you… and me“, sagt Nicolas Cage zu Cher, in Moonstruck. Und: „Love don‘t make things nice, it ruins everything. It breaks your heart. It makes things a mess. We aren‘t here to make things perfect. Snowflakes are perfect, stars are perfect, not us. We are here to ruin ourselves. And break our hearts. And love the wrong people. And die!“


Romanze in Moll (1943 Helmut Käutner)

„Die größte Torheit ist, anzunehmen, dass wir auf festem Grund gehen.“ (E.M. Cioran: Ansätze zum Taumel)


Jigsaw (1963 Val Guest)

Der Spiegel als Werkzeug der Selbstverachtung. Weil das eine Rückblende ist, ist ihr Tod schon gewiss, ihre Leiche liegt schon zerstückelt im Keller.

Jean Cocteau: „Ich verrate Ihnen das Geheimnis aller Geheimnisse. Spiegel sind die Türen, durch die der Tod kommt und geht. Wenn Sie sich selbst ihr Leben lang im Spiegel anschauen, sehen sie den Tod bei der Arbeit. Wie Bienen in einer gläsernen Bienenwabe.“


Games (1968 Curtis Harrington)

„Die Nautilus war in eine Strömung von phosphoreszierenden Infusorien geraten, sie schwamm inmitten von Myriaden leuchtender Tierchen, deren glänzender Funke noch stärker aufglühte, wenn sie mit dem Rumpf der Nautilus in Berührung kamen. Dieser leuchtende Strom blendete zuerst wie Bleiguss im Schmelzofen oder weißglühendes Metall beim Abstich. Aber nach und nach konnte ich in dieser Lichtquelle noch verschiedene Helligkeiten und Schattenbildungen unterscheiden, die sich unaufhörlich gegeneinander verschoben: lebendiges Licht.“ (Jules Verne: 20.000 Meilen unter den Meeren, 1869-1870)

Sie ist „die verschwindende Meerjungfrau“, Entfesselungskünstlerin auf der kleinen Kirmesbühne einer Hafenstadt. Vor dem Spiegel verwandelt sich die falsche Prinzessin in die Fischerstochter, die sie wirklich ist.


Simone Simon in Temptation Harbor (1947 Lance Comfort)

Lance Comfort hat dunkle und finstere und grimmige und rabenschwarze Filme gemacht. Geschichten, in denen alles schief läuft. Hatter’s Castle (1942), Great Day (1945), Bedelia (1946), Temptation Harbour (1947), Daughter of Darkness (1948), Silent Dust (1949). Ein halbes Dutzend grandioser Filme, alle in den 40ern. Und danach noch: Tomorrow at Ten (1962).


Night Tide (1961 Curtis Harrington)

„In meiner frühesten Jugend erschienen mir alle Schatten und Lichter auf Bildern als unmotivierte Flecke. Als ich in früher Jugend zu zeichnen begann, hielt ich das Schattieren für eine bloße Manier. Ich porträtierte einmal den Herrn Pfarrer, einen Freund des Hauses, und schraffierte nicht aus Bedürfnis, sondern weil ich es an anderen Bildern so gesehen hatte, die Hälfte seines Gesichts ganz schwarz. Darob hatte ich eine harte Kritik von meiner Mutter zu bestehen, und mein tief verletzter Künstlerstolz ist wohl der Grund, dass mir diese Tatsachen so im Gedächtnis geblieben sind.“
(Ernst Mach: „Wozu hat der Mensch zwei Augen“, 1867)


Vynález zkázy (Die Erfindung des Verderbens 1957 Karel Zeman)

An Projektilen erforschte Ernst Mach den Überschallknall. Er tat dies mit Hilfe von Fotografien.
Für Egon Friedell war Mach “der klassische Philosoph des Impressionismus”. Sein Name ist vielfach verewigt, auch in der Zahl zur Benennung von Fluggeschwindigkeiten, die allerdings seit der Epoche der (abstürzenden) Starfighter hörbar aus der Mode gekommen sind.

„Ein Düsenflugzeug durchbrach einmal die Schallmauer und zerstörte gleich zwei Scheiben von Miss Marples Gewächshaus.“ (Anne Hart: „The Life and Times of Miss Jane Marple“)


Wing and a Prayer (1944 Henry Hathaway)

„Boy, I got to knock that moon right out of the sky.“
„Leave it alone. I‘ll need that moon, when I get home.“

In Jules Vernes “Von der Erde zum Mond” lobt ein Ballistiker die Projektile: “In meinen Augen nämlich ist die Kugel die hervorragende Offenbarung menschlicher Macht. Gott hat das All, die Gestirne und Planeten geschaffen: was sind sie denn anderes als Geschosse. Gott gehört die Geschwindigkeit der Elektrizität, des Lichts, der Sterne und Kometen, sein ist die Geschwindigkeit des Schalls und der Winde. Dem Menschen aber gehört die Geschwindigkeit der Kugel.”


The Sound Barrier (1952 David Lean)

Ernst Mach (1838 – 1916) und Jules Verne (1828 – 1905) waren Zeitgenossen von Josef Dietzgen (1828 – 1888), Sir William Crookes (1834 – 1919) und Sacher-Masoch (1836 – 1895). Dass auch eine Peitsche den Überschallknall erzeugt, war mir gar nicht klar. Wie so manches.


The Net (1953 Anthony Asquith)

Werfen wir mal einen Blick auf die 60er Jahre des vorletzten Jahrhunderts.
1860: Die Erfindung der Rotationsschnellpresse; Wilkie Collins: „Die Frau in Weiß“.
1861: der amerikanische Bürgerkrieg; William H. Mumler erfindet die Geisterfotografie; Reis: das Telefon; Dickens: „Große Erwartungen“,
1862: Eastman Johnson: „A Ride for Liberty“; Victor Hugo: „Die Elenden“.
1863: Lincoln: „The Gettysburg Adress“; Manet: „Das Frühstück im Grünen“; die Farbenfabrik Bayer in Barmen.
1864: Jacques Offenbach: Barcarole; Jules Verne: „Reise zum Mittelpunkt der Erde“; Richard Dadd „The Fairy Feller’s Master-Stroke“.
1865: Lewis Carroll: „Alice im Wunderland“; Wilhelm Busch: „Max und Moritz“; Wagner: „Liebestod“.


Busch: Max und Moritz

Erfunden wurde also damals neben vielem auch der Detektivroman. Fotografiert wurden Geister, gemalt das Licht.


During One Night (1960 Sidney J. Furie)

Schaut man von oben auf die Wolken und sieht den Schatten des Flugzeugs, in dem man sitzt, dann kann man um den Flugzeugschatten herum einen kleinen Regenbogen entdecken, vollständig kreisrund. Das ist die Glorie.


During One Night (1960 Sidney J. Furie)

Ein Kriegsfilm, der den ersten Sex eines amerikanischen Piloten und einer englischen Kellnerin zum bedeutendsten Ereignis macht.

“Eine Katastrophe lässt sich nicht denken, ohne dass man gleichzeitig an ein höchst unbedeutendes Ereignis denkt.”
(Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang)


Harun Farocki zeichnet hier ein Kriegsszenario plus Dame mit Perlenkette. Bei der Gelegenheit erinnert er sich, dass es Storyboard-Vordrucke beim WDR gab, mit hässlichen runden Ecken.


Wesley Willis: Artist of the Streets (1988 Carl Hart)

Wesley Willis war ein virtuoser Meister im Wechsel zwischen Linealzeichnung und beherzter Schraffur. Er zeichnete die Häuser, Autos und Straßen seiner Stadt mit Kugelschreiber auf große Bögen und verkaufte diese an Passanten.
Auch die tristesten Gegenden von Chicago vermitteln dem, der vor Augen hat, wie Willis sie gemalt hat, die Halluzination lebendiger Schönheit.


Frederic Edwin Church: Aurora Borealis, 1865

Der amerikanische Maler Frederic Edwin Church (1826 – 1900) zeigte seine monumentalen Landschaftsgemälde gegen Eintritt, in verdunkelten Sälen. Es gab Stuhlreihen. Ferngläser wurden verteilt. Dem Publikum fiel es 1865 nicht schwer, „Aurora Borealis”, ein Panorama mit Expeditionsschiff, Eismeer und Polarlicht, zu interpretieren: als Parteinahme im Bürgerkrieg.

Im Wallraf-Richartz-Museum in Köln hing im vorigen Jahr eine Landschaft von Church neben einer Orchidee von Martin Johnson Heade (1819 – 1904). 1865 beginnt dieser seine „Gremlins in the Studio“ zu malen.
Im gleichen Jahr malt Gustave Courbet den Strand von Trouville.


Heisser Sand (2020 Bruno Sukrow) ****

„Wenn wir uns in einem Boot auf dem Fluss treiben lassen, wie lange brauchen wir dann ans Meer?“ fragt die Heldin in Bruno Sukrows neuestem Kunststück Heisser Sand. Sie will in ein anderes Land. „Einfach nur raus aus meinem Elternhaus.“


Hibernatus (1969 Eduard Molinaro)

Ein im Polareis eingefrorener junger Mann wird nach 65 Jahren gefunden und aufgetaut. Er lebt, zur Freude der Wissenschaft, und er hält seine längst erwachsene Enkeltochter für seine Mutter. Ihr (Claude Gensac) gefällt‘s, bis ihrem Mann (Louis de Funes) der Kragen platzt, er spricht aufgeregt von Überschall- und Mondflug, und verfällt dabei in Raserei.

Setzen wir von dort aus unseren kleinen Rückblick auf die 1860er Jahre fort.

1866: Louise Otto-Peters „Das Recht der Frau auf Erwerb“; das Telegraphenkabel England-USA; Courbet malt den „Ursprung der Welt“.
1867: Strauss: “An der schönen blauen Donau”, Jules Verne: „Die Kinder des Kapitäns Grant“,
Dostojewski: „Schuld und Sühne“, Marx: „Das Kapital“, Nobel: Dynamit, und in Luckenwalde wird der Pappteller erfunden.


Eugen Ransonnet-Villez: „Gruppe von Alcyonien“, 1867

1868: Collins: „Der Monddiamant“.
1869: Flaubert: „Die Erziehung des Herzens“, Tolstoi: „Krieg und Frieden“, Sacher-Masoch: „Venus im Pelz“, Eröffnung des Suezkanals, Union Pacific trifft Central Pacific, Fahrrad mit Hinterradantrieb, Gründung der SPD.


The China Syndrome (1979 James Bridges)

„Was war das damals für eine anständige und tapfere Partei! Was für eine weitsichtige auch!“ (Sebastian Haffner meint den Protest der Sozialdemokraten im Norddeutschen Reichstag 1870 gegen die Annektion Elsaß-Lothringens, und dass sie stattdessen eine Volksabstimmung in Elsaß und Lothringen verlangten.)

Die Tänze damals waren Walzer, Galopp und Cancan, „der Wahnsinn der Beine“ (Rigolboche). Es ist das Zeitalter von Jacques Offenbach.

Siegfried Kracauer spricht (in: “Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit”) von einem dionysischen Taumel. “Geweckt wird dieser Rausch, der keinem vergangenen gleicht, durch die Geburt der Demokratie, Paris bringt ihn hervor, das große kosmopolitische Paris, in dem sich bereits die Umrisse der kommenden Gesellschaft enthüllen.”
Die Frauen zeigen Dessous und tiefste Dekolletés. Die Männer tragen Voll- und Knebelbärte, dazu neuartige Hüte, sogenannte „Melonen“.


Quatermass 2 (1957 Val Guest)

Klaus Wyborny: „Wenn in unseren Zivilisationen Großbauten entstehen, deren Grundform nicht das Rechteck ist, heißt das häufig, daß hier etwas umhüllt wird, das den Menschen physisch gefährlich ist, und dessen Verhalten sich nicht einmal approximativ zuverlässig vorhersehen läßt. Das gilt für Gasomenter und Kernreaktoren, für Beschleuniger und Fußballstadien (in denen die Angst vor der physischen Energie der Zuschauer mit der Rundform zu beschwichtigen versucht wird).“
(„Neues vom Rechteck“, 1979/80)


The Naked Gun (1988 David Zucker)

„Everywhere I look, something reminds me of her.”


Little Big Horn (1951 Charles Marquis Warren)

Marie Windsor, von Lloyd Bridges betrachtet

Wenn im Kino kleine Portraits zu sehen sind, deren Rahmung nicht rechteckig ist, heißt das häufig, dass hier eine Erinnerung eingefasst wird, die dem Helden physisch gefährlich werden kann, und deren Auswirkungen sich nicht vorhersehen lassen. Das gilt für Amulette und Taschenuhrdeckel, für Bilder von Frauen und Kindern, insbesondere von Müttern, Töchtern, Ehefrauen (deren Tod / Vergewaltigung / Untreue aus dem Helden einen Ruhelosen macht).


Dreamscape (1984 Joseph Ruben)

Die oben erwähnte Glorie (um den Flugzeugschatten herum) ist verwandt mit einem anderen optischen Effekt. Einem Schockeffekt, der Bergsteigern begegnet. Schon Goethe hat sich erschreckt vor seinem eigenen Brockengespenst


The Good Bad Man (1916 Allan Dwan)

Der Outlaw zeigt der Liebsten das Bild seiner Mutter. Er meint, er tauge nichts. Weil er seinen Vater nicht kennt.

„Der Vaterlose fühlt sich immer im Blickpunkt, sowohl im Guten wie im Bösen.“ (Peter Handke: „Vor der Baumschattenwand nachts“)

Der Wunsch der Mutter war: Der Sohn solle nicht in Gefahr geraten bei dem Versuch, den Vater zu rächen. Doch sie macht ihn zum Boten ihrer Wünsche. Doublebind en miniature.

Ein Rachedrama, aber trotzdem (weil von Dwan): ein springlebendiger Film, locker aufgebaut, nur lose gestapelt, aus beweglichen Dreiecken. Mittendrin nicht greifbar, just „Passin‘ Through“, Ödipus Fairbanks.


The Good Bad Man (1916 Allan Dwan)

Das Amulett hat die tödliche Kugel aufgefangen.


They Died With Their Boots On (1941 Raoul Walsh)

In The Adventures of Errol Flynn (2005 David Heeley) erzählt Olivia de Havilland von den Dreharbeiten zu The Adventures of Robin Hood (1939 Michael Curtiz). Von ihrem Vergnügen an den sechs, sieben, acht mal wiederholten Takes einer großen Kuss-Szene. Die vielen, vielen Küsse brachten Errol Flynn in Bedrängnis. „He had – if I may say so – a little trouble with his tights.“


King Of The Khyber Rifles (1953 Henry King)

Die Liebe vor dem Hintergrund nicht endender Kriege. In vielen Abenteuerfilmen und Western der 50er Jahre ist „Rassenmischung“ eine große, letzte Hoffnung.

Eigentlich gibt es „Rassen“ überhaupt nur in der Haus- und Nutztierzucht.


Showdown at Abilene (1956 Charles Haas)

Der deutsche Titel: Schüsse peitschen durch die Nacht

“Es versetzt in Erstaunen, dass man selbst als Cinephiler beim Betrachten dieser vielen wieder zugänglichen Filme erkennen muss, dass der gute alte amerikanische Western tatsächlich ein terrain vague ist, eine geradezu unbekannte filmische Gattung.” (Hans Schifferle)

“Das Erstaunliche ist, dass man, wenn man weiß, was die Worte wert sind, sich bemüht, was auch immer zu formulieren, und dass es einem gelingt. Es bedarf dazu freilich einer übernatürlichen Unverfrorenheit.” (E.M. Cioran)

Ich denke, ein Bild könnte die Arbeit mit den Worten überflüssig machen. Das ist natürlich Faulheit.


The Bravados (1958 Henry King)

Guy Endore stellte fest, dass es sicherlich kein bloßer Zufall ist, wenn wir das Wort „Augapfel“ auch gebrauchen, um das Kostbarste zu bezeichnen, das wir besitzen. Im Chinesischen bedeutet das Ideogramm für „Pupille“- „t’ung“ – zugleich „Baby“ oder „Puppe“.


Damals (1943 Rolf Hansen)

Im Griechischen bedeutet das Wort „kore“, das vielleicht in unserem „Kern“ fortlebt, sowohl „Augapfel“ wie „kleines Mädchen“. Warum? Mag es nicht darin liegen, daß ein Kind in dem kleinen Rundspiegel des müttelichen Auges zuerst zur Schule geht, zuerst die Antwort abliest auf seine erste und schrecklichste Frage: Wer bin ich?


Gražuolė (1969 Arūnas Žebriūnas)

Und die tröstliche Antwort, die aus diesem Spiegel widerstrahlt, lautet: „Du bist mein Augapfel. Du bist Mamas kleiner Liebling.“
Warum bedeutet im Hebräischen das Wort für „Pupille“ auch „kleiner Mensch“? Warum haben wir im Lateinischen das Wort pupilla, von dem sowohl das Wort „Pupille“ wie das englische „pupil“ = „Schüler“, „kleiner Gelehrter“ abgeleitet sind?
(Guy Endore, in: „Umweg bei Nacht“, 1958)


Harvey (1950 Henry Koster)

Ende

Sonntag, 20.12.2020


Freitag, 18.12.2020

Filme der Fünfziger LVII: Illusion in Moll (1952) R: Rudolf Jugert

„Unser Hotel“ kommentiert die Off-Stimme von Paul Alsbacher (Hardy Krüger) die ersten Bilder eines großbürgerlichen Anwesens; als werde hier ein Familienalbum aufgeschlagen. „Vater“ (Albrecht Schoenhals) wird im Rollstuhl im Garten herumgefahren. Der Garten ist eher ein Park mit angeschlossenen Tennisplätzen, Anlegestegen für Motorboote (man fährt auch Wasserski oder segelt zur Entspannung) und einem Schwimmbad am See. „Unser Hotel“ ist auch die Formulierung des Vaters an den Sohn, sein Vermächtnis „klar, sachlich, schonungslos: Lass es nicht in falsche Hände geraten.“
Herr Gidou (Maurice Teynac) ist Hotelgast, Sänger, Orchesterleiter und vor allem ein Herzensbrecher. Er hat es zunächst auf Pauls kleine Schwester Dorothy (Gaby Fehling) abgesehen, flirtet aber auch ungehemmt mit Pauls Freundin Lydia Bauer (Hildegard Knef), mit der Hotelchefin Maria Alsbacher (Sybille Schmitz) und nebenbei auch mit Vera (Nadja Tiller), einem abenteuerlustigen Flittchen.
Der Vater ist gestorben, Gidou schmachtet die Mutter mit dem Lied „Du bist wunderbar“ an, Lydia singt für Paul „Illusionen“, mit Strophen geistreich scheinender, aber ziemlich sinnloser Wortreihungen. „Illusionen, Illusionen, Sie sind das, was uns am Leben hält/ Illusionen sich belohnen/Ohne Zweck und ohne Sinn!/ Nur nicht denken/sich verschenken!“ Lydia ist Modezeichnerin, hat eine etwas rauhe, von Lebenserfahrung gefärbte Stimme und sagt gelegentlich den in dieser Gesellschaft erstaunlichen Satz: „Ich muss zur Arbeit“. Lydia ist ursprünglich ein lebenspraktischer Charakter; gegenüber den Avancen des Herrn Gidou verhält sie sich wie auch sonst im Leben klar, sachlich und schonungslos. Das macht sie für einen filmischen Schmachtfetzen eher uninteressant; der Autor Fritz Rotter dichtet ihr eine unheilbare Krebserkrankung an und wendet ihre Jugend zu einem bittersüßen Dramolett aus Molltönchen.

Der Geschichte geht es um die Tugend des Verzichts, die reiche Menschen immer mit tragischem Edelmut umgibt.. Ganz und gar zufälligerweise sind es hier nur die Frauen, die Verzicht, Enttäuschung und Entbehren als moralische Lektion auf sich nehmen. Die kleine Schwester Dorothy muss auf die Liebe des Gigolo verzichten, Lydia bewahrt Mutter Maria mit einem selbstlosen erotischen Trick vor dem Vollzug der Hochzeitsnacht und entlarvt Gidou als „niederträchtigen öligen Lump“ (Paul). Was für eine Zukunft hat die krebskranke Lydia, nun, da sie das Hotel nicht in unrechte Hände hat kommen lassen? Sie will sich vor einen LKW werfen, ins Wasser gehen – da kommt Paul und hilft ihr wieder ins Leben. Aus dem lockigen Männlein ist ein Mann geworden, auf ihn können die Frauen mit ihren zerschmetterten Träumen jetzt richtig stolz sein.

Mit großem Eifer verriss die Kritik den Film und die schwache Geschichte, unterschlug dabei aber die Brillanz von Inszenierung und Kameraarbeit. Tordurchgänge, Fensterausblicke, Spiegelansichten – auch Kameraperspektiven, in denen die Objekte zum handlungstreibenden Element werden – wenn man sich erstmal geöst hat vom Zwang, der

Hardy krüger, Hildegard Knef und Sybille Schmitz

Handlung zu folgen, entdeckt man die Lust, mit der sich Jugert und Vich der visuellen Inszenierung gewidmet haben. Vielleicht war es auch ihre ganz eigene Antwort auf das von Architekt Ludwig Reiber eingebrachte plüschige Interieur des Hotels und die von ihm sinnlos vollgestopfte Moderne in Lydias Mädchenzimmer.
Der Film hatte kein Glück beim Publikum und das unglückliche Skript brachte noch ein eigenes Unheil mit sich. Fritz Rotter hatte denselben Stoff schon Jahre zuvor an eine kleine amerikanische Firma verkauft, die daraus unter der Regie von Edgar Ulmer den Film „Strange Illusion“ (USA 1945) produziert hatte. Ulmer wollte Geld und stellte Pommer eine Frist von zehn Tagen, um sich mit ihm außergerichtlich zu einigen. Pommer dachte nicht daran, er wusste, dass Ulmer keinerlei Rechte an „Strange Illusion“ hatte.

 

Keine DVD, kein Video.
Bei Ulmers „Strange Illusion“ (USA 1945) ist das copyright abgelaufen. Der Film ist auf YouTube von verschiedenen Anbietern eingestellt; es gibt ihn auch als DVD.

Ergänzungen zu filmportal:
Standfotos: Paul Filipp.
Dreharbeiten: Begin  der Aussenaufnahmen in  München  15. September 1952 – Beginn Aussenaufnahmen in Velden am Wörthersee am 24. September 1952 – Beginn der Atelieraufnahmen in München 10. Oktober 1952 – Ende der Dreharbeiten 7. November 19t52.
Mit Albrecht Schoenhals (Werner Alsbacher), Viktor Afritsch (Ein Portier), Else Wolf (Klara) Rudi Risavy (Ein Geiger)

 

Samstag, 12.12.2020


Freitag, 04.12.2020

38/100

Die Geschichte von der Ziege, die in fünfzig Jahren auf den Ruinen Hollywoods herumstreunt, einen herumliegenden Filmschnipsel isst, und – von einer anderen Ziege danach gefragt, ob es schmecke – sagt: „Das Buch war besser“.

Donnerstag, 03.12.2020

Godard 90

Entstanden vor zehn Jahren, damals wurde Godard 80:

GODARDLOOP from Entuziazm on Vimeo.

Concept, Realisation: Michael Baute
Editing: Bettina Blickwede
Year of Production: 2010
Colour & Black/White, 27 Minutes

Bei vimeo auch ein Text von Michael Baute über die Arbeit mit Godards Filmen.

Dienstag, 24.11.2020

Dienstag, 17.11.2020

Langtexthinweis

Eine Revue zu Harry Tomiceks Essay-Sammlung „Meine Reisen durch den Film 1895-2020“, von Manfred Bauschulte

Freitag, 13.11.2020


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