Donnerstag, 10.01.2019

Paratexte der FILMKRITIK (10): Register 1975

Ständige Redaktion, 5. September 1974, 17, 19.00 bis 23.00

„eine sehr hitzige Sitzung, bei der […]“

Letzter Punkt des Protokolls:

„F. J. Knape macht den Vorschlag, – ähnlich wie es die Cahiers haben – ein Gesamtregister der bisherigen 18 Jahrgänge der FK zu machen. Er soll einen Kostenvoranschlag machen.“

Ständige Redaktion, 10. September 1974:

„Gesamtregister:
soll für Subskribenten ca. 12.-DM kosten. Knape soll ein Ausführungsbeispiel vorlegen, dann sollen alle entscheiden. Mittels Selbstanzeige werden Subskribenten geworben.“

Filmkritik. Register der Jahrgänge 1957–1975
erstellt von Franz Josef Knape, München: Filmkritiker Kooperative 1975.

seit 2018 hier als durchsuchbares PDF verfügbar.

Sonntag, 06.01.2019

Filme der Fünfziger XLVII: Dany, bitte schreiben Sie (1956)

In neun Filmen spielten Rudolf Prack und Sonja Ziemann zusammen, in acht wurden sie ein Liebespaar. Neben „Scharzwaldmädel“ (1950) und „Grün ist die Heide“ (1951) war „Die Privatsekretärin“ (1953) ihr größter gemeinsamer Erfolg. Aber junge Mädchen – so Hans Erman 1954 in seinem Buch „Chef Büro Sekretärin“ aus dem Jahr 1954 – , die als Sekretärinnen im Büro anfangen und Eva Bartok oder Sonja Ziemann nacheifern wollen, sind im Büro fehl am Platz. „Die mehr oder minder wohlgeformten Hände werden durch grell gelackte Fingernägel dämonisch hervorgehoben. Der Ausschnitt der Bluse verläuft … sehr tief abwärts, in koketter Kurve, während das Röckchen schon über die fünfunddreissig Zentimeter des new look hinaufgezogen ist.“ Das ist die reine Angstlust-Phantasie.

1956 besuchten 30 sehr gesittete junge Frauen einer Frankfurter Sekretärinnen-Schule auf Einladung des Produzenten Carl Opitz die Dreharbeiten zu „Dany, bitte schreiben Sie“ und überreichten Sonja Ziemann eine Reiseschreibmaschine. Angemessener wäre eine Flasche Cognac gewesen, denn in dem Film wird, im Sinne eines beschwingten Betriebsablaufs, zu jeder Tageszeit auf Teufel raus gesoffen.

Daniela Ruhland (Sonja Ziemann) steht kurz vor der Hochzeit, hat Job und Wohnung bereits gekündigt, da eröffnet ihr ein Kriminalkommissar, dass ihr Bräutigam ein Heiratsschwindler ist. Sie ist Vollwaise, hat dem Schuft ihre Ersparnisse von 2.000 DM gegeben und ist nun ohne Wohnung, Job
und Geld. Aber Dany ist ein praktischer Mensch; das Hochzeitskleid hat 800,- DM gekostet. Das will sie nun zurückgeben und eilt in den Modesalon Pratt. Als erstes begegnet ihr – quel malheur – Madame Georgette (Fita Benkhoff), die als Leiterin des Modesalons gern ein paar französische Brocken in die Konversation einfließen lässt. Sie will ihr gleich einige neue Modelle wie „Rififi“ oder „Bonjour Tristesse“  vorführen lassen, aber das Hochzeitskleid zurücknehmen? Nein, wo denken Sie hin? Geschäftsführer Schnattke (Hubert von Meyerinck), immer auf Konfrontationskurs zu Madame, nimmt das Kleid in Kommission und führt Dany in sein Büro. Die Telefone klingeln, Dany muß helfen, Hannes Pratt (Rudolf Prack) kommt herein, denkt, Dany sei die neue Sekretärin und beginnt gleich mit einem Diktat. So bekommt Dany Knall auf Fall ihren neuen Job. Im Chefzimmer bietet Pratt Dany einen Cognac an, in ihrem Büro flösst er ihr gleich einen zweiten ein. Am nächsten Tag hat Dany ihren Zopf und ihre ganze Haarpracht gegen eine Kurzhaarfrisur eingetauscht. Und trinkt im Büro als erstes einen Cognac.

Die Cognac-Therapie
Sonja Ziemann und Rudolf Prack

Danys Hauptaufgabe besteht darin, die vielen amourösen Termine ihres Chefs so zu koordinieren, dass sich die Damen nicht über den Weg laufen. Der arme Chef; alle Frauen wollen etwas von ihm, nur Dany nicht. Nach der Heiratsschwindelei hat sie genug von den Männern. Pratt findet ihre kühle
Art sehr angenehm und erklärt: „Sie sind gar keine Frau.“ Das ist ihr nun aber auch nicht recht.
Weil eine frühere, jetzt in den USA verheiratete Freundin (Anneliese Uhlig) nach Deutschland kommt und Pratt ihr vorgeschwindelt hat, dass er verheiratet ist, muß Dany seine Frau spielen. Man trifft sich in Venedig, der Sekt fliesst, Pratt bestellt für sich und Dany ein Abendessen mit genau der Menufolge, die Dany immer in München für seine Rendezvous telefonisch aufgegeben hat. Also ist sie doch nur eine Affäre! Wütend und enttäuscht fährt sie nach Hause, Pratt ist ratlos.
Beim Polterabend einer Kollegin (ihren zukünftigen Mann nennt sie Äffchen) trinken Schnattke und Madame Georgette („Ich heiße Frieda) Brüderschaft an einer Badewanne voller Weinflaschen. Dany schüttet den Sekt vor Aufregung nur so in sich hinein, denn Pratt will auch kommen. Aber der gute Mann hat einen Autounfall; Dany eilt ans Krankenbett, Pratt ist nicht schwer verletzt. So hilflos im Bett nimmt ihn Dany, die Pratt schon mal eine „reizende kleine Person“ genannt hat, zum Mann, auch wenn es doch eigentlich umgekehrt aussehen soll.

Der Film nach dem Erfolgsroman von Inge Rösener, von Eduard von Borsody routiniert inszeniert, ist reine Konfektion. Überall merkt man die

Die Furie (Helen Vita) und das kleine Ding (Sonja Ziemann)

Sparsamkeit des Produzenten. Keine Wohnung kommt ohne ein großes Fenster oder einen Balkon aus, hinter dem eine Fotowand die Außenwelt markiert. Da ist es dann ganz egal, ob man in Venedig oder im Krankenhaus frühstückt. Es gibt viele Spiegel, die für Irritationen sorgen; sie haben keine dramaturgische Funktion, sondern sollen erkennbar die Enge des Ateliers überdecken. In Schwung halten den Film Fita Benkhoff und Hubert von Meyerinck mit ihren possierlichen Streitereien; Helen Vitas Figur einer der vielen Geliebten des älteren Herrn Prack sprengt das Unterhaltungsgenre und biegt es in die Groteske. Sie ist die Frau, die sich nimmt, was ihr gefällt, und böse wird, wenn sie Betrug wittert. Sie ist auch die einzige erotische Konkurrentin, die Kontur gewinnt. Holzgeschnitzt lautet die Alternative: süßes, kleines Ding oder Furie.

DVD bei Black Hill und Universum Film

Ergänzungen und Präzisierungen zu filmportal:
Kostümanfertigung: Lüder Baer, München; Modeschmuck: nimis, München;  Pelz von Sonja Ziemann: Max Günzel, Offenbach
Dreharbeiten: 15. Februar bis Ende März 1956 in den Filmateliers Wiesbaden und im Kurhaus Wiesbaden

Montag, 31.12.2018

Auge und Umkreis (III)


Belphégor (1965 Claude Barma)

Wassertropfen – Rundspiegel – Selbstschauung

In den Kapiteln I und II war Jules Vernes Katastrophenvergnügen verknüpft mit Ernst Machs Einsicht: „Das Ich ist unrettbar“. Und als eine Art Cliffhanger gab es da einen gigantischen Wassertropfen.


Arabesque (1966 Stanley Donen)

Letzter Versuch der Entschlüsselung. Der Regen auf der Windschutzscheibe verwischt die Hieroglyphen. Nur das Auge des dritten Vogels löst sich nicht auf. Der winzige schwarze Punkt ist ein Mikrofilm. Darin verborgen: der Termin des Attentats auf den Premierminister oder auf dessen Double.


Ein Ausschnitt aus „The Last of England“. F. Madox Brown, 1855, ***

Signatur und Jahresdatum sind an die Kante der Reling gemalt, unter diese Wassertropfen.

In der „Überfülle chaotischer, schmerzlicher Einzelheiten“ erkennt Harry Tomicek „das Pathos des Details“. Und so etwas wie eine britische Tradition, „die spätestens bei der Manier der Präraffaeliten beginnt, jedes Brombeerblatt und jedes Kringel im Schafwollpelz akribisch auszumalen,“ und die „eine ganze Generation englischer Kameraleute wie Douglas Slocombe, Jack Cardiff, Guy Green, Freddie Francis, Gerry Fisher auf das selbstverständlichste anleitet, gestochen scharf und schön zu photographieren.“

„Von der kleinsten Perückenlocke bis zu jedwedem Knopf der betressten Kleidung“ prägen sich einem Erschrockenen (in Sheridan Le Fanus „Geisterhand“, 1861) alle Details der Bedrohung ein, so gegenwärtig „wie Gewandung und Antlitz auf dem Portrait des eigenen Vaters, das ihm tagtäglich zum Frühstück, zum Nachtmahl und zum Abendessen vor Augen gehangen.“


The Dim Little Island (1949 Humphrey Jennings)

„Mit leerem, katastrophalen Blick sitzt das Ehepaar auf dem überfüllten Deck eines Auswanderer-Schiffs, die Hände ineinandergelegt (…) ohne irgendwo mehr hinzusehen.“ ***

Ford Madox Browns Gemälde „The Last of England“ bildet den Ausgangspunkt für Humphrey Jennings poetische Propaganda, die sich aus Schiffsbau, Musik und Schilf ihren Argumentationsstrang flicht.

Hartmut Bitomsky, 1975: “Vielleicht gibt es etwas, das dem surrealistischen automatischen Schreiben gegenübersteht, ein automatisches Sehen. Jennings lehnte es ab, Bilder zu erfinden; er suchte die Welt an den Stellen auf, wo sie seinem ungestillten Verlangen entgegenkam und von ihm wiederum abwich. Denn es gibt immer mehr zu sehen, als man erblicken kann.”


She Wore a Yellow Ribbon (1949 John Ford)

Das gelbe Band — „Captain Brittles ist Witwer, die Frau hat er im Idianerkrieg verloren, mit ihr die beiden Töchter, ihre Gräber liegen neben dem Fort. Zur einen Seite eine Leere, die ihr Tod hinterlassen hat, und zur anderen Seite ein Leben, in dem kein Platz für sie ist.“ (Hartmut Bitomsky: Gelbe Streifen Strenges Blau; Filmkritik, Juni 1978) „Der Film ist schön, denn das Kontinuum seiner Photographie enthält die Scherben der Geschichte.“

„Im allgemeinen ist es ja richtig, daß was sinnlich sich nahe berührt, sich auch gedanklich verbindet. Da aber Gedanken durch Association leicht in mannigfaltige und zufällige Verbindung treten, so ist man häufigen Irrtümern ausgesetzt, wenn man umgekehrt auch alles gedanklich Verknüpfte für sinnlich verknüpft hält.“
(Ernst Mach: Die Wucherung des Vorstellungslebens; Erkenntnis und Irrtum, 1905)


Aquaman (2018 James Wan)

Ein Tropfen Wasser noch. Körperflüssigkeit, Schweiß aus der Stirn des Wassermanns ist nötig, die eingetrocknete Mechanik in Gang zu setzen, die (in einer Höhle unter der Sahara) eine konservierte Mitteilung hervorbringt. Eine väterliche Botschaft, die der Held im Nu vergessen hat. Aquaman hat soviel Einsicht in die Unaufmerksamkeit seiner Zuschauer, dass er diese in seinem Protagonisten parodiert.


Les croix de bois (1931 Raymond Bernard)

Raymond Bernard erzählte 1973 wieviele Experimente nötig waren, um mit den ersten Tonfilm-Mikrophonen Explosionen aufzuzeichnen. Den Klang des Krieges zu reproduzieren.
Les croix de bois ist ergreifend, weil auf einem erbärmlichen Friedhof plötzlich ein Vogel zwitschert.
Bei der Premiere dann im Moulin Rouge: Die Träne des Präsidenten Doumer. (Und im Monat darauf das tödliche Attentat.)


Les amours de minuit (1931 Marc Allegret & Augusto Genina)

Der Blick aufs Publikum ist oft der Blick auf einen einzelnen Menschen im Publikum.


Un revenant (1946 Christian-Jaque)

Eric Rohmer hatte recht: Jules Vernes “Ein Kapitän von 15 Jahren” ist beachtlich!
Ein Schiff nimmt Kurs auf Valparaiso und kommt dort selbstverständlich nicht an. Die Besatzung muss, gestrandet und verirrt, Zuflucht suchen im verlasssenen Innneren eines Termitenbaus, dessen hohle Kuppel noch in der selben Nacht die Reisenden in höchster Gefahr gemütlich beherbergt, inmitten einer Überschwemmung, wie in einer Taucherglocke.
Was allerdings nach dem überstandenen Abenteuer auf sie wartet, sind die Realitäten der Sklaverei.


When Tomorrow Comes (1939 John M. Stahl)

Als der Blick auf das Portrait der Ehefrau (Barbara O’Neil) fällt, ist das dezente Krachen eines Blitzes die Ankündigung kommenden Unheils. Wenig später wird das Liebespaar (Boyer und Dunne) vor dem gefährlichen Sturm in einer Kirche Zuflucht suchen und zueinander finden. Die nächtliche Überschwemmung ist für die Liebenden, auf der Orgelempore im Trockenen, ein Geschenk. Ich sah mir den Film in Bologna gleich zwei mal an, um alle seine Überraschungen doppelt auszukosten.


Pandora and the Flying Dutchman (1951 Albert Lewin)

Kamera: Jack Cardiff. „Mit 14,“ sagte Cardiff, “war ich ein Veteran.“

Wie ein Geschenk kam Lewins Film in den 80ern noch einmal ins Kino. Frieda Grafe beschrieb, dass da, wo man ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert sehen soll, ein gerahmtes Photo Ava Gardners von Man Ray zu sehen ist. „Das Kino ist ein Wiederholungsritual, das besser als andere vorher den Zeitbegriff ruinieren kann durch seine magische Fähigkeit, alles in Gegenwart zu verwandeln.“


The Sound Barrier (1952 David Lean)

Nigel Patrick lenkt (in Lewins Film, als einer von Pandoras Anbetern) seinen überhitzten Rennwagen beim Rekordversuch am Meeresstrand in die kühle Brandung.

Leans Testpilotenfilm propagiert den heroischen Unsinn, im Sturzflug den Steuerknüppel zur Rettung nach vorn zu pressen. Es geht um Antriebe, sowohl Düsen als auch “dunkle Impulse zu gewaltsamem Tun, zum Eindringen, Zerschlagen, Irgendwo-ein-Loch-Aufreißen.” (Freud: Über infantile Sexualtheorien, 1908)

Im Fokus von The Sound Barrier steht Ralph Richardson als Personifikation des Vaters und des Fortschritts. Ihm zum Opfer fallen Sohn und Schwiegersohn. Die Tochter klagt zwar an, aber nur bis der Vater es schafft, sie mit seiner schrägen Einsamkeit zu rühren.


Forever England (1935 Walter Forde)

Diese Taschenuhr – einst im Besitz Lord Nelsons und über Generationen vererbt – wird zum spontanen Geschenk. Zum Beweis einer Liebe, die Klassenschranken ignoriert.
Eine Generation später: Der unehelich geborene Sohn wird, wie der Vater und die Vorväter, Soldat. Er ist ein hochbegabter Schütze. Die Uhr gibt ihm die Mutter vor der Abreise. Das Ziel: Valparaiso… Eine Kreisblende… Der Weltkrieg beginnt.

Die Basis von Kriegs- und Familiengeschichten, auch die von Aquaman (2018): Dass die Eltern getrennt leben, in getrennten Welten. Der biertrinkende Leuchtturmwärter und die königliche Bewohnerin der Hohlerde. Sie ist ein Nemo, er ein Niemand. Noch vor Filmbeginn liegt das Wappen von Warner auf dem Meeresgrund und das Siegel von MC schwimmt auf der Oberfläche.

Im Finale von Forever England (1935), in einem unterkühlten Massaker, inszeniert von Anthony Asquith, ist das Töten fast so unbekümmert wie in Hawks‘ Sergeant York und fast so finster wie in Bogdanovichs Targets. Je nachdem, wie man es sieht.

Eine bizarre Heldenphantasie (nach C.S. Forester): Der junge Soldat erlangt den Respekt des Feindes und nach dem Heldentod die Anerkennung seines Vaters. Der Feind war ihm vertraut, sogar nah, der Vater aber unbekannt.


Forever England (1935 Walter Forde)

Durch den Tod des Sohnes (John Mills) wird das Geschenk erneut zum Erbstück. Der Deckel auf der Rückseite enthält das Bild der Mutter (Betty Balfour). Und in den Händen des Vaters nun: Der Beweis vom unerkannten Wert derer jenseits der Klassenschranken. Als hätte das Sterben einen Zweck.

Judy Geater weist darauf hin, dass die Schauspielerin Betty Balfour nur 5 Jahre älter war als John Mills – „so when Mills cuddles and kisses Balfour it doesn’t really feel like a mother/son relationship.“
(Patrick Wilson und Nicole Kidman, in Aquaman: 6 Jahre Altersunterschied.)

Kennt man John Fords Pilmgrimage (1933), dann weiß man, was alles drinsteckt in Geschichten von Kriegshelden und ihren Müttern. Fords schockierend bittere Interpretation heitert sich unvermutet auf, als die Mutter zur Scharfschützin wird.


So Big! (1932 William Wellman)

Diese Taschenuhr hat in Wellmans Film, der Edna Ferbers Roman seltsam undramatisch komprimiert, keine große Bedeutung. Es gibt eigentlich nichts, was die Menschen einander vererben könnten. Aber es gelingt manchmal, etwas Kostbares weiterzugeben: Selbstvertrauen.


Pirates of the Caribbean (2003 Gore Verbinski)

Dieses Medallion aus Aztekengold hat der Sohn vom Vater bekommen. Es wandert noch durch viele Hände. Denn ein Fluch ist daran geknüpft, aber auch die Erkenntnis, dass in den Adern des jungen englischen Waffenschmieds das Blut eines Piraten fließt; erster Grund, warum die schöne Mutige ihn liebt.

„Es gibt nichts, was ein Fetisch nicht tun und verrichten kann, wenn es nur der rechte Fetisch ist. Wir sind geneigt uns dieser Auffassung gegenüber sehr stolz zu fühlen, aber auch unter uns finden sich Menschen, welche Amulette, Glücksschweinchen, Medaillons und andere Dinge mit sich tragen, und nicht nur zum Scherz. Unsere wissenschaftliche Auffassung von der Abhängigkeit der Naturvorgänge voneinander ist eben doch eine andere, als jene, welche noch in dem Volke lebt, von dem wir ein Teil sind.“
(Ernst Mach: Die Wucherung des Vorstellungslebens)


The Way of a Goucho (1952 Jacques Tourneur)

Ein Amulett der Santa Teresa, ein Geschenk der Lady (Gene Tierney) an den Deserteur (Rory Calhoun).
„Ein Technicolor-Traum über den Preis der Freiheit, durchsetzt von extremer Dunkelheit.“ (Christoph Huber)


Pandora and the Flying Dutchman (1951 Albert Lewin)

In Jules Vernes „Die Kinder des Kapitäns Grant“ will Lord Glenarvan nach gemeinsam überstandenen Abenteuern in Patagonien den Indio Thalcave überreden, mit ihm die Suche nach Kapitän Grant fortzusetzen. Doch Thalcave will seine Heimat, die Pampas, nicht verlassen. Auch lehnt er jede Bezahlung seiner Dienste ab. Glenarvan ist gerührt und möchte dem tapferen Indio wenigstens ein Andenken hinterlassen. Aber er kann ihm nichts schenken, denn Waffen, Pferde, alles ist in den Katastrophen unterwegs verlorengegangen. Da kommt ihm eine Idee, er nimmt aus seiner Brieftasche ein kostbares Medaillon mit einem gemalten Portrait, und gibt es dem Indio.
»Meine Frau,« sagt Lord Glenarvan.
Thalcaves sanfter Blick ruht lange auf dem Bild, bis er die schlichten Worte spricht: »Gute Dame! Schöne Dame!«


Account Rendered (1957 Peter Graham Scott)

Diese Brosche ist ein Beweisstück in einem Mordfall.

„Das Leben, das sich unablässig wiederholt, um in seinem Sturz seiner selbst inne zu werden, als halte es in einem jähen Begreifen seines Ursprungs den Atem an.“
(Pierre Klossowski)

Juno und Iris nehmen die 100 Augen des enthaupteten Argus und streuen sie auf Pfauengefieder. Das Wahnsinnsbild, das Rubens um 1610 gemalt hat, hängt in Köln.

Die Eintrittspreise deutscher Museen sind so hoch, dass deutlich, als wäre es ein Schild am Eingang, zu verstehen ist: Geringverdiener unerwünscht.


Passport to Destiny (1944 Ray McCarey)

Eine britische Putzfrau (Elsa Lanchester) beschließt Hitler zu töten. Sie nimmt einen Talisman mit nach Berlin.


Mission: Impossible (1996 Brian de Palma)


Doppelgänger (1969 Robert Parrish)

„Alles, was der primitive Mensch nicht versteht, erscheint ihm in einem eigentümlichen Licht. Wir können diese Erleuchtung nur wiedergewinnen, wenn wir uns lebhaft in die frühe Jugend, in die Kindheit zurückversetzen. (…)
Dem Beobachter, der die modernen [christlichen] Religionen kennt, fällt an allen diesen primitiven [vorchristlichen] Systemen auf, daß dieselben, und insbesondere die Vorstellungen von einem Leben nach dem Tode, nichts mit Lohn und Strafe, nichts mit Vergeltung und überhaupt nichts mit Ethik zu tun haben. (…)
Wo aber ein Teil des Volkes zu dauernder Sklaverei verurteilt, der andere Teil bestrebt ist, alles Gute des diesseitigen Lebens für sich zu nehmen, da ist eine Ethik, welche mit Vergeltung nach dem Tode rechnet, für ersteren Teil ein nicht zu unterschätzender Trost, für letzteren Teil recht bequem.“
(Ernst Mach: Die Wucherung des Vorstellungslebens)


The Outer Limits – Demon With A Glass Hand (1964 Byron Haskin)

Diese Medaille ohne jede Prägung ist einem Ausserirdischen gewaltsam abgenommen worden, im Kampf um Leben und Tod. Der Fortbestand der Menschheit steht auf dem Spiel. Plot und Drehort kehren wieder in Terminator und in Blade Runner.


The Outer Limits – Hundred Days Of The Dragon (1963 Byron Haskin)

Ein neu entwickeltes Serum macht das menschliche Gesicht formbar wie Knetgummi. Eine einfache Pressform mit seitlichen Griffen genügt, den Präsidenten durch einen Doppelgänger zu ersetzen. Die Stärke dieses kleinen Fernsehfilms: Den Gesichtsverlust konsequent ernst und zuletzt sogar wörtlich zu nehmen.

Fortsetzung folgt in Kürze

Samstag, 22.12.2018

Filme der Fünfziger XLVI: Toxi (1952)

Für die amerikanischen Soldaten, die 1945 mit den Alliierten den Krieg beendeten und nach Deutschland kamen, galt offiziell das Fraternisierungsverbot, aber natürlich kam es zu Liebesbeziehungen zwischen GI’s und deutschen Fräuleins. Es entstanden Kinder, darunter mehrere tausend schwarze Babys, die ab 1952 schulpflichtig wurden. Wie sollte die bundesdeutsche Gesellschaft damit umgehen, wie sollte sie sich verhalten gegenüber den „Neger-, Mulatten- oder Mohrenkindern“, wie sie genannt wurden. Das war die Fragestellung von Robert A. Stemmle’s Film „Toxi“, gedreht nach einem Drehbuch von Marie Osten Sacken und Peter Francke, zwei weitgehend ambitionslosen, aber erfolgreichen Drehbuch-Profis. Walter Koppel bereitete für die Hamburger Real-Film die Verfilmung vor, verkaufte die Rechte dann aber wegen der Querelen mit dem Bundesinnenministerium und der fehlenden Bürgschaftsaussichten an Dr. Hermann Schwerin von der Fono-Film. Der Drehstab zeigt noch deutliche Spuren der Vorarbeit; von Ton über Ausstattung bis zum Schnitt werden Real-Mitarbeiter genannt.

Geburtstagsfeier im Haus Rose, Großmutter Helene (Johanna Hofer) wird 50. Am gedeckten Tisch sitzen der Großvater, die Töchter mit Schwiegersohn und Verlobtem, als Gäste der Hausarzt und das Ehepaar Übelhack. In der Küche schimpft die ältere Wirtschafterin mit der jungen: „Kochen musste können sonst kriegste nie nen Mann“ – „Und Sie, Sie können kochen und haben auch keinen.“ Dr. Carsten erwähnt in seiner Rede auf die Großmutter „die schwere Zeit, die wir hinter uns haben“ und „das Wohnungsamt kann Dir gar nichts mehr anhaben – Eindringlinge haben hier keinen Platz“, da klingelt es. Draußen steht Toxi (Elfie Fiegert), ein schwarzes Kind mit einem Blumenstrauß in der Hand. Wie nett, sie gratuliert der Großmutter mit einem Gedicht. Dann entdeckt der Großvater (Paul Bildt) einen kleinen Koffer vor der Tür. Eine Kindesaussetzung! Polizei und Fürsorge sind die ersten Gedanken. „Ein so liebes Kind kann ansteckende Krankheiten anschleppen.“ Das Kind ist gesund. Vor wenigen Minuten hatte Vater Jenrich (Wilfried Seyferth) noch gesagt: „Unvorhergesehenes gibt es nicht, ich will Ordnung in unserem Leben haben.“ Jetzt gerät alles durcheinander, es gibt Lauferei, Türenschlagen, große Aufregung, Schreierei. Der Großvater will das Kind aufnehmen und holt es zurück aus dem Heim, die Kinder wollen Toxi ebenfalls behalten, aber Vater Jenrich ist strikt dagegen. Warum? „Ich meine das Rassenproblem“. Bei diesen Worten hält der Film förmlich den Atem an, es wird still, in der Halbnahen werden die einzelnen Gruppen gezeigt. Nachdenkliche, auch erschrockene Gesichter. Frau Übelhack (Erika von Thellmann) legt nach: “Es ist ein Kind der Schande.“

Toxi Schokolade

Fast bricht die Familie auseinander, Vater Jenrich will Toxi jetzt selbst ins Heim bringen. Aber sein Auto streikt unterwegs, er verliert das Kind aus den Augen. Große Suchaktion mit Zeitungen und Peterwagen; fast wäre Toxi von fahrendem Volk mitgenommen worden. Als Vater Jenrich Toxi wieder in die Arme nehmen kann, sind alle glücklich und erleichtert. Toxi kann jetzt bleiben, an Weihnachten spielt sie mit in einem Krippenspiel. Da kommt, wie der Weihnachtsmann aus dem Himmel, der Vater aus Amerika und will Toxi mitnehmen. Und Toxi? Sie kann schon ein paar Worte englisch; Großaufnahme des Kindes; an die Wange des Vaters geschmiegt, sagt es: „One, two, three…“. Musik und Ende.

Das ist ja noch mal gut gegangen. Fast die ganze Geschichte spielt in dem Haus, in dem diese nicht arme, aber auch nicht reiche Alltagsfamilie wohnt; ihre Mitglieder und Gäste

„Sie braucht keinen Mohrenkopf – ist ja selber einer“

sind Prototypen der Gesellschaft, das Drehbuch spielt die Meinungsvarianten geschickt an. Selbst einige der Kinder zeigen bei einem Kindergeburtstag offen ihre Vorurteile gegenüber Toxi. Es ist ein magisches Haus, Gerschirr wird zerdeppert, Teller fallen von der Wand, doch die Familie bleibt trotz aller Auseinandersetzungen intakt. Alle, bis auf die komische reiche Tante Wally (Elisabeth Flickenschild), die zweimal empört das Haus verlässt, halten letzten Endes zusammen. Die Außenwelt ist verlockend, ein bequemer Ausweg, aber auch gefährlich und gefährdend. Und was denkt die junge Generation, verkörpert von den Verlobten Hertha Rose (Ingeborg Körner) und Robert Peters (Rainer Penkert)? Sie überlegen, Toxi zu adoptieren und als Werbemodell aufzubauen. Toxi-Schokolade, der Hit!
Robert Stemmle hat die Geschichte mit vielen komischen und anrührenden Elementen ausgestattet; zusammengehalten wird sie von der exzellenten Kamera Igor Oberbergs. In langen Takes fährt die Kamera um Tische herum, verfolgt die Figuren im Treppenhaus mühelos und elegant von der ersten Etage bis zur Eingangstür eines Zimmers im Parterre. Oft zeigt sie die Gruppenkonstellationen aus leichter Untersicht vom Scheitel bis zur Sohle, nimmt gelegentlich auch die Position der Erwachsenen gegenüber dem Kind ein. In keiner Phase stellt sie ihre Brillanz aus, wie selbstverständlich ist ihre Meisterschaft. Selbst das Licht, gelegentlich auf dämonische Effekte getrimmt, fügt sich in das Gesamtbild eines wohltemperierten Gemütsfilms. Normalerweise habe ein Film, so die Cutterin Alice Ludwig, 300 bis 500 Schnitte. Dieser habe nur 110.
Bruno Balz textete das „Toxi“-Lied zur Musik von Lothar Olias, das von Toxi und im Waisenhaus von allen Kindern gesungen wird als sei es die Hymne aller Waisenkinder: „Ich möcht so gern nach Hause geh’n, ay,ay,ay/Die Heimat möcht‘ ich wiederseh’n, ay, ay, ay/Ich find‘ allein nicht einen Schritt, ay, ay, ay/ Wer hat mich lieb und nimmt mich mit, ay, ay, ay.“ Noten und Text sollten die Kinobesitzer zum Einstudieren für die Kinderchöre an die Volksschulen geben. Toxi-Schokolade gab es nicht.
Toxi wurde in der Bundesrepublik für eine Zeit lang zu einem Begriff für „süsse“ schwarze Kinder; Elfie Fiegert, die Darstellerin der Toxi, hatte noch mehrere kleine Rollen in Spielfilmen und ging 1977 nach Mallorca.
Bei Anette Brauerhoch (Fräulein und GIs, Stroemfeld 2006) Heide Fehrenbach (Race after Hitler, Princeton 2005), Davidson/Hake (Framing the fifties, Berghahn 2008), Maja Figge (Deutschsein wieder-herstellen, transcript 2015) und einigen anderen Büchern kann man mehr über „Toxi“ lesen.

Nicht auf DVD, aber auf https://www.youtube.com/playlist?list=PLEXmvkCeGT5hsIQH1e3lb10GH77fphfIu in bescheidener Qualität und etwas mühsam in neun Teilen

Montag, 17.12.2018

Filmmuseum München: ‚carte blanche à Klaus Volkmer’

Klaus Volkmer geht nach 36 Jahren beim Filmmuseum München Ende des Jahres in den Ruhestand – oder vielleicht Unruhestand? Jedenfalls wäre es schön, wenn seine filmischen Vorlieben und archivarischen Kenntnisse auch weiterhin nutzbringend eingesetzt werden könnten (in welchem Zusammenhang auch immer).
Enno Patalas hat ihn damals ins Filmmuseum geholt – ihn auch als Bundesgenossen gesehen, der dafür sorgen würde, dass die besondere Hinwendung zu Huillet & Straub, Peter Nestler, Vlado Kristl und anderen weiter gepflegt werde. So kommt es, dass jeder neue Huillet & Straub-Film freudig erwartet und in einigen Fällen mit einer Dokumentation versehen wurde – darüber hinaus eine Kopie (falls notwendig: untertitelt) für das Archiv angeschafft worden ist. Klaus Volkmers ‚Dossiers‘ sind anfänglich als hektographierte Heftchen im Format A5 (neben dem roten Programmheft) zum jeweiligen Film-Uraufführungstermin erschienen, während einiger Jahre auch als postings bei newfilmkritik.de.
Ich habe ihm den persönlichen Kontakt zu Pedro Costa zu verdanken, nachdem er angefragt hatte, ob ich nicht ‚auf die Schnelle‘ einen Text zur ‚Werkschau‘ im Filmmuseum liefern könnte. (‚Pedro Costas Schattenwelt‘ – das Dossier zeigt dann die ‚Werkschau‘ im Februar 2002 im Filmmuseum München und die im März 2002 im Arsenal Berlin an, in Costas Anwesenheit.)
Zur Berliner Aufführung von Huillet & Straubs Une visite au Louvre und Paul Cézanne im Gespräch mit Joachim Gasquet durften wir das rechtzeitig fertiggestellte Dossier unter die recht zahlreich anwesenden Leute bringen – das war eine Veranstaltung des ‚FilmSamstag‘ am 10. Juli 2004 im grossen Saal des Kino Babylon, Rosa Luxemburg-Platz in Berlin Mitte.
Danke, Klaus! (Auch für das ‚&‘ bei Huillet & Straub.)

Die carte blanche à Klaus Volkmer: 20.12.2018, 19 Uhr im Münchner Filmmuseum.

Weitere Dossiers A5 (soweit mir bekannt):
– Straub / Huillet / Vittorini („Umiliati“) – 11.-13. April 2003
– Danièle Huillet & Jean-Marie Straub – 7.-9. Januar 2011 („als Geburtstagsprogramm für J.M., 8. Januar 1933“; kürzere und längere Filme von 2003 bis 2011)

Auf newfilmkritik (lange Texte):
Freitag, 27.11.2015
 Ein Toast auf Aimé!
 Zum neuen Film von Jean-Marie Straub – L’AQUARIUM ET LA NATION


Montag, 08.10.2007 Danièle Huillet – Erinnerungen, Begegnungen
Montag, 08.10.2007
 KLASSENVERHÄLTNISSE – Drehbuch-Faksimiles
Montag, 08.10.2007: 

Materialien zu KLASSENVERHÄLTNISSE. 
Von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub, nach Franz Kafka

Sonntag, 20.05.2007 Straub / Huillet / Pavese (III)


Montag, 18.09.2006
 Straub / Huillet / Pavese (II)

Montag, 04.09.2006
 Straub / Huillet / Pavese (I)

Donnerstag, 08.07.2004
 Straub / Huillet / Cézanne
Donnerstag, 09.01.2003 Jean-Marie Straub zum 8. Januar 2003 (Übersetzung und Zusammenstellung Manfred Bauschulte)

Sonntag, 16.12.2018

Zwei Texte von Susanne Röckel

Susanne Röckel, deren Roman DER VOGELGOTT nicht nur mich in diesem Frühjahr sehr verblüfft hat, schrieb zwischen 1980 und 1984 bei der FILMKRITIK. Für die aktuelle Ausgabe der CARGO hat Bert Rebhandl ein Gespräch mit ihr geführt.

Wir veröffentlichen begleitend zum CARGO-Gespräch zwei FILMKRITIK-Texte erneut:

* Was ist zu sehen? (aus FK 299/300, November/Dezember 1981)
* Eric Rohmer: La Femme de l’aviateur (aus FK 308, August 1982)

Weitere FILMKRITIK-Texte Röckels sind leicht zu recherchieren in den durchsuchbaren Inhaltsverzeichnissen der FK-Jahrgänge 1975 bis 1984.

Mit herzlichem Dank an Susanne Röckel.

Freitag, 07.12.2018

Werner Dütsch, 1939 – 2018

Aus einem Text Werner Dütschs über die WDR Filmredaktion, bei der er von 1970 bis 2004 arbeitete:

„Redaktionsalltag. Lange Arbeitstage, Reisen zu Autoren und Produzenten. Für keine private Company hätten wir so viele Stunden arbeiten wollen. Zu Tagen unterwegs und in Köln gehörten ausdauernde Gespräche mit Kollegen und Autoren. Redend wurde aktuelle Arbeit ausdauernd umkreist. Das konnte in produktive Disziplinlosigkeit ausarten, mit ersten Ideen für neue Projekte. Geistige Getränke gehörten dazu, Pausen gab es für Runden am Flipper; ein Autor hatte einen zu Hause.“

Ein Brief an Harun Farocki von 1970 und ein paar Worte zu Werner Dütschs plötzlichem Tod in der Nacht vom 4. auf den 5. Dezember 2018 sind nebenan beim Harun Farocki Institut zu lesen.

Hier eine schöne Sendung über Fritz Lang aus seiner Feder, im Dialog gesprochen von Martina Müller und ihm.

Freitag, 30.11.2018

Paratexte der FILMKRITIK (9): Ein projiziertes Heft

Die erste Seite eines vierseitigen, auf sehr schönem Papier gedruckten Faltblatts, das – wahrscheinlich – in den Jahren 1979 verschiedenen Heften beilag. Einer von mehreren Versuchen, die Zeitschrift über das Heft hinaus zu tragen. In diesem Fall: „ein projiziertes Heft“; wenig später: „ein gesendetes Heft“ (= eine FK-Sendung im WDR).

Die Filme: ZWISCHEN ZWEI KRIEGEN (Farocki); FORTINI/CANI (Straub/Huillet); FLUCHTWEG NACH MARSEILLE (Engström/Theuring); AUSLÄNDER TEIL 3 und 4 (IRANIER) (Nestler); AMERIKA VOR AUGEN – ODER KAFKA IN 43 MIN 30 SEC (Zischler).

Offenbar ein wenig erfolgreicher Vorstoß. FK-Sitzung vom 5.1.80: „3. Das Paket ‚Die FK geht ins Kino‘ war bisher ein Reinfall. Es ist nur 5 mal gezeigt worden.“

Das Faltblatt als PDF hier.

Freitag, 23.11.2018

Herbert Achternbusch, * 23. November 1938


Herbert, warum gibst Du eigentlich niemals – oder sehr ungern – Interviews? Gibt’s denn Interviews mit Dir?

Kaum.

Warum nicht?

Phhhhhhhhhh. Weil jeder Interviewer verlangt, dass man auf kleine Fragen groß antwortet. Und ich bin ein Mensch, der will reagieren. Und wenn nix da ist zum reagieren… […] Ich find‘, Interviews gehör’n per Gesetz verboten.

[Kino ’78, WDR, Redaktion: Wilfried Reichart, Erstausstrahlung 7. Dezember 1978.]

Dienstag, 30.10.2018

Spreeland Fontane. (Film von Bernhard Sallmann, DE 2018, 79 Minuten)

Nach dem Oder- und dem Rhinland hat sich Bernhard Sallmann in Bild und Ton nun das Spreeland erschlossen – nicht kartographisch, sondern als Lebensraum (wie er in Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ von 1892 beschrieben wird).

Ich erwähne ein paar Text-Passagen.
Lebensmittelversorgung: aus Lübbenau und dem Spreewald kommen Gurke, Kürbis und Meerrettich, Jagd auf Reiher gibt es im Reiher-Grund von Duberow, königliche Wildschweinjagd in der Umgebung von Schloss Köpenick, Bienenzucht in Kienbaum, Karpfen und Zander kommen aus dem Teupitzer-See (teuer verpachtet vom herrschaftlichen Gut), der Fang wird in sechsstündiger Fahrt nach Berlin verschifft.
Lehde, „Lagunenstadt im Taschenformat“, mag zu Fontanes Zeit ausgesehen haben wie Venedig vor 1.500 Jahren. Die wendische Spree, wenig Dörfer, keine Städte. Fontane verfolgt einen wendischen Begräbnis-Gottesdienst, beschreibt die Trachten der Frauen. Schmöckwitz ist öde und ärmlich. Die Wendei: das Seen- und Spreegebiet – „nichts als Rohr und Wiese“, selbst der Krieg habe einen Umweg um diese Gegend gemacht. Das Müggel-Ufer hingegen ist Märchenland.
Ernst Gottlieb Woltersdorf (1725-1761) kann in seinem Amt als Prediger nicht anders (wie er es selbst beschreibt), als die Feder laufen zu lassen beim Verseschreiben und Liedermachen.
1840: der mächtige und gefürchtete Johann Gottfried Schadow, „ein Achtziger“, im grossen Akt-Saal der Berliner Akademie – wie er den Skizzen der Studenten entlangschreitet, dort etwas lobt, hier etwas verwirft (im Berliner Platt).
Kirchenbücher geben mit ihrem „Lapidarstil“ einen ganzen Mikrokosmos wieder – Fontane zitiert aus dem Gröben-Siethener Kirchenbuch, das bis 1604 zurückgeht: Krieg, Pest, Wassersnot, Feuersnot, Geburt, Tod, Unglücke, Mord, Stäupung, Enthauptung, Ehebruch. Fontane wählt Beispiele aus dem 17. Jahrhundert.

Sallmanns Einstellungen bebildern nicht das Gesagte, sondern bleiben weitgehend autonom, obschon es auch Übereinstimmungen zwischen Bild und Text geben kann. Aber das muss man sich schon selbst erschliessen. Die Bild- und Originaltonebene hat durch die Statik und Länge der Einstellungen das Eigentümliche, dass man in sie wie ‚onirisch’ hineingezogen wird (wenn man sich dem nicht von Anfang an verschliesst). Die da hinein gesetzten Text-Stellen aus Fontane heben einen daraus heraus, über die Länge der von Judica Albrecht gelesenen Abschnitte ist das verbale Verständnis aktiviert – nur um wieder, wie in den Schoss von Mutter Erde, auf die erste Ebene des sinnlich-materialen Schauens und Hörens zurückzufallen. Freilich mit dem Beieffekt, dass nun auch die Fontaneschen Textpassagen anwesend sind, die zwei sonst getrennten Ebenen also ‚organismisch’ verbunden.

(Der Film läuft auf dem Dokfilmfest Leipzig am 1.11. und 4.11.2018, 18.30 im Passage Kino Wintergarten; auf dem Filmfestival Cottbus am 10.11.2018, 18 Uhr in der Kammerbühne; ebenfalls programmiert sind dort vier weitere Filme von Bernhard Sallmann aus dem Zusammenhang Fürst Pückler-Garten und Lausitz.)


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