new filmkritik

Samstag, 24.07.2010

Die Welt dreht sich immer weiter

Es gibt in alten Filmen gute Bilder für den Wirbel und den Eindruck, den Worte machen können. Es gibt die Rotation der Druckplatten und den Aufprall der Zeitungsbündel auf dem Bürgersteig. Aber egal wie groß die Mühe war, alle Zeitungen im Film sind Zeitungen von gestern.


Life Begins at 40 – 1935 – George E. Marshall

Henry Miller, mit 78: „Sie wissen, meine Jugend hat spät begonnen. Ich glaube, erst nach fünfundvierzig habe ich mich wirklich jung gefühlt. (…) Während ich mir, als ich jung war, wie ein alter Mann vorkam. Und das geht wohl vielen jungen Menschen eben so.“
– Ja, ja, mir auch, mir auch.


House of Horrors – 1946 – Jean Yarbrough

Allan Dwan, mit 93: „That’s the terrible thing about getting older – you never feel old, you only look old. On the inside, I’m still the same young fellow I remember. Of course, I pass the mirror and scare myself to death.“


Superman – 1948 – Spencer Gordon Bennet

Hey! I’ve got nothing to do today but smile.
(Paul Simon: The Only Living Boy in New York)


Creature With the Atom Brain – 1955 – Edward L. Cahn

Auf die Frage, warum er denn keine Zeitung lese, erwidert Dr. Hasenbein (Helge Schneider, 1997), darin stünde ja doch „jeden Tag was anderes“. Ist das Leben zu kurz um Zeitung zu lesen? Heute jedenfalls wird mal die Süddeutsche gekauft, denn die ganze Seite 3 gehört Klaus Lemke.


The Amazing Colossal Man – 1957 – Bert I. Gordon

Man wird immer empfindlicher. Und täglich kommen neue Sorgen hinzu. Was ist, wenn Sky Dumont die Atombombe hat? Und was ist, wenn das nächste Cargo-Heft zur Gänze Marty Feldman gewidmet ist? Unvorstellbar? Wer kann es mit Sicherheit sagen?


Rymdinvasion i Lappland (Invasion of the Animal People) – 1959 – Virgil W. Vogel

Einem jungen zeigt ein alter Mann seinen wertvollsten Besitz. Das ist der Anfang der französischen Fernsehserie Belphegor (1965). In unzähligen Blechdosen hat der Sammler Zeitungsausschnitte einkonserviert – für den Fall des Atomkriegs. Sein Sammelgebiet sind ungeklärte Phänomene. An Zufälle glaubt er nicht, denn: stellt man sich eine Insel vor und denkt sich das Meer weg, dann ist die Insel lediglich ein Berg, und alles ist mit allem verbunden.


Belphegor – 1965 – Claude Barma

Ich habe ein besonderes Faible für Filme aus den Jahren 1964 und 1965. Marnie und Gertrud und Lilith. The Naked Kiss und Strait Jacket. Hush, Hush, Sweet Charlotte und The Night Walker. The Collector, The Nanny und Bunny Lake is Missing. My Fair Lady, Mary Poppins und Lujuria Tropical. Parpluies de Cherbourg und Man’s Favourite Sport. The Agony and the Extasy, The Flight of the Phoenix, A High Wind in Jamaica und Pampa Salvaje. Ein Arbeiterclub in Sheffield, Belphegor und Kleine Front.


Belphegor – 1965 – Claude Barma

Die Jahre 1964/65, die von Wissenschaftlern als besonders ruhige Jahre speziell hatten erforscht werden sollen, entpuppten sich als solarische Sturmjahre wie in Ruheperioden „seit 100 Jahren nicht mehr“ (so damals die Sonnenforscherin Dr. Dodson Prince auf einer „Konferenz der Internationalen Jahre der Ruhigen Sonne“). *

„Kirk war auf den Beifahrersitz gesunken, hatte sich den Hut über die Augen gezogen und schweigend seine Gedanken in dieser Eichhörnchentrommel der Rätselhaftigkeit kreisen lassen.“ (Dorothy L. Sayers: Busman’s Honeymoon, deutsch von Otto Bayer)

Freitag, 23.07.2010

Dienstag, 20.07.2010

MOON

Der Doppelgänger

Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen,
In diesem Hause wohnte mein Schatz;
Sie hat schon längst die Stadt verlassen,
Doch steht noch das Haus auf demselben Platz.

Da steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe
Und ringt die Hände vor Schmerzensgewalt;
Mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe –
Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt.

Du Doppelgänger, du bleicher Geselle!
Was äffst du nach mein Liebesleid,
Das mich gequält auf dieser Stelle
So manche Nacht, in alter Zeit?

Heinrich Heine
vertont von Franz Schubert, Nr. 13 im Liederzyklus SCHWANENGESANG

DOURO, FAINA FLUVIAL (dt: Harte Arbeit am Fluss Douro), stumm, 1931, von Manoel de Oliveira

Ein Film über einen Fluss, der nicht an der Quelle beginnt, sondern dort wo er endet, im Meer. Ein blinkendes Leuchtturmlicht, die Brandung, die Mole. Den Schiffen folgend, die stromauf gleiten. Jedoch nur bis in den Hafen, die alte Stadt Porto, wo die hohe Ponte Dom Luis I den Fluss überspannt. Eine imposante Stahlkonstruktion für Bahn und Fußgänger, 1886 eingeweiht, erbaut von einem Partner Gustave Eiffels. Der Film zelebriert die Industrialisierung in einer sowjetisch-ekstatischen Montagesequenz über diese Brücke, fast wie in einem Zitat, unter ihrem hohen Bogen breitet sich im Folgenden jedoch der fast mittelalterlich anmutende Alltag einer Hafenstadt aus. Schiffe manövrieren, legen an, entladen ihren Fang, Möwen, Lastenträger, Karren, Marktfrauen. Vor der Kulisse der Stadt, die die steilen Berghänge hinaufgewachsen ist, ihre Straßen führen zurück in den Fluss.

Portugal 1930. Von heute aus: welche Armut, das Volk in Lumpen. Die Fischhändlerin wedelt lüstern einen Fisch in der Luft, beäugt von einem hungrigen Tagelöhner, er kratzt zwei Münzen aus der zerfetzten Tasche, knallt sie auf den Stand zwischen all die andern Fische wie eine Anklage: wovon soll ich leben?!

Die kleinen Geschichten weben sich unmerklich in den strukturell orientierten Bilderstrom. Eine Frau hat einem jungen Arbeiter das Essen gebracht. Sie hocken nebeneinander, sein Blick fällt auf ihre zur Seite geknickten bloßen Beine. Zwischenschnitt auf einen Poller. Der Mann berührt die stramme Wade. Die Frau packt das Essgeschirr zusammen.

Eine dramatische Szene fast am Ende des Films. Im Hafenchaos geht ein Ochsenkarren durch, ein Mann (der Kutscher?) will die schweren Tiere mit einem Knüppel aufhalten, wird aber überrollt. Die Menge läuft zusammen, selbst die Kohlenschipper im Bauch des Lastkahns unterbrechen die Arbeit. Der bewußtlos auf dem Pflaster liegende Mann wird aufgerichtet, scheint nicht schwer verletzt, Schnitt auf den etwas entfernt liegenden Knüppel. Der Mann reißt sich los, greift nach dem Knüppel, will wütend auf die Tiere los, er wird von anderen Männern gehindert. Alles geht furchtbar schnell. Kurz darauf kitzelt jemand – ist es der Kutscher? – die Nase eines Ochsen, bis die Zunge seine Wange leckt.

Diese Miniaturen lassen sich erzählen, während der Film eigentlich unablässig weiterrollt, in schönstem natürlichen Licht, in überbordender Montage. Der Regisseur war inspiriert von Ruttmanns Berlin-Sinfonie.

– Dagmar Kamlah –

Montag, 19.07.2010

…this mischievous exercise in the most superficial kind of auteurism imaginable

* Self-Styled Siren > Handsome Directors: A Brief Visual List

Sonntag, 18.07.2010

Hundstage

FROM P. A. CHASE [Warner executive, New York]

Mr. Ralph E. Lewis
Freston and Files [law firm]
650 South Spring St.
Los Angeles, Cal.

Re: Lee Duncan [Rin Tin Tin’s owner and trainer]

December 6, 1929

Dear Mr. Lewis,

… We are about to start another Rin Tin Tin production, and after that picture is finished, we do not propose to make any more pictures with Rin Tin Tin appearing therein.

It has been decided that since the talking pictures have come into their own, particularly with this organization, that the making of any animal pictures, such as we have in the past with Rin Tin Tin, is not in keeping with the policy that has been adopted by us for talking pictures, very obviously, of course, because dogs don’t talk. …

P. A. Chase

[abgedruckt in Rudy Behlmer: Inside Warner Bros. (1935-1951), London: Weidenfeld & Nicolson 1985, p. 3-4]

Donnerstag, 15.07.2010

Montag, 12.07.2010

Etwas Seltenes

„If you’re feeling fancy free,
come wander through the world with me,
and any place we chance to be,
will be a rendezvous.“
(Two for the road, 1967, Musik: Henry Mancini, Text: Leslie Bricusse)

Bahn 5, im Park Louise-Marie, Namur, 2008

You Only Live Twice or so it seems,
one life for yourself and one for your dreams.
You drift through the years and life seems tame,
till one dream appears and love is its name.“
(1967, Musik: John Barry, Text: Leslie Bricusse)

Surviving the Great Depression

Anfang der Dreißiger Jahre, als die Depression mit einiger Verspätung auch die Filmindustrie erreichte, war die Misere auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. Ein Teil der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ließ sich darauf zurückführen, dass alternative Vergnügungen es den Betreibern schwer machten, die Leute ins Kino zu locken. Nach den letzten vier Wochen ist das leicht zu glauben. Überraschend allerdings – zumindest für mich – der folgende Satz: „Early in the decade, miniature golf provided most of the worry.“

[Tino Balio: Grand Design: Hollywood as a Modern Business Enterprise 1930-1939, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1995, p. 27]

Freitag, 09.07.2010

Ortswechsel

The little boy who, after several years‘ attendance at the movies, was one night taken by his father to a staged play — Stevenson’s „Treasure Island“ — a marvel of high adventure in strange places across strange seas, even in its stage form — summed up for me (Maurice Tourneur, 1918 in VARIETY) the crux of difference between the spoken and the screened drama in what he said after the curtain had fallen on the last act.
„Well,“ said the pater, „now, Bobbie, that you’ve seen your first spoken play on the regular stage, after all the many plays you’ve seen at the movies, what do you think of it?“
„The people stayed too long at the same place!“


The Blue Bird, Maurice Tourneur, 1918

Tourneur expressed his love for cinema by saying that it has „a brutality that no other medium of expression possesses“. (Richard Hand)

Barthelemy Amengual fand, Hawks, Vidor und Ford seien von Tourneurs Victory beeinflusst. Auf seinem Parcours durch die frühe Filmgeschichte hat Ekkehard Knörer am Sonntag die Sichtung von Victory (1919) absolviert. Wucht und Schärfe der Joseph-Conrad-Verfilmung kommen ganz anders zur Sprache in einem Artikel in „Conradiana“. Darin weist Richard Hand auf Tourneurs Jahre als Regisseur im Théâtre du Grand Guignol hin.

But the Grand-Guignol is not simply about the enactment of violence; it carries far-reaching implications regarding the issue of character. Grand-Guignol is a late, and frequently ironic, evolution of melodrama, but it is even more indebted to stage naturalism. With this in mind, it is interesting to note that Tourneur worked under André Antoine, the great French naturalist director, for seven years (from 1902). Despite fulfilling so many of the conventions of silent movie melodrama, Tourneur’s Victory is something special. It would be unfair to describe all the characters and performances as merely melodramatic: Jack Holt as Heyst and Seena Owen as Alma are not the mere ciphers that heroes and heroines are in many other films of the period. Indeed, Tourneur has been acclaimed as an „early ‚woman’s‘ director“ for his comparatively sophisticated construction of female characters. A key moment in Victory is Alma’s nonchalance after the fight with Ricardo (an incident that is both loyal to the book and impressive on screen): when Alma sucks the bruise on her arm and adjusts her sarong, she is a woman of the world, not the blushing flower of screen melodrama who would have probably swooned long before. (Richard Hand: Loving and killing: the two great adventures in life)


Im Himmel trennt Mister Time zwei Liebende – vor ihrer Geburt. Es soll die größte Traurigkeit auf Erden ihr vereinbartes Erkennungszeichen sein. Regardless of the merits of Maeterlinck’s The Blue Bird, Tourneur’s film holds, according to silent film historian Kevin Brownlow, a contradictory position, being regarded as the single greatest silent movie ever made by some and totally unwatchable by others. (Richard Hand)


Figures de cire, 1914. Eine Nacht im Wachsfigurenkabinett. Schönheit im Nitratkopienschaden.

Mag sein, daß das Ich sich nach innen ohne scharfe Grenze in ein unbewußt seelisches Wesen fortsetzt, dem das Ich als trügerische Fassade dient. Aber nach außen wenigstens scheint das Ich klare und scharfe Grenzlinien zu behaupten. Nur in einem Zustand, einem außergewöhnlichen zwar, den man aber nicht als krankhaft verurteilen kann, wird es anders. Auf der Höhe der Verliebtheit droht die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen. Allen Zeugnissen der Sinne entgegen behauptet der Verliebte, daß Ich und Du eines seien, und ist bereit, sich, als ob es so wäre, zu benehmen. (Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, 1930)


Vivian Martin und Chester Barnett in The Wishing Ring, 1914. Trauben, Schürzen, Rosen, Sonnenschein. Was ist schwerer zu beschreiben als das, was man „natürliches Spiel“ nennt?

Maurice Tourneur, in VARIETY, 1918: In the myriad ranks of everyday life there are countless geniuses that would win fame and fortune on the stage or in the studio if the powers they have were but developed. It is this latent capacity for drama that makes children in their pantalettes and frocks play house and weave romances and tragedies in their little worlds of make-believe that often startle listening grown-ups. *


Robin Macdougal und Katherine Bianchi in The Blue Bird, 1918.
Vor dem Kuss wischt sich der Junge den Mund ab.

Eines der vielen Ausdrucksmittel, die dem Kino mit der Zeit geraubt wurden, ist der Blick in die Kamera. Oliver Hardy war der größte Virtuose dieser Kunst, Zbynek Brynych ihr Verteidiger: „Einmal sollten sich Zwei durch eine Glasscheibe in einer Haustüre hindurch küssen. Aber weil einer der beiden verhindert war, mußte ich beide getrennt von einander filmen. Also ließ ich die beiden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen jeweils alleine das Glas küssen und dabei in die Kamera sehen. Als ich das später zusammenschnitt haben die beiden einander dann geküßt, wirklich geküßt.“ *

Ich applaudierte hier vor Jahren Klaus Wybornys Äußerung, eine Sprache sei der Film nicht, weil er nicht verneinen könne. Sieht man die Verwandtschaft von Film und Traum, ist folgendes interessant:
Das ‚Nein‘ scheint für den Traum nicht zu existieren. Gegensätze werden mit besonderer Vorliebe zu einer Einheit zusammengezogen oder in einem dargestellt. Der Traum nimmt sich ja auch die Freiheit, ein beliebiges Element durch seinen Wunschgegensatz darzustellen, so daß man zunächst von keinem eines Gegenteils fähigen Element weiß; ob es in dem Traumgedanken positiv oder negativ enthalten ist.
Aus einer Arbeit von K. Abel, Der Gegensinn der Urworte, 1884, erfuhr ich die überraschende, auch von anderen Sprachforschern bestätigte Tatsache, daß die ältesten Sprachen sich in diesem Punkte ganz ähnlich benehmen wie der Traum. Sie haben anfänglich nur ein Wort für die beiden Gegensätze an den Enden einer Qualitäten- oder Tätigkeitsreihe (starkschwach, altjung, fernnah, bindentrennen) und bilden gesonderte Bezeichnungen für die beiden Gegensätze erst sekundär durch leichte Modifikationen des gemeinsamen Urworts.
(Sigmund Freud: Die Traumdeutung, 1910)

„Und gleich danach die Frage: sind Traumbilder zwei oder dreidimensional, und immer wieder auch die Frage: sind Traumbilder überhaupt Bilder? Es fühlt sich merkwürdig an, sagen zu müssen: Ich weiß es nicht, aber es stimmt,“ – das finde auch ich und bin begeistert von Klaus Wybornys Text „Rhythmus im Blut, Der gefallene Engel“.
Und, ja, „man könnte es herausfinden, man müßte mal drauf achten, aber das sage ich mir seit zehn Jahren, solange sage ich jedesmal: Ich weiß es nicht, das ist schon sehr merkwürdig.“

Kevin Brownlow erzählt (im Gespräch mit Christine Leteux), er habe auf der Grundlage zahlreicher Interviews ein Buch geschrieben über Maurice Tourneur, es aber nie veröffentlicht. Denn als ihm Jacques Deslandes sagte, auch er schriebe ein Buch über Maurice Tourneur, gab Brownlow sich geschlagen, angesichts der Menge der zusammengetragenen Dokumente.
„He even had his exercise book from the Lycee Condorcet. Unbeliveable. And Scripts and contracts and letters and…
He disappeared! Nothing more was heard from Jacques Deslandes. The documents disappeared… Fade out, fade in. Many years later, two men came to see me at my office, they said they were writing a book about Maurice Tourneur. And they had the most amazing documents. They didn’t have the exercise book, but they had the equivalent, really astonishing things. They have disappeared too! (Laughs) The documents have disappeared. I just don’t know what’s going on … So, I appeal to anyone who’s reading this and has a lead on what has happened to those precious documents… Somebody should do a book on Maurice Tourneur!“


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