Donnerstag, 13.05.2010

Paukenschlag

Einstellung aus dem Hubschrauber. Die Stadt. Ransprung in eine Übersichtsszene auf dem Boden, unterlegt mit einem soundbearbeiteten Paukenschlag und Blitzbildeffekt. Ransprung in eine nähere Einstellung des Geschehens mit Paukenschlag und Blitzbildeffekt. Ransprung an den Hauptdarsteller. Paukenschlag. Blitzbildeffekt. Zoomeinengung des Gesichts. – Lichtgeschwindigkeitssprünge. Bild- und Toneffekte künden davon, dass hier Großes vor sich geht. Und in IM ANGESICHT DES VERBRECHENS geht oft Großes vor sich. Die Bewegungslinie der Bildentwicklung sagt, dass mit diesen Effekten Einschränkungen von statten gehen. Nichts wird aufgestoßen, Türen fallen ins Schloss. Innerhalb des Molochs Großstadt soll uns diese eine kleine Szene interessieren, dieses eine Schicksal. Die Anstrengung dieser Konzentration ist mit sicht- und hörbaren Reibungsverlusten verbunden. Das kleine Problem steht immer in einem großen ganzen Zusammenhang. City that never sleeps. Wird mitgedacht. Soll.

Atemlosigkeit, besser: atemberaubend. Mittels Einstellungsüberflutung. Nach einem Dialogsatz wird für den Folgesatz in die selbe/gleiche Einstellung geschnitten. Der feine, aber wahrzunehmende Bruch verhindert, dass Langeweile sich breit macht. Keine Löcher. Keine Ruhe. Schauspieler halten. Auch beim Singen entscheidet sich an den ausgehaltenen Tönen, ob es sich um Schreien oder freie Resonanz handelt. Dagegen Riemelts ausgeglichenes Gesicht – schlauer zwar, aber gegenüber einer undurchsichtigen Welt ähnlich dauer-staunend wie Martin Sheen in APOCALYPSE NOW.

Erinnerung. Wir erinnern uns. Wir müssen uns erinnern an den zweiten Weltkrieg und deutsche Panzer in der Ukraine – heute wie die tote Mutter in THE NIGHT OF THE HUNTER auf den Seegrund verbannt, an den toten Bruder, an die Fortsetzungsfolgen zuvor. Wir erinnern uns viel. Erinnerung wird in Worten erzählt, aber auch ins Bild gesetzt. Ein-eindeutig. Eine Serie hat, zumindest wie man sie aus den USA kennt, Erinnerung eigentlich nicht nötig, entwickelt Gegenwart im Moment. Es ist ja auch keine. So wie BERLIN – ALEXANDERPLATZ auch keine ist. Auch dort immerzu Erinnerung.

Vorschlag zur Kategorisierung: Heimatfilm.

Parallel auf Arte eine wohl als Doku-Serie gemeinte Reihe: DEUTSCHLANDS KÜSTEN. Auch diese Produktion hatte einen Hubschrauber zur Verfügung. Wenn von der Aufsicht in eine Bodeneinstellung geschnitten wird, gibt es einen Wom-Effekt im Ton und eine Art Shutter im Bild.

Nach langem Zögern

Der Marquis de Saint-Cricq war eine Quelle unergründlicher Narreteien.
„So schritt er eines Tages in Holzschuhen an der Spitze eines von ihm formierten Zuges leerer Mietwagen über die Boulevards, befahl der Riesenprozession, vor Tortoni zu stoppen, ließ sich drei Portionen Eis aus dem Lokal kommen, aß eine davon und füllte sich nach langem Zögern mit den beiden übriggebliebenen die Schuhe.“
(Siegfried Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit)

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Sonntag, 09.05.2010

Premiere im Netz: FILM SOCIALISME

Internetpremiere von Jean-Luc Godards Film FILM SOCIALISME als Video on Demand, zeitgleich mit seiner Projektion in Cannes am 17. und 18. Mai auf dem Portal FILMOTV. Einen Tag später dann in Frankreich im Kino.

Langtexthinweis

Auf der Seite Lange Texte steht der Beitrag Carl Theodor Dreyer – Einige Dispositionen zu einem Klassiker von Wolfgang Schmidt zum Lesen bereit.

William Lubtchansky

26. Oktober 1937 – 4. Mai 2010

»Der Stil, das kommt ganz von allein. Man weiß, man hat eine 16mm-Kamera, man dreht aus der Hand, hat kein Licht, keine Schienen… das macht den Stil aus. Er wird hauptsächlich vom Regisseur bestimmt. Er sagt mir: hier fangen wir an, dann folgst du ihr bis dahin, dann eine Großaufnahme usw. – man sieht dann sehr deutlich den Stil des Films. Natürlich läßt Jacques [Rivette] mir trotzdem große Freiheit. Er schaut nur manchmal durch den Sucher. Bei Handkamera geht das nicht. Trotzdem weiß er sehr genau, wie das Bild aussehen wird. Er kennt die Objektive, er weiß, wenn ich einen Meter fünfzig Entfernung habe, dann hört das Bild hier auf, und bei zwei Metern dort.

[…]

Andererseits mag ich auch die andere Art zu arbeiten. Bei Duelle zum Beispiel hatten wir alle technischen Mittel, Licht, alles. Die Kameraarbeit war sehr sorgfältig vorbereitet. Alles andere auch. Die ganze Inszenierung, die Bewegungen der Schauspieler, bis zu den Kamerafahrten – das war sehr sorgfältig ausgearbeitet. Ich mag beides. Mit nichts zu arbeiten oder mit sehr viel technischer Ausrüstung.«

[Manfred Blank, Harun Farocki und Susanne Röckel: Gespräch mit William Lubtchansky, in: Filmkritik 9/1982, S. 426-427. Aus dem Französischen von Susanne Röckel]

Freitag, 07.05.2010

Langtexthinweis

Auf der Seite Lange Texte ist der Beitrag MIT HARUN LERNEN von Wolfgang Schmidt eingestellt. Dabei handelt es sich um den deutschen Originaltext des Artikels:

Learning with Harun
in: Ehmann, Antje; Eshun, Kodwo (Hrsg.):
Harun Farocki – Against what? Against whom?
Koenig Books Ltd., London 2009, S. 166-170

Freitag, 30.04.2010

Schilder




The Disorderly Orderly, Frank Tashlin, 1964


Neuss, 2010


Terry, Milton Caniff, 1944


Charlton Heston, Oklahoma City, 1961; Jerry Lewis, Los Angeles, 1973.


Costa Brava, 2001

Dienstag, 27.04.2010

Allez, la caméra!

Es ist mir ein Vergnügen, hier auf Jacques Lizènes je circa einminütige Dokumentationen TENTATIVE DE DRESSAGE D’UNE CAMÉRA und TENTATIVE D’ECHAPPER À LA SURVEILLANCE D’UNE CAMÉRA – beide von 1971 – hinzuweisen. Hier der YouTube-Link.

Gestern nachmittag um 15:05 kannte ich Jacques Lizène noch nicht, das gebe ich gerne zu, aber um 15:06 bekam ich zu meinem Glück eine Mail, die mich mit diesem großartigen Künstler bekannt machte. Die beiden Clips zeigen exakt das, was die Titel in Aussicht stellen: Den Versuch, eine Kamera zu dressieren im einen Fall, den Versuch, der Überwachung durch eine Kamera zu entkommen im anderen.

Lizène, der aus Lüttich kommt und sich selbst verschiedentlich als „Petit maître de la médiocrité“ bezeichnet, ist ein großer Humorist, man achte – trotz der schlechten Qualität des Videos – nur auf seinen Gesichtsausdruck im Dressurfilm und auf die schleichenden Bewegungen im Fluchtversuch. Mich erinnerte der erste Film an Baldessaris TEACHING A PLANT THE ALPHABET von 1972, aber wo Baldessari mit einem unbeirrbaren Deadpan-Stoizismus agiert, schlägt sich Lizène ganz auf die Seite des agilen Slapstick. An Broodthaers darf man wohl auch denken. Übrigens sind, um den ersten der beiden Clips zu verstehen, keine Französischkenntnisse nötig. Der zweite ist sowieso stumm.

Wäre das ganze nicht von 1971, würde es schon jetzt zu den besten Filmen von 2010 gehören. Das heißt: Filme gehören ja in das Jahr, in dem man sie kennenlernt, insofern: Einer der besten Filme von 2010.

[Vielen Dank an Andreas Hirsch für die Email.]

Samstag, 17.04.2010

Augmented Reality

Augmented Reality, erläuterte einer, funktioniert so: Leute programmieren eine virtuelle grafische Schicht und legen sie über das, was wir als Realität kennen. Sie überziehen die Umgebung mit einer bedruckbaren Klarsichtfolie, die im normalen Leben nicht wahrzunehmen ist. Sichtbar wird diese Folie, wenn man sein Telefon, also genauer: die Kamera des Telefons, irgendwohin hält. Auf einer Wand steht dann: »Ich war hier«, oder in der Luft schwebt »Das, was Sie da grad sehen, ist der Kölner Dom«.

In einem YouTube-Clip hatte er eine Frau die Vorzüge der Augmented Reality preisen sehen. Sie war sehr aufgeregt bei dem Gedanken, wie man der realen Welt jetzt eine zweite Welt voller kommunikativer Möglichkeiten hinzufügen könne. In der zweiten Hälfte ihres Vortrags kam sie, erinnerte er sich, nicht auf Arthur Schnitzlers Erzählung »Ich« von 1917 zu sprechen, in der jemand seiner Existenz immer unsicherer wird und deshalb beginnt, die Möbel und Menschen in seiner Umgebung mit kleinen Zetteln zu versehen. Auf den Zetteln steht »Tisch«, »Spiegel«, »Bett«, »Ehefrau« und so weiter, und er klebt diese Zettel auf den Tisch, den Spiegel, das Bett, die Ehefrau; das beruhigt ihn ein bisschen. Ende und Höhepunkt der Erzählung sei (wenn er das richtig in Erinnerung habe), dass der arme Mann völlig verwirrt und erschöpft – oder ist er sogar tot, ja, doch, wahrscheinlich ist er eher tot – in seinem Zimmer gefunden wird. Auf seinem Rücken findet man einen Zettel mit dem Wort »Ich«.

Verstehe, warf ein anderer ein, aber wo wir grad von diesen neuen Beschriftungen der Welt reden, das ist doch nichts anderes als virtuelles Reviermarkenpinkeln, und die Großkapitalisten – er neigte zu vulgärmarxistischen Ansichten und gefiel sich in der Verwendung anachronistischer Politterminologie – sind sowieso die ersten, die sich die Technik zu eigen machen würden und die hübsche Klarsichtfolie von oben bis unten mit Werbebannern vollpinseln. Erst pflastern sie die wirkliche Welt zu mit Werbung, beklagte er sich, und wenn die voll ist, machen sie einfach in der virtuellen Welt weiter. »Starbucks 200 Meter rechts«. Und was ist eigentlich aus dem Second Life geworden? Muss man sich das als Geisterstadt 2.0 vorstellen, ein Update der verblassten Straßenraster, die er aus dem Flugzeug östlich von Los Angeles im Wüstensand gesehen hatte?

Einem wiederum anderen fiel zu diesem Thema Julius von Bismarcks Fulgurator ein. Der Fulgurator ist ein findig umgebauter Fotoapparat, der auf das Blitzlichtsignal anderer Fotografen reagiert. In exakt dem Moment, in dem jemand in der Nähe den Auslöser seines Fotoapparats betätigt, projiziert das Gerät ein zweites Bild in das fremde Bildmotiv hinein. Das ist wie eine Art kurzzeitige Tätowierung der Realität, ein Stempel, der kurz aufblitzt, aber fremde Fotografien dauerhaft kontaminiert: Leute fotografieren das Schild am Checkpoint-Charlie und sehen auf ihrem Bild stattdessen die Information, wie viele Mexikaner jährlich beim Versuch sterben, die US-amerikanische Grenze zu überqueren. Am Tiananmen-Platz fliegt über das tausendfach fotografierte Mao-Porträt plötzlich eine Friedenstaube. Klaus Wowereit trägt auf den Fotos der Pressefotografen ein O2-Logo am Revers. Die Blicke der fulgurisierten Touristen und Pressefotografen sind einigermaßen verwirrt, sie vergleichen die unveränderte Realität mit ihrem augmentierten Abzug, reiben sich die Augen und wissen nicht genau, woran sie zweifeln sollen. Julius von Bismarck, Erfinder und Inhaber des Patents, prognostiziert Klagen von Leuten, die ihn der Manipulation ihrer Fotos bezichtigen. Im Prinzip freut er sich aber auf einen Prozess, denn die Sache liege ja klar zu Tage. Nicht die Fotos manipuliere er, sondern das, was die Leute fotografieren, da ist er juristisch auf der sicheren Seite.

Andersherum erging es mir am Ostersamstag. Am Beginn des Finales von FÄHRMANN MARIA begleitet Maria (Sibylle Schmitz) den Tod in eine Kirche. Sie geht in den Glockenturm und zieht am Seil. Ich glaube, sie will die Dorfbevölkerung und ihren todgeweihten Geliebten in der Fährhütte warnen. Das Seil bewegt sich auf und ab und der Klöppel schlägt ein ums andere Mal an den Glockenrand. Aber es ist kein Laut zu hören, nur gespenstische Stille. Ich traute meinen Ohren nicht, denn in genau dem Moment, an dem die Filmglocken den Dienst versagten, setzte ein Klang ein, der nicht aus dem Film, sondern von draußen zu kommen schien. Ich öffnete die Balkontür und hörte jetzt ganz klar und deutlich die Glocken, die in der Kirche nebenan gerade zur Ostermesse geläutet wurden.


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