Donnerstag, 30.04.2015

Les Disques de Rivka

Nebenwege, die zu einem Hauptweg führen.
Das Projekt Racines von Richard Copans – Gründer von „Les Films d’ici“ in Paris, Kameramann, Realisator, Produzent (Robert Kramer, Luc Moullet, Richard Dindo, Stan Neumann u.a.m.) – erforschte die eigenen Herkünfte und brachte neben dem Film gleichen Titels (2002, 95 Minuten) auch zwei ‚Nebenprodukte’ hervor: Vilnius (2000, 43 Minuten) und Les Disques de Rivka (2005, 45 Minuten).

Insbesondere letzterer ist in meinen Augen einmalig: Copans, der seine Recherche auf Litauen ausdehnte (sein Grossvater väterlicherseits hatte, bevor er Ende des 19. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten auswanderte, Wurzeln in Vilnius, dt. Wilna), interessierte sich für die Schallplattensammlung mit jiddischem Gesang und Synagogen-Musik von Rivka, die ihm gegenüber jedoch misstrauisch und ablehnend blieb. Zwei Jahre später fuhr er erneut nach Vilnius und konnte die sehr alte und schwache Rivka auch filmen und 2004 (nach ihrem Tod) nochmal ergänzendes Material und Informationen durch den Bericht ihres Neffen Boris sammeln. Das Zeugnis von Rivka, die das Massaker an den Juden in Litauen in einem Waldversteck überlebt hatte, besteht nicht nur in dem, was sie sagt, sondern vor allem in dem, was sie gesammelt und festgehalten hat: neben den Schallplatten (die einem Nachbarn gehörten und die sie nach dem Krieg beim Sohn des Bürgermeisters fand) Portraitfotos der jüdischen Bevölkerung von Butrimonys (ihrem Heimatdorf) – ihre eigenen, schriftlichen Aufzeichnungen über die Gräueltaten, begangen von litauischen Nachbarn, mit denen man vorher friedlich zusammengelebt hatte. Besonders diese Aufzeichnungen mit Namensnennungen, immer unmittelbar nach den Ereignissen festgehalten, waren natürlich brisant – und hätten sie auch nach dem Krieg noch jederzeit das Leben kosten können. (Die Kollaborateure und Mörder lebten ja schliesslich in derselben Umgebung.) Die Kennzeichnung der Stelle unter den lichten Bäumen, wo sich die Grube mit den 970 getöteten Juden (Männer, Frauen, Kinder) von Butrimonys befindet, und die Erinnerungstafel gehen auf ihre akribischen Aufzeichnungen zurück.

Copans (dessen mütterliche Seite der Familie französisch-katholisch ist) war natürlich klar, dass er bei seiner Recherche in Litauen auf die Shoah treffen würde. Er war dann aber doch geschockt, als er seinen Familiennamen auf den 1942 von den Nazis erstellten Listen der Ghettobewohner von Vilnius fand. Unbekannte Cousins und Verwandte waren bei der Auflösung des Ghettos auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Copans schreibt: „Ich wollte einen kurzen, ganz einfachen Film mit Rivka machen, um ihre Geschichte zu erzählen. Ich wusste nicht, dass ich Bauern treffen würde, die sie 1941 vielleicht denunziert, und andere, die sie während langen litauischen Wintern versteckt hatten. Ich wusste nicht, dass ihre Geschichte mich bis nach Washington führen würde, wo die 350 Fotos ihrer Vorkriegs-Nachbarn heute konserviert werden.
Ich hatte nicht geahnt, in welchem Mass ihre Lebensgeschichte mit der Arbeit des Erinnerns verbunden war. Wenige waren es, die ab 1946 die Lebensspuren der durch die Shoah vernichteten jüdischen Gemeinden sammeln und bewahren wollten.“

Mittwoch, 22.04.2015

Early Deleuze

Deleuze: Kabbalistische Studien

[Screenshot, 22.4.2015]

Literatur im Konzentrationslager

Viktor Matejka, österreichischer Schriftsteller und Kulturpolitiker, „Kämpfer für den wertvollen Film“ (Walter Fritz), von 1938 bis 1945 interniert in den Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg, erzählt von seinen Hafterlebnissen und -erfahrungen in dem Film „Goethe in D. oder Die Blutnacht auf dem Schreckenstein oder Wie Erwin Geschonneck eine Hauptrolle spielte“. Wie er erzählt, ist einzigartig, was er erzählt, ist es ebenfalls. Er spricht davon, wie einige Häftlinge sich Literatur „von innen“ erarbeitet haben. Sie banden Bücher aus einzelnen Blättern zusammen, auf denen Zeitungsausrisse klebten – aus der Nazipresse. Andere gab es nicht. Doch in der Nazipresse schrieben nicht nur Nazis. Matejka nennt als Beispiel den Autor Ernst Schnabel, aber auch andere. So entwickelte die Presse des Feindes, neu komponiert, montiert und handwerklich verarbeitet, eine neue, unerwartete, positive Kraft. Diesen Bericht dem Film von Manfred Vosz zu entnehmen, der ihn 1985 fertigstellte, ist nicht einfach. Ich sah das Werk im Bundesarchiv-Filmarchiv. Manfred Vosz ist im vergangenen Jahr verstorben. Er wurde bei diesem Film von Ronald M. Schernikau und anderen beraten.

Donnerstag, 09.04.2015

Das Gelände

* Andreas Mücke-Niesytka schreibt über Martin Gressmanns bemerkenswerte Langzeitbeobachtung »Das Gelände«.

Deutschlandpremiere des Films beim Festival »achtung berlin«:
Sa, 18. April, 19:15 Uhr, Passage
So, 19. April, 14:00 Uhr, Babylon 1
[edit:]
sowie ab 21. Mai im fsk-Kino am Oranienplatz

Montag, 06.04.2015

Texthinweis

Harun Farocki: Ewigkeiten bei Tasmania

[Kurzfassung eines unveröffentlichten Texts von 2004, taz Berlin, 4./5./6. April 2015; dazu: diese Fotos]

Samstag, 04.04.2015

Karten, Pläne (IV)

The African Queen - 1951
The African Queen (1951 John Huston)

1914. Ein Mann und eine Frau verlieben sich ineinander. Sie fahren in einem kleinen Dampfboot einen Fluss herab. In Technicolor. Im Dschungel. Mit Krokodilen, Stromschnellen, Regen, Mückenschwärmen, Blutegeln, Deutschen.
Als ich klein war, lief African Queen oft im Fernsehen. Meinen Eltern gefiel der Film. Mich irritierte das sichtbare Alter der Hauptdarsteller. Jetzt sehe ich Katharine Hepburn und Humphrey Bogart mit anderen Augen als damals: Was für ein schönes Paar!

1951 - Little Big Horn  Charles Marquis Warren
Little Big Horn (1951 Charles Marquis Warren), Platz Eins auf Manny Farbers Liste der Filme, die 1951 den Oscar wirklich verdient hätten.

Bei komplizierten Messungen, die unternommen wurden, um den geographischen Mittelpunkt der Kinematographie zu bestimmen, fiel auf, dass im amerikanischen Western der Jahre 1950/1951 eine unerklärliche Häufung von Meisterwerken mit Orts- oder Richtungsangaben im Titel vorliegt: Across the Wide Missouri (William Wellman), Along the Great Divide (Raoul Walsh), Rio Grande (John Ford), Rawhide (Henry Hathaway), Westward The Women (William Wellman) und Little Big Horn (Charles Marquis Warren).

His Kind of Woman 1951 John Farrow
His Kind of Woman (1951 John Farrow)

Wegen Elisabeth Volkmann sah ich mir Mitte März im Filmclub 813 Die Klosterschülerinnen (1972 Eberhard Schröder) an. Dieser dunkle, von Mitgefühl erfüllte und deshalb ganz erstaunliche Erotikfilm ist eine Entdeckung des Hofbauer-Kommandos. Zwei Landkarten gab es darin zu sehen: eine große bunte Südamerikakarte, die verheißungsvoll leuchtete vor der graubraunen Wandbespannung im Unterrichtsraum des Klosterinternats, und dann auf dem Holztisch einer Berghütte eine bedeutungslose Wanderkarte; bedeutungslos, weil (gleich vier) selig Vergnügte da, wo sie sein wollten, endlich angekommen waren.

1965 Att angöra en brygga (Tage Danielsson)
Att angöra en brygga (1965 Tage Danielsson)

Ausgangs- oder Zielpunkt vieler Filmerzählungen ist die abgeschiedene Lage.

S.O.S. Eisberg
S.O.S. Eisberg (1933 Arnold Fanck), ein Action-Exzess

„Too much of nothing can turn a man into a liar, it can cause some men to sleep on nails and another man to eat fire. Everbody’s doin‘ somethin‘, I heard it in a dream. But when there’s too much of nothing it just makes a fellow mean.“

Only the Valiant - 1951 Gordon Douglas
Only the Valiant (1951 Gordon Douglas)

Seit Wochen höre ich die Basement Tapes rauf und runter: I’m Your Teenage Prayer, Please Mrs Henry, You Ain’t Goin‘ Nowhere, 900 Miles from My Home, Santa Fe, Wildwood Flower, She’ll be Coming Round the Mountain, Confidental, All You Have to do is Dream…

1927 california movie locations
Diese Karte von 1927 zeigt, Plätze in Kalifornien, die entlegenen Orten ähneln. via
Man könnte fragen: Ist das Täuschende vielleicht sogar dem Tatsächlichen vorzuziehen? Denn „If we notice the location we’re not really watching the movie“ (Thom Andersen: Los Angeles Plays Itself)

Gegen besseres Wissen in der Schwebe gehaltene Illusionen haben dem Authentischen etwas voraus. Johan Huizinga schrieb, „dass der Geisteszustand, in dem große religiöse Feste von Wilden gefeiert und mitangesehen werden, nicht der einer vollkommenen Verzückung und Illusion ist. Ein hintergründiges Bewusstsein von ´Nichtechtsein´ fehlt nicht.“

Dark Journey 1937
Dark Journey (1937 Victor Saville)

„Wo könnten wir hin?“ fragen die Liebenden.
Smolensk? – Oh, Nein!
Zum Gardasee? – Auch das nicht.
Es ist 1918.

Vivian Leigh - Dark Journey - 1937

Die Modeschöpferin (Vivian Leigh) breitet ein Kleid über einen Lampenschirm, und wird in diesem Moment zur Steganographin.

Dark Journey (Victor Saville 1937)
Dark Journey (1937 Victor Saville) via

Make Love Not War 1968 Klett 02

Die Bielefelderin (Claudia Bremer) versucht sich in Berlin zurechtzufinden, und wird dabei gefilmt von Perikles Papadopoulus. Ein Kameramann, von dem das Internet nichts weiß. Vom Regisseur Werner Klett kannte ich lange Zeit nur den wunderschönen Kurzfilm: Ein fauler Bauer (1982 Illing & Klett), den wir im Filmclub 813 oft und gerne zeigten. Es geht darin um Erfindungen, die ein Obstbauer macht, um seine schwere Arbeit zu erleichtern. Zu Klängen von Erik Satie wird eine extravagante Windmaschine als Mittel der Schädlingsbekämpfung vorgestellt: fliegend über Obstbäume im Ein-Mann-Helikopter.

Cesta do praveku 1955 Karel Zeman
Cesta do praveku (1955 Karel Zeman)

„Mit dem Finger zeichnete er auf der Landkarte die Grundzüge seiner Theorie nach.“

In der Mitte seines Romans „Chesapeake“ („Die Bucht“, 1978) beschreibt James A. Michener, wie jemand, der eine originelle Idee beweisen will, sich auf die Suche nach der Quelle eines Flusses macht.

„Auf dem beinahe vierzig Meilen langen und windungsreichen Abschnitt von Tunkhannock nach Towanda begegnete er keinem Menschen. Gelegentlich stapfte er, da es keine Wege gab, in Ufernähe durch den Fluss. Er aß wenig, ein Stück Brot und etwas Käse, und nahm sieben Pfund ab. In diesen einsamen Tagen fasste er den Plan, seine Spekulationen über den Susquehanna und dessen Verflechtung mit der Bucht, die er so liebte, zu Papier zu bringen. Ganze Tage verbrachte er damit, einen einzigen Satz zu formulieren, weil dieser so bedeutend klingen sollte wie die Texte der Bücher, die er im Winter gelesen hatte.“

Aus Micheners Weltbestseller erklingt an dieser Stelle ein Lobgesang auf all jene Bücher, die kaum jemand kennt, und deren Wirkung doch groß ist.

Michener Bucht

„Der Forschungsgeist des Menschen schreitet in großen Umwälzungen vorwärts – wie ein Punkt am Rande eines sich drehenden Rades. Bewegt er sich auch voran, kann es doch nicht lange so bleiben, denn das Rad und das Fahrzeug, zu dem es gehört, streben weiter, und auf diesem Weg dreht sich auch der Punkt am Rande des Rades schließlich zurück. Diese pendelnde Bewegung , bei der jede Position nur vorübergehend gültig ist und kaum fixiert werden kann, nennen wir den Zivilisationsprozess.“ (Thomas Applegarth: „Die Eiszeit“, 1813)

Cesta do praveku (1955 Karel Zeman)
Cesta do praveku (1955 Karel Zeman)

Positionsnotizen in „… Karel Zemans Kinderfilmklassiker Reise in die Urzeit, in dem vier Jungen das Fossil eines Gliederfüßers finden und aufbrechen, um auf einem Fluss entlang der Zeit zurück zum Anbeginn allen Lebens zu reisen. Unterwegs begegnen sie vor den Landschaftspanoramen Burians allerlei Sauriern, die auch Vorstudien der Arbeiten von Stop-Motion-Legende Ray Harryhausen sein könnten Als sie das Meer erreichen und wieder einen versteinerten Triboliten finden, versteht der Jüngste unter den Freunden den Lauf der Zeit.“ (Stefan Ertl, in SGE # 25)

1928 - Espionnage - Jean Choux

1914. Es schiebt sich der Schatten eines deutschen Helms über die Landkarte Belgiens. Was das Symbolische vom Wirklichen trennt, wird bedrohlich überschritten von einem Stiefel. Der Film, der so beginnt, findet in seinem spannenden Fortgang ständig vom Pathos zur Plastizität und nimmt dabei die überraschendsten Abkürzungen: vom Deutschen, der sich im okkupierten Haus aufs Bett wirft, wird achtlos die dort ausgebreitete Karte der Stadt Lille mit der Stiefelspore durchbohrt.

Dann, während der Offizier seinen Rausch ausschläft, nimmt ihm die junge Belgierin eine geheime Militärkarte ab.

1928 - Espionnage Jean Choux 9 4b
Espionnage ou la guerre sans armes (1928 Jeаn Choux)

Es gibt gegen Butterbrotpapier und Bleistift keinen Kopierschutz.
Am nächsten Morgen aber erlebt sie den Angsttraum des Erwischtwerdens.

Gefahrvolle Situationen geben dem Kino die Gelegenheit, jene fiebrige Arbeit abzubilden, die einsam in der Nacht getan werden muss – im hellwachen Traum vom Guten, das heimlich noch zu retten ist.

Vynález zkázy 1958 Karel Zeman
Die Erfindung des Verderbens – Vynález zkázy (1958 Karel Zeman)

„Im Halbdunkel von Hanks Atelier glaubte ich in dem abstrakten Liniennetz immer eine Weltkarte sämtlicher Munitions- und Waffendepots samt Lieferantenrouten zu erkennen, so sehr glich das Bild einem Geheimplan, und hinter einem Geheimplan steckt immer die Logik des Militärs. Wir ziehen in den Wirrwar wäre mir als Bildunterschrift und Persiflage auf solch eine Kartographie ganz plausibel erschienen.“ (Pico Be)

1970 - Na Komete - Karel Zeman
Auf dem Kometen – Na Komete (1970 Karel Zeman)

In der Kindheit hatte mich diese tschechoslowakische Jules Verne Verfilmung schwer verwirrt, ja, verängstigt. Jetzt, beim unvermuteten Wiedersehen, konnte ich das, was mir damals Angst einflößte, nicht klar erkennen. Nur Schönheit.

1970 Na Komete - Karel Zeman

„Es ist Zeit, sich zu besinnen. Wir suchen offenbar nach einer Einsicht, die uns das Wesen der Angst erschließt, nach einem Entweder-Oder, das die Wahrheit über sie vom Irrtum scheidet. Aber das ist schwer zu haben, die Angst ist nicht einfach zu erfassen. Bisher haben wir nichts erreicht als Widersprüche, zwischen denen ohne Vorurteil keine Wahl möglich war. Ich schlage jetzt vor, es anders zu machen; wir wollen unparteiisch alles zusammentragen, was wir von der Angst aussagen können, und dabei auf die Erwartung einer neuen Synthese verzichten.“ (Sigmund Freud: Hemmung, Symptom und Angst, 1926)

1940 Contraband - Powell
Eine Nest von Nazis mitten in London. Contraband (1940 Michael Powell)

Lässt sich auf die Erwartung eines Zusammenhangs überhaupt verzichten? Die Art und Weise wie ein paar Zusammengewürfelte (Alliierte) gegen eine Organisation (Deutschland) kämpfen, davon erzählen viele Filme der frühen 40er Jahre.

The Impostor (1944 Julien Duvivier)
The Impostor (1944 Julien Duvivier) via

„Der Film von heute, technisch vollkommen, artistisch raffiniert , längst gesellschaftsfähig, lächelt mitleidig über seine wilde Jugend. Er ist erwachsen geworden,“ beklagt Sebastian Haffner (in: Koralle. Wochenschrift für Unterhaltung, Wissen, Lebensfreude) im Januar 1937.

Raw Deal-1948 Anthony Mann
Raw Deal (1948 Anthony Mann)

Männer mit Karten: Gegner, Feinde, Gleichinteressierte, Generale.
In keinem anderen Film wird so ausgiebig auf Pläne geschaut wie in Sebastian Haffners Anatomie der Marneschlacht (1977 Franz-Peter Wirth). Und es ist überhaupt nicht langweilig.

„Sie werden sehen,“ sagt Haffner zu Beginn: „solange er selber redet, hat jeder recht.“ So behauptet Hannes Messemer als Gallieni: „Die Marneschlacht ist am Telefon geschlagen worden.“

Die Schaubilder mit ihren bunten magnetischen Elementen erinnern an Mengenlehre. Und die Gesichter von Schauspielern wie Ferdy Mayne oder Siegfried Wischnewski anzuschauen, das ist eine Reise in eine ganz andere Zeit.

Thunderbird 6  1968
Thunderbird 6 (1968 David Lane)

Der Flugplan kündigt den Grand Canyon an. Der ist in diesem britischen Puppenfilm „nur“ ein Modellbau.

Thunderbird 6 - 1968

Thunderbird 6, die Fortsetzung von Thunderbirds Are Go, ist ein Puppenfilm mit vielen Großaufnahmen von Händen, die keine Puppenhände sind. Das X markiert die nächste Station auf einer Luftschiffreise: Ein Restaurant in den Alpen, wo das Essen mit Hilfe von Modelleisenbahnen serviert wird.

1945 - I Know Where I'm Going - Powell & Pressburger
I Know Where I’m Going (1945 Powell & Pressburger)

An das Studium der Schottlandkarte schließt sich der wildeste Reisetraum an, den die Welt je gesehen hat; gefilmt durch die Plastikhülle eines Brautkleids. Mit einer Modelleisenbahn zwischen karogemusterten Bergen.
Die zweite Karte im Film zeigt groß die Insel Kiloran, das Ziel der Reise. Ein leerer Umriss.

Wer sucht, der findet Kiloran auf Wikipedias unvollständiger Liste erfundener Inseln.

Les soleils de l'Ile de Pâques
Les soleils de l’Ile de Pâques (1972 Pierre Kast)

Die Sonnen der Osterinseln. Das ist ein seltsamer Reisefilm, späte Nouvelle Vague und frühes New Age. Es geht um Geomantie, Solarenergie und die Schrägaufzüge von Valparaiso.
Pierre Kast sei „ein Literat“, schrieb Max Zihlmann (in Film 3/1963). „Das soll nicht heißen, dass seine Bilder nur eine an sich überflüssige Illustration zu seinen Worten sind. Gerade aus der Wechselwirkung von Text und Bild lebt dieser Film (La morte-saison des amours). Die Menschen diskutieren in einem fort, reflektieren, interpretieren sich selbst – um durch das Bild widerlegt zu werden.“

1925 - Visages d Enfant - Jacques Feyder
Die Poesie des Zerfalls von Nitratfilm. Visages d’enfants (1925 Jacques Feyder)

Selbstvergessen. Die Konturen der Schweiz nachzuzeichnen, mit schräggelegtem Kopf.

La bandera - 1935 Duvivier
La Bandera (1935 Julien Duvivier) via

Auf einem Tisch und in der Vorstellung: Paris und die Seine. Und wie der Fluss sich da schlängelt, wohlwissend, dass man seinen Aufenthalt in Paris, wenn’s irgend geht, verlängert.

Stevenson - Das Licht der Flüsse

Robert Louis Stevenson: „Das Licht der Flüsse. Eine Sommererzählung“ (An Inland Voyage, 1878). Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann; Aufbau, 2011

Donnerstag, 26.03.2015

Kommunisten

Serge Kaganski / Jean-Marc Lalanne: Es hat uns überrascht, dass Kommunisten mit Collagetechnik arbeitet und aus einigen Ihrer früheren Filme zitiert …
Jean-Marie Straub: Dieser Film schlägt zu und steckt ein, er ist ein Doppeltreffer (coup fourré). Und auf diesen Doppeltreffer bin ich überaus stolz, sowohl was seine ästhetische Konstruktion als auch, was das Politische angeht.
Kaganski / Lalanne: Wie sind Sie auf diesen „Doppeltreffer“ gekommen?
Straub: Ganz allmählich in der Nacht. Er ist das Ergebnis dessen, was lange und mühselig in der Nacht gereift ist. Ich hatte Lust, einen Film zu machen, der in der allerwidersprüchlichsten und abwechslungsreichsten Weise spricht. Ich habe noch nie einen Film mit so vielen Genres und Tonlagen gesehen. Es fängt ein bisschen wie Hawks an, mit einem langen Auszug aus Operai, contadini (Arbeiter, Bauern; 2001). Zu sehen ist die Entdeckung der kommunistischen Sensibilität.
Kaganski / Lalanne: Weshalb kommt Ihnen dieser Auszug aus Operai, contadini wie Hawks vor?
Straub: Weil die Menschen auf Augenhöhe gefilmt sind. Ganz anders ist es in der folgenden Sequenz aus der Perspektive der Lumière-Brüder und ebenfalls anders ist es in den drei Blitzszenen, die vorangegangen sind: ein Polizeiverhör, dann ein Stück schwarze, über die Folterung gedeckte Leinwand. Ich habe gar nicht erst versucht, es besser zu machen als Dreyer in Vredens dag oder Bresson in Un condamné à mort s’est echappé. Ich wollte die Folterung nicht bebildern. Dritter Blitz, das Paar von hinten. Anfangs wusste ich nicht, wie Kommunisten werden soll, das hat seine Zeit gebraucht. Anfangs wollte ich diese drei Blitze filmen. Der Rest ist dann dazugekommen.
Kaganski / Lalanne: Kann man sagen, dass der Film alle Bedeutungen durcharbeitet, die das Wort „kommunistisch“ haben kann?
Straub: Es ist mehr eine Erforschung der kommunistischen Seele. Die kommunistische Seele gibt es auch in den Apuanischen Alpen, also in den Dörfern, die sich in der Gotenstellung befanden und zu Oradours in Italien geworden sind. Das also konnte den Kommunisten, das konnte ihren Frauen und Kindern widerfahren. Darin liegt das Risiko des Kommunismus, dieser Sache, auf die die Menschen noch immer warten. Und wenn sie sich nicht verwirklicht, sind wir am Ende. Kommunisten ist eine Art Wette, eine Herausforderung. Ein Schrei der Verzweiflung.
(…)
Kaganski / Lalanne: Ist Kommunisten ein filmisches Testament?
Straub: Klingt nicht nett, aber ja, ein Testament ist es.
Kaganski / Lalanne: Öffnet dieser Film nicht gleichzeitig einen neuen Weg für Ihr Kino, weil er aus Einstellungen anderer Ihrer Filme komponiert ist?
Straub: Ja und nein. Ein System soll das nicht werden. Kommunisten ist ein Würfelwurf, man sollte nicht versuchen, ihn zu wiederholen. Es wäre schrecklich, würde das zur Methode.
Kaganski / Lalanne: Was verleiht Ihnen trotz allem die Lust, weiterzuleben und weiter Filme zu machen?
Straub: Die Leute auf der Straße, die ich vom Fenster aus sehe oder die ich treffe … Eine Wolke, die vorüberzieht … Die vergehende Zeit, das sich wandelnde Licht … Der abnehmende und der zunehmende Mond ..
Kaganski / Lalanne: Was fesselt Sie an den Passanten auf der Straße?
Straub: Alles. Eine einfache Handbewegung, ein sich aufhellender Blick, manchmal auch, wenn sich der kleine Finger rührt. Wirklich alles.
Kaganski / Lalanne: Interessiert Sie das oder bewegt Sie das?
Straub: Das interessiert mich und deshalb bewegt es mich. Es hat einer nicht das Recht, sich für etwas zu interessieren, das nicht auch eine Emotion in ihm auslöst.
(…)
Kaganski / Lalanne: Ist der Kommunismus eine Sache des Glaubens?
Straub: Der Protagonist aus der ersten Sequenz, aus Operai, contadini, spricht davon. Er sagt, dass er sich gerade verändert und Freude daran findet, dass die Kartoffeln wachsen. Das ist auch Kommunismus. Man muss zwar nicht Kommunist sein, um von einer wachsenden Pflanze angerührt zu werden – aber vielleicht doch.
Kaganski / Lalanne: Und das ist der Kommunismus für Sie?
Straub: Ja, ich glaube schon. Dieser Protagonist aus Operai, contadini sagt auch: „Die Sache zwischen ihr und mir begann zu wachsen, zu wachsen, zu wachsen.“ Was man den „Kommunismus“ nennt, betrifft auch die Liebesbeziehungen.
Kaganski / Lalanne: Sie denken, der Kommunismus beeinflusst, wie man sich liebt?
Straub: Aber ja, das ist der Film. Wenn ich daran nicht glaubte, steckte nichts dahinter. Dieses Gefühl hat sich in meinen Filmen verdichtet. Das schließt Corneille und die Idee mit ein, es gebe keine Liebe ohne Achtung. Zwar ist das bei ihm politisch anders gelagert, aber doch dieselbe Idee. Der Film besteht aus musikalischen und konzeptuellen Variationen über den Traum, Kommunist zu sein.
(…)
Kaganski / Lalanne: Weshalb können die politischen Parteien nicht dieses Ideal verwirklichen, das Sie „Kommunismus“ nennen?
Straub: Solange die Parteien der Sozialdemokratie nützen, ist von ihnen nichts zu erwarten. Die Sozialdemokratie versteht sich nur auf den Verrat. Sie stellt sich immerzu in den Dienst von Reformen zugunsten des Kapitalismus, und nichts sonst. Der Kapitalismus reformiert sich nicht. Der Kapitalismus verschwindet oder er verschwindet nicht. Solange er aber nicht beseitigt ist, breitet er sich immer weiter aus. Mit ihm gibt es keine Zusammenarbeit, denn er arbeitet mit niemandem zusammen. Weshalb ihm also den Hof machen? Der Kapitalismus ist die Sache der Unmenschlichkeit. Und die Sache der Unmenschlichkeit hat nichts zu sagen.
(Aus „Les Inrockuptibles“, 11.3.2015)

Freitag, 13.03.2015

Aus der ideologischen Antike

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[Screenshot, 13.3.2015]

Donnerstag, 12.03.2015

Ich beneide jeden, der Zeit hat, etwas wie ein Buch fertig zu machen, sagte André Breton

Hans Wollschläger (1935 – 2007), Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker; Autor auch für Petra und Uwe Nettelbecks »Die Republik«. Dieser Tage jährt sich sein Geburtstag zum 80sten Mal. Nicht unbedingt ein cinephiles Ereignis, des Erwähnens dennoch wert.
Typischer Wollschläger-Gedanke: »Es ist das ohnehin ein sehr weites Feld, die Frage, ob nicht die ganz schlichte Liebe zu einem Gegenstand ein außerordentlich wichtiges Erkenntnisinstrument ist, das ermöglicht, Dinge zu sehen, die der mehr mechanistischen Anwendung von vorgegebenen Interpretationsmustern verschlossen bleiben.«
»The dark and bloody grounds« – Titel einer grandios erzählten Amerikareise in Ws Karl-May-Biographie. Er wollte Mays (Spät-)Werk, welches er als Leser »schlicht liebte«, als das eines großen Schriftstellers rehabilitiert und etabliert wissen; gab deswegen etliche von dessen Texten erstmals vollständig heraus. Der notorisch gekürzte, verstümmelte oder auf Deutsches Wesen getrimmte May sollte endlich aus unseren Köpfen.
Monika Wollschläger, Ws Frau und Herausgeberin, sagt: Er lebte von seinen Übersetzungen ins Deutsche (James Joyce etc.). Eine Arbeit, die ihm, stets beklagt, Kraft und vor allem Zeit für Eigenes raubte (für das es kaum einmal ausreichend Geld gab). Eine Wunde, die sich nie schloss. Dafür ist dies Eigene aber ganz erstaunlich umfangreich und vielschichtig geraten.
Zumal auch angesichts Ws unausgesprochenem, jederzeit verwirklichten Credo: Jeder Satz, ob er nun Journalistischem, einer Rezension, einem Essay oder Roman zugedacht ist, verlangt den ganzen Schriftsteller, all seine Kunstfertigkeit und Passion. Eine literarische Hierarchie mit dem Roman in der Königsposition, wie sie heute (auch und gerade im sog. Literaturbetrieb) weithin gepflegt wird – für W unhaltbar, ein Treppenwitz. Von ihm verfasste Kritik (siehe »Von Sternen und Schnuppen«): nicht gewissen- und bewusstlos dahin geschluderter Service und Freizeit Tipp, schon gar keine sich selbst hochleben lassende Besserwisserei, sondern, ja, sowas gibt es: schöne Literatur, die sich erhellend neben andere schöne Literatur stellt.
Einige Abschnitte Ws, dachte ich vor langer Zeit beim allerersten Lesen, sind, na ja, ganz schön geschraubt. Zugleich ließ das Geschriebene nicht los. Und schließlich riss die Eleganz und Feinnervigkeit von Ws weitgespannten Satzperioden mich fort. Wo man ihn lesend anlangt? Nach dem Ausschreiten größerer Weltteile stets auch bei sich, bei eigenen Einstellungen, die, man vertue sich da ja nicht, die Gesellschaft mitformen, und die W radikal umzupflügen, durchzuarbeiten anregt (man lese etwa »Tiere sehen Dich an«).
Seine Kindheit und Jugend verbrachte W in Herford; verwandelte auch Etliches an diesem Ort (der auch meiner ist) Erlebtes in Poesie. Erinnerungen an W in Herford: keine, nirgends.

Mittwoch, 11.03.2015

Aneignung

Es ist ein Gedicht über einen Dichter. Als schwarze Jugendliche gefragt werden, wer Muhammad Ali sei, antworten sie: „A poet, a Muslim, a champ“, in dieser Reihenfolge. William Kleins Film „Muhammad Ali. The Greatest“ (1974) würdigt die poetische Kraft des Künstlers in Sturm-expressionistischen Einstellungen. In Kleins stets um die Protagonisten tänzelndem Weitwinkelobjektiv erscheinen die selbsternannten „owner“ von Cassius Clay wie die Ankläger der Jeanne d’Arc, als Lemuren. W.L. Lyons-Brown, Besitzer der Brown-Foreman-Schnapsfabrik, Farmer und Ölmagnat, erklärt, seine Familie habe die Vorfahren Alis / Clays besessen und nun besitze er ihn. Sklavenhalter- und kapitalistische Ökonomie gehen nahtlos ineinander über, die Sklaven sind zu Waren geworden, die Sklavenhalter zu Kapitalisten.
Vor diesem Hintergrund entsteht Alis Dichtung, die sich auf keine Tradition berufen kann. Wie die anderen ihn und seine Leistung sich aneignen, so eignet er sich ihre Kultur an, er nimmt sich, was er braucht, aus der Welt von Werbeslogans, Rundfunkdurchsagen, Plakaten, Events, die Klein hinreißend hintereinanderschneidet, als wäre es eine Jazz-Improvisation. Ali dichtet in Slogans, er ist der „king of the ring“, „They said the best was Sugar Ray / That’s before we all saw Cassius Clay“, er setzt Superlativ auf Superlativ bis ins Phantastische, „I’ve wrestled with an alligator, / I’ve tussled with a whale. / I did handcuff lightning / And throw thunder in jail.“
Unversehens geht seine Dichtung in eine atemberaubende Philippika über: „Everything in america that has been made the greatest has been painted and colored WHITE like jesus is WHITE santa claus is WHITE tarzan king of the jungle he’s WHITE miss america is WHITE miss universe is WHITE miss world is WHITE when you go to heaven you walk on a milky WHITE way before you go to heaven you’re washed in lamb’s blood he’s WHITE as snow they say they teach you in tv commercials there’s WHITE owl cigars WHITE swan soap WHITE cloud tissue paper WHITE rain hair rinse WHITE tornado floor wax everything seems to be WHITE i’m dreaming of a WHITE christmas angel’s hair is WHITE angel food cake is WHITE and mary had a little lamb his fleece was WHITE as snow.“
Er rappt das, kurz nachdem er Stepin Fetchit getroffen hat, den er liebevoll „Step“ nennt; für mich der sentimentalste Moment des Films. Stepin Fetchit, der erste afroamerikanische Superstar, aber stets der Underdog, so auch hier. Wäre er Alis Gegner, Sonny Liston, gewesen, sagt Stepin Fetchit, dann hätte er gegen sich selbst gewettet. Muhammad Ali war einer der ersten Afroamerikaner, die auf sich selbst gesetzt und gewonnen haben.


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