2001

Samstag, 24.11.2001

gestern nacht (2)

erotameoroz01g-2.jpg
Gabriel Orozco
Island into the island
1993 cibacromo
cortesia Marian Goodman Gallery, Nova York

„They all laughed“ von Peter Bogdanovich.

Jan fragte mich im Sommer vor ein paar Wochen nach Screwballkomödien und mir fiel wie fast immer wenn ich die Pistole auf die Brust gesetzt bekomme nichts ein – nicht mal an den Namen Cary Grant konnte ich mich erinnern. Der Film gestern, versteckt in der Nacht bei SuperRTL, zerbrochen zwischen Endlosreklamen für Handstaubsauger und HitCDs von Time-Life, ist eine unglaublich schnelle Komödie, bei der bis zum Schluss nicht klar ist um was es geht. Es ist wie in Truffauts „Der Mann der die Frauen liebte“, nur dass hier alle Männer alle Frauen lieben. Alle Männer sind Detektive und alle Frauen werden irgendwie von ihren Ehemännern verdächtigt. Mit gutem Grund. Eine der Hauptrollen, das besonders schöne Mädchen, spielt Dorothy Stratton, ein ehemaliges Playmate, in das sich Bogdanovich vor oder während der Dreharbeiten verliebt hat. Diese Liebe sieht man dem Film an. Kurze Zeit nach den Dreharbeiten, im wirklichen Leben, wird Dorothy Stratton von ihrem eifersüchtigem ehemaligen Freund und Zuhälter/Förderer ermordet. Vielleicht ist das der Grund, warum den Film, der eine Gesellschaft vollkommenen Glücks beschreibt, anfang der 80er Jahre niemand mehr sehen wollte.
Die Hotels, Büros, Bars, Hubschrauberlandeplätze und Rollschuhdiscos des Films liegen zum grossen Teil in downtown Manhattan, der Umgebung des World-Trade-Centers, das zwei oder drei mal im Hintergrund zu sehen ist. Vielleicht wegen Dorothy Stratton fragte ich mich später ob hinter den Glasfassaden des von Bogdanovich bzw. Robby Müller gefilmten WTCs vielleicht Leute aus den Fenstern kuckten die 20 Jahre später dort immer noch standen und dann diese Flugzeuge auf sich zufliegen sahen. Eine unnütze und lächerlich sentimentale Überlegung. Ich hab dann sogar auf den Seiten der NYT nachgesehen, wo kurze Biografien der Opfer veröffentlicht werden und bin zur Überzeugung gekommen, dass es nicht sehr wahrscheinlich ist.

The Transfiguration of the Commonplace (1)

Reichstag, 3. Etage, Fraktionsebene. Sagt der Aufzug mit seiner freundlichen, leicht depressiven Stimme. Pressekonferenz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Lage der Sozialversicherungen. Wie immer lasse ich mir vom Automaten hinter dem Einlass die Schuhe putzen. Wegen der verstärkten Security nach dem 11.9. sind wir zu früh, aber zu unserer Unterhaltung läuft auf dem Screen neben dem CDU-Logo das aktuelle Vormittagsprogramm der ARD.
Eine Heimatsendung. Nachher wird hier zur PK die Reichstagskuppel eingeblendet, aber jetzt: Volksmusik, Marktplatzbrunnen und Hubschrauberaufnahmen irgendwelcher Mittelgebirge. Wenn die CDU sich solch eine volksmusikalische Identity zulegen könnte würde sie bestimmt bei der nächsten Wahl mehr Stimmen bekommen. Die Journalisten, Fusstruppen der Redaktionen, lesen Zeitung oder unterhalten sich über irgendwas, aber nicht über die Lage der Sozialversicherungen.
Dann ist es 12 und die Kameraleute stellen sich auf für die Eingangsbilder. Friedrich Merz und Horst Seehofer sind so pünktlich wie nur jemand, der vorher schon eine Viertelstunde auf diesen Moment gewartet hat. Damit er schnell vorbeigeht. Ich filme sie wie sie sich an den Tisch setzen. In düsteren Bildern malen die beiden Spitzenpolitiker Belastungen an die Wand, die auf die Sozialversicherungen und die Bürger zukommen. Aufgrund der verfehlten Politik der Bundesregierung. Aber sie sprechen die Sätze kaum zu Ende, leiern sie runter wie früher in der Kirche die Pfarrer lateinische Formeln der Liturgie.
Opposition spielen. Muss sein. Die Ebenen des parlamentarischen Systems. Eigentlich auch schön. Aber nicht hier, denn niemand nimmt diese Veranstaltung ernst. Seehofer und Merz machen nicht einmal entsprechend besorgte oder mahnende Gesichter. Warum ich das filme ist unklar, kaum vorstellbar, dass jemand was mit dem Zeug anfängt, aber dann denke ich, dass, wenn so etwas nicht gefilmt wird, es nicht stattfinden würde und wenn so etwas nicht stattfinden würde, dann könnte unsere Demokratie zusammenbrechen.
Die Zeit steht still. Seehofer stellt komplexe Rechnungen auf, die ich, wie ich mich schwindelig erinnere, genau so schon mal vor einem halben Jahr in diesem Raum gehört habe. Dann wird er selber Opfer dieser somnambulen Arithmetik und sagt: “Das führt zu einer unzumutbaren Belastung für den Bürger bei seinem Lebensaustieg.”
Ein paar lachen. Auch Seehofer, denn er meint natürlich “Lebensarbeitszeitausstieg”.
Natürlich. Schade, denn „Lebensausstieg“ ist so ein grossartig neues wunderbares Wort für „Tod“. Würde sofort die Angst nehmen. Wir könnten aus dem Leben steigen wie aus einem kaputten Auto und zu Fuss gehen, mit dem Kannister zur nächsten Tankstelle oder zur nächsten Rufsäule und den ADAC anrufen. Das wäre dann auch gut für die Sozialversicherungen.

Ja, finde ich auch einen interessanten Text – gerade für einen Diskurs über Filmkritik in einer Filmkritik. Was den Gebrauch des Zitat-Begriffs in Filmkritiken über die Coens, das terminologische Sicherheitsdenken/-stiften, angeht, hatte ich einen ähnlichen Gedanken. Auf seine Weise funktioniert THE MAN WHO WASN’T THERE vielleicht wie ein Gegengift gegen eine eilfertige Kritik, die immer schon vorher weiß, wohin es am Ende gehen soll – im Zweifelsfall immer um Autorität, die wie eine heiße Ware zwischen Kritiker und Filmemacherinstanz verschoben, bzw. verliehen wird.

Donnerstag, 22.11.2001

langtexthinweis

Von Michael Girke, den ich für einen bemerkenswerten Filmkritiker halte, ist hier jetzt etwas sehr schönes zu lesen zum neuen Film der Gebrüder Coen, The Man who wasn’t there.

Dienstag, 20.11.2001

Baute said the search for victims will continue for at least the next three weeks and could be extended further.

Was ich hier gerne lesen würde [1]:

-von Thomas Arslan eine Folge von Aufzeichnungen über Filme von Hou Hsiao Hsien und Abbas Kiarostami
-von Hartmut Bitomsky ein Fortsetzungs-Tagebuch zu den Dreharbeiten an seinem neuen Film
-von Gene Reuter eine knallige Serie über die Arbeit als Nachrichten-Kameramann
-von Jan Distelmeyer Notizen über Film Studies in den U.S.A. und in Deutschland
-von Antje Ehmann eine Reihe über europäische Querschnittsfilme
-von Harun Farocki einen vielteiligen Bericht über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schneiden und Schreiben
-von Michel Freericks Notizen zu den Vergessenen des Weltkinos
-von Claudia Lenssen eine Weiterführung ihrer „Liste des Unverfilmten“ in mindestens 60 Folgen
-von Stefan Pethke Stücke über Suchen und Finden
-von Christian Petzold etwas über den bevorstehenden Angriff auf die Majors
-von Bert Rebhandl Anekdoten über den Wiener Filmtheorie-Korruptionssumpf, mit Namen
-von Angela Schanelec Texte über’s Drehbuchschreiben

Kino-Hinweis [3]

Weil den Film vielleicht noch nicht jeder kennt und weil er ein bißchen versteckt in einer Minireihe im Eiszeit-Kino Berlin läuft, hier der Hinweis auf Time Code von Mike Figgis. Zu sehen noch heute, Dienstag 20.11 und morgen, Mittwoch 21.11. um jeweils 18:30 Uhr. Der Film ist sehr bemerkenswert in vier gleichzeitigen Kadern erzählt, split-screen wäre also eine Untertreibung, aber quadrupled-screen gibt’s noch nicht als Wort dafür, Mittelalterforscher wissen wahrscheinlich am Besten, wie sowas mal genannt wurde wegen der Erforschung von Klappaltären. Außerdem läuft seine Handlung in ununterbrochener, d.h. auch nicht unterschnittener Echtzeit ab, was Handwerkerlob hervorruft, mindestens in einer Szene um Minute 20 herum, in der auf allen Screens Großaufnahmen, ohne Text, zu sehen sind. Man versteht nach anfänglicher Verwirrung über die Vielzahl der Bilder leicht die Fabel des Films zu vollziehen; eine kluge Tonmischung hebt den Sound des für den Fortgang wichtigen Bildkaders hervor. Es geht um ein Casting in L.A., zum Schluß gibt’s Tote und eine Film-im-Film-Burleske (mit einer osteuropäischen Avantgardefilmerin). Tipp.

Montag, 19.11.2001

In der Nacht, gestern

In der Nacht, gestern, liefen auf West3 zwei Filme von Joseph H. Lewis, Western, B-Filme, schwarz-weiß, der eine mit Joseph Cotton und Ward Bond und der andere mit Sterling Hayden. Ich hatte meinen Videorecorder angeschaltet, auf record gedrückt und bin ins Bett gegangen, mit Schnupfen und Kopfschmerzen. Am Nachmittag, heute, beim Lesen für eine andere Sache, habe ich die Aufnahmen stumm laufen lassen und hin und wieder einen Blick auf den Bildschirm geworfen. Zwischen den beiden Filmen, voller Gewalt und Verzweiflung und drastischer Geschwindigkeit, kam plötzlich etwas anderes, ein Interview mit Joseph H. Lewis, 1997 aufgenommen, drei Jahre vor seinem Tod 2000, natural cause nennt die Biographie der Internet Movie Database als Ursache. Da saß Lewis auf einer gepolsterten Bank an einem Tisch, halbnah aufgenommen, so dass im Hintergrund noch eine Kücheneinrichtung zu sehen war. Ich mußte an Christians Einwurf von Zuhause denken, über den Ärger mit den TV-Slots.

Die Sendung dauerte keine 15 Minuten, Lewis saß da mit einer Baseballkappe auf dem Kopf und beantwortete allerhöflichst Fragen, erzählte mit blitzenden Augen Geschichten, die er bestimmt schon tausendmal erzählt hatte, wieso sie ihn Wagon-Wheel-Joenannten (weil er immer Wagenräder dabei hatte für den Bildvordergrund, seinen Einstellungen Tiefe zu geben) und wieviel Geld die Studios ihm gezahlt haben für seine Western („Oh, you just hurt me with that question. They paid me 600 Dollars for an entire picture“)und zwischendrin waren Ausschnitte zu sehen aus seinen Filmen und Texte eingesprochen, die klug und präzise die Bilder kommentierten. Der Film war von Christian Bauer, von dem ich noch nicht gehört hatte.

Für einen Moment war da die Ahnung eines anderen Fernsehens, für 15 Minuten. Nicht 15 Minuten Ruhm, von denen immer zu lesen ist, sondern 15 Minuten Wissen, wirklicher Text, eine Zur-Verfügung-Stellung zwischen zwei tollen Filmen, die keiner heute üblichen Längennorm entsprechen. B-Filme. Neben den Kranken, den Alten, den Betreuten und den Einsamen, den Menschen, die Tabak in Hülsen stopfen und die fertigen Zigaretten in Reih und Glied auf das Tischtuch legen, sind die Videorecorder der Republik die einzigen Wahrnehmungsorgane, die von solchen 15 Minuten und solchen Filmen „live“ etwas mitbekommen. Ich stelle mir vor (weil ich an die Umsturzlust der Alten und Kranken nicht glauben mag): wie die Videorecorder einmal miteinander sprechen werden während ihrer einsamen Tätigkeit und eine Revolution abmachen in der Nacht- oder Nachmittagsschiene, keiner kriegt davon „live“ was mit, aber am anderen Tag ist das Fernsehen anders und alle wundern sich, dass es nicht schon vorher so war. Zum Schluß noch ein Bild aus einem anderen Film von Joseph H. Lewis, aus „Gun Crazy“ (USA 1949), auch bekannt als „Deadly is the female“. Jörg Becker hat in einer späten Filmkritik darüber geschrieben.

Eine Frage ist allerdings, ob das Versagen der Elektrik beim Langtextposten [M.B.] nicht auch als ein ernstzunehmender Hinweis auf die Beschränkung des Mediums zu deuten wäre, ob also grundsätzlich ein solch langer Text unsere Bereitschaft fürs Lesen im Internet nicht sehr fordert.
Ja! Meine jedenfalls. Fast alles, was mehr Platz als einen Screen einnimmt erregt die Ungeduld des „Flaneurs, der über die Strasse will und warten muss, bis die Rollerblader vorbeigezogen sind“ (Benjamin). Diese Texte, so sie interessant sind, kopiere ich oder drucke sie aus und lese später .
Dazu kommt dass -das fällt mir erst jetzt auf- jeder neue Text sich über die Vorhergehenden stellt, sich also mit je länger um so breiteren Ellenbogen Platz schafft und die anderen somit immer näher an das Fegefeuer des Archivs herandrängt.
Auch das ist nicht nett.
Wie also damit umgehen?
Ich gehe mit gutem Beispiel voran und stelle erst mal nur die Frage in den Raum.

Heute steht in der FAZ wieder etwas zur Kooperation von „Hollywood“ und „Washington“ („Gemeinsamer Feldzug: Wieder einmal haben sich Politiker aus Washington und Studiochefs aus Hollywood zusammengesetzt, um gemeinsam über die Rolle der Unterhaltungsindustrie im Krieg gegen den Terrorismus nachzudenken. VERENA LUEKEN, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.11.2001, Nr. 269 / Seite 52. Das seltsame Comeback von Hollywood als handlungs- und kriegsfähiges Subjekt hält an – bzw. eine ehemalige Sicherheit im Gebrauch des Begriffs Hollywood scheint wiedergefunden. Ich hatte mir dazu vor ein paar Wochen anläßlich des Film PASSWORT SWORDFISH Gedanken gemacht, der in den deutschen Kinocharts so auf Platz 4 liegt derzeit:
Mittendrin statt nur dabei,
nochmal editiert, hier in der knappesten, trotzdem vollständigen Form.
[11/19/2001 2:29:41 PM | Jan Distelmeyer]


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