2002

Dienstag, 05.11.2002

Fernseh-Hinweis

Mittwoch, 6.11., WDR, 23:15 Uhr: Running Out Of Time, Regie: To Kei-fung a.k.a. Johnnie To (Hongkong 1999)

Samstag, 02.11.2002

Viennale 2002

Eben aus Wien nach Berlin zurückgekehrt, entnehme ich meiner Jackentasche mit dem Reisepaß auch jenen Zettel, der mich die letzten zwei Wochen hindurch während der Viennale begleitet hat: ein dichtes Programm, in dem einige Filmtitel herausgehoben sind; es sind die, die ich sehen wollte, nicht alle habe ich geschafft. Glück ist, „Verantwortung für die Grenze zum Rausch zu übernehmen“, rief Schlingensief aus, als er aus dem Kuhlbrodtbuch vorlas (darüber muß eigens geschrieben werden) – während eines Filmfestivals hält man viel Pathos aus, und Schlingensief war an diesem Abend großartig. Die Viennale eröffnete heuer mit ETRE ET AVOIR von Nicolas Philibert, einem Dokumentarfilm über eine Grundschulklasse in der Auvergne, der mir wie ein Echo auf Rossellinis Gaukler Gottes erschien. Das Gartenbau-Kino ist von allen Festivalpalästen, die ich kenne, der beste: ein Saal für 740 Menschen, die nicht (wie in den Musicalauditorien, die bei A-Ereignissen als repräsentative Räume gelten) wie in einem Theater sitzen, sondern wie in einem Kino zu der Leinwand aufblicken, die enorm groß ist, und eines Abends, als das Bild für GERRY von Gus van Sant tiefblau wurde und der Vorhang sich zu Cinemascope öffnete, war das dan fast ein erhabenes Ereignis: eine Kamerafahrt durch die nordamerikanische Wüste, Musik von Arvo Pärt, zwei unheimliche Schnitte und eine Gefahr wie zu Beginn von Kubricks SHINING, der Matt Damon und Casey Affleck sich mit der Unbedarftheit zweier Jungen aussetzen, die außer rauchen und gehen nicht viel können. Die wagemutigen Unschärfen dieses Films wurden nur von LA VIE NOUVELLE von Philippe Grandrieux übertroffen, aber dessen exzeptionelle Horrorästhetik ist den Leidenschaften eines jungen Westmannes im wilden Osten zu weit voraus, um einen Film zu ergeben. Also der beste Fetzen der Viennale. Der beste Globalisierungthriller stammte aus dem Jahr 1933, wurde unlängst wiederentdeckt, trägt den Titel ÖL INS FEUER, Regie: Rudolf Katscher, der von Wien aus ins Exil ging. Eine Räubergeschichte zwischen Brasilien und Berlin, mit Peter Lorre in der Rolle eines Agenten, mit Aktionären und korrupten Vorständen, mit viel Zigarrenrauch und vielen Genossen von Bossen, mit ausgeplünderten Ölfeldern und einer frühen Faxübertragung, es ist alles da, wozu der deutschsprachige Film nicht mehr aufgeschlossen hat. Der schönste Gobelin der Viennale stammt von Todd Haynes: In FAR FROM HEAVEN nimmt er ein Melodram von Sirk, und statt es zu dekonstruieren, errichtet er es auf den Diskursen von Race/Gender neu, und es leuchtet nur noch intensiver – mit Julianne Moore und einem herrlich finsteren Dennis Quaid. Selbstreferentieller war da nur noch die Szene in UNKNOWN PLEASURES von Jia Zhangke, in der einer der jugendlichen Aussichtslosen in einer chinesischen Provinzstadt einen Freund auf der Straße trifft, der DVDs verkauft. Ob er XIAO WU hat, fragt er, oder PLATFORM (die beiden vorangegangenen Filme von Jia Zhangke), oder wenigstens LOVE WILL TEAR US APART (einen Hongkong-Film, der auch schon mit einem Joy-Division-Titel gespielt hatte)? Nein, der Händler hat nur Mainstream-Filme, während UNKNOWN PLEASURES ein Arthaus-Film ist, produziert mit französischem Geld, für ein Publikum, das eher Les Unrockuptibles liest als im Hinterland von Festlandchina auf DVDs von Jia Zhangke wartet. Trotzdem ist UNKNOWN PLEASURES wieder toll in seinen Beobachtungen einer umfassenden Entwertung: Des Geldes, der Körper (die Mädchen tanzen für Wodkareklame, ein Junge hat Hepatitis), der Beziehungen, zuletzt sogar des Verbrechens. der ungebärdigste Film der Viennale kam von Jean-Francois Stevenin (PASSE-MONTAGNE), der in MISCHKA eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe unter die Touristen in Südwestfrankreich mischt: Einen alten Hünen, eine junge Mutter mit einem kleinen Bruder, eine schöne Zigeunerin und mittendrin sich selbst als ziellosen Vitalisten, plus dem Rockstar Johnny Hallyday, der dort auch gerade auf Tour ist. Stevenin möchte fliegen, aber nicht mit der Kamera, sondern durch die Montage, deswegen wirft es den Film oft hin vor lauter Ausbruchsenergie, aber er rappelt sich immer noch einmal auf, und sammelt am Straßenrand seine Außenseiterbande wieder ein. Vieles habe ich versäumt, den ganzen Rivette zum Beispiel, vor allem L’amour fou; auch einen neuen Guy Maddin. Beim Abschlußfest kam dann noch ein Mann daher und sagte, er hätte in Klaus Wyborny einen „genuinen Intellektuellen“ entdeckt (SULLA hatte Premiere), und für die nächste Viennale wünscht er sich einen Tribute an Peter Watkins – das ist nun wirklich eine großartige Idee.

Jetzt fast ein Jahr “new filmkritik” – What would you have done differently?

Dienstag, 29.10.2002

Fernseh-Hinweise

Heute Abend, Dienstag, 29.10., 20:15 Uhr, auf 3Sat: Der schöne Tag, Regie: Thomas Arslan (Deutschland 2001)
Heute Nacht, Mittwoch, 30.10., 0:55 Uhr, auf arte: Rosetta, Regie: Luc und Jean-Pierre Dardenne (Belgien/Frankreich 1999)

Montag, 14.10.2002

Raumvernichtung aus Humanismus

Es gibt ein Lied von Jacques Brel des Titels CES GENS LÀ, das in der flämischen Version DAT SOORT VOLK heißt. Flämisch hier deshalb, weil man darin Nebel, Wind und Regen unausgesprochen mithört. Aber das ist vielleicht nur eine privat-mythologische Assoziation. Es ist in diesem Lied die Rede von einem dumpfen Volk, das nicht spricht und mit seiner Stur- und Starrheit das Subjekt des Sängers, der sich im Gesang Gehör und Luft verschaffen möchte, erstickt, erdrückt. Aus der Erinnerung weiß ich nicht, ob sich das Lied nur auf die Küstenbewohner oder auf ganz Belgien bezieht, aber es hat etwas mit dem Land zu tun, in dem sich die Geschichten der Filme der Dardenne-Brüder zutragen – Überlebenskämpfe im schnödesten Alltag, die die Möglichkeit von Transzendenz nur als entfernte, schwache Funken zulassen, alsbald verglimmend.

In dem Versuch, die Unausweichlichkeit der attischen Tragödie in ein graues, kleinliches Heute zu retten, sie hier zu entdecken und bloßzulegen, bedienen sich die Dardennes in ihren Filmen (LA PROMESSE, ROSETTA, LE FILS) eines strengen, quasi sakralen Rituals, einer Litanei und Beschwörung der alltäglichen Handverrichtungen. Der Mensch, wo er denn überhaupt zu erkennen ist, offenbart sich in der Summe seiner Handlungen, wobei die Nähe von Hand und Handlung hier nicht zufällig erscheint. Das Gesicht als Spiegel der Seele wird eingereiht in die Legion der Verrichtungen. Einem Kino der Identifikation gegenüber, der explizit angezeigten Gefühle, mag das anti-psychologisch vorkommen, doch hat sich die Psychologie der Dardennes einzig eine materielle Basis gesucht. Sie wissen nicht mehr über das Innere ihrer Figuren als wir Zuschauer. Spekulationen sind keineswegs Tür und Tor geöffnet. Einfühlung wird so erst wieder zu einer Notwendigkeit des Schauenden.

Von Irina Hoppe stammt die Bemerkung, wer versuche, die Psychologie ganz aus seiner Filmarbeit zu verbannen, den erschlägt sie von hinten. Was natürlich erst Bedeutung erhält durch den Umstand, dass uns das Verdikt: Das ist ja pure Psychologie, meinend: Das ist psychologisch-unterstellend also suggestiv, zur äußersten Diskreditierung einer filmischen Arbeit gerann. Dazu gesellte sich die Hypothese von: Bild mit Raumtiefe = psychologisch aufgeladen, sowie flaches Bild = anti-psychologisch. Dass diese Unterscheidung nicht hinreichend ist, lässt sich an Godards Werk erkennen, der spätestens seit Beginn der achtziger Jahre in der Lage ist, Bilder unabhängig von diesen Kurzschlüssen einzusetzen. Trotzdem funktioniert z.B. LE FILS nach der Vorgabe der konsequenten Raumignoranz, wenn nicht der Raumvernichtung. Man kann es Fokussierung nennen, man kann es Konzentration auf Tätigkeiten nennen. Oft schaut die Kamera über die Schulter des Protagonisten auf dessen Hände, dann aufs Gesicht, das die Arbeit der Hände im Blick kontrolliert, und wieder zurück auf die Hände, was sich in einem einfachen test-operate-test Schema darstellen lässt.

Diesem Vorgehen kommt entgegen, dass es sich bei der Person um einen Ausbilder im Zimmermannshandwerk handelt, einen ausgemachten Handarbeiter also, was die penible Detailversessenheit rechtfertigt. Seine Welt konstituiert sich aus dem Gegenüber von Werk- und Naturstoffen, deren Eigenschaften man erkennen muss, um mit ihnen umzugehen, um sie zu bearbeiten. Bei dieser Arbeit werden Räume allenfalls durchschritten, in der ästhetischen Repräsentation des Subjekts spielen sie keine vorrangige Rolle. Dementsprechend werden sie im Bild nicht wiedergegeben. Auch wenn der Ausbilder heimlich die Wohnung seines Lehrlings inspiziert, sehen wir in erster Linie nur ihn, wie er die Lebensäußerungen seines Anbefohlenen erfassen will – den Werkstoff verstehen – von der Wohnung selbst sehen wir nicht allzu viel. Diese Methode führt zu einer existentiellen Kargheit der Figuren, zu einer Befreiung der Personen von dem sie nach wie vor umgebenden Zivilisationsmüll – Klarheit der Person und des Konflikts. Darin ist viel Ehrfurcht vor dem Gegenstand enthalten und der Glaube an ein anthropologisch Ewiges. Die Raumvermeidung wirkt wie ein Purgatorium; sie reinigt von und schützt uns vor vorschnellen warenästhetisch-psychologisierenden Verunreinigungen und legt archaisch Geglaubtes frei. So ist das Thema von LE FILS Gnade, Vergebung und die Möglichkeit der Versöhnung oder was es bedeutet, die Rolle des Vaters anzunehmen. Im Chaos der Warenbeziehungen gelingt es den Dardennes, sich im allgegenwärtig Toten dem Leben zuzuwenden und Augenblicke der Humanität zu entdecken, die nicht verlogenem Optimismus entspringen. Es scheint, als fordere gerade der sinnliche Materialismus der Dardennes eine metaphysische Kompensation heraus. Das meint, glaube ich, Irina Hoppes Diktum, dass unbearbeitete Felder immer wieder ihr Recht fordern.

Doch ist ihre Bildführung nicht weniger apodiktisch als sie befreiend ist. Jedes Bild vermittelt: Hier guckst Du hin und nirgendwo anders. Wer freiräumt, lässt es darauf ankommen, Dinge auszulassen. Das ist der Preis. Kann hier Böswilligkeit unterstellt werden? – Ich glaube nicht, dass die Dardennes davon ausgehen, Menschen seien wandelnde black boxes, die sich in einem stimulus – respons Reflex ergehen, dabei aber von außen grundsätzlich uneinsichtig bleiben. Vielmehr handelt es sich um eine bewusste Setzung. Ihre Methode ist die der radikalen Abstraktion. Die angemessene, für sie einzige ästhetische Lösung für dieses eine spezielle Problem. Dass das ideologisch besetzt sein mag, ändert nichts an den ästhetischen Befreiungspotentialen.

… und dann … und dann … und dann … und dann ist da noch Jan – schwingt sich die Sängerin aus ihrer Litanei über DAT SOORT VOLK empor, Jan, der sie hier herausholen wollte, aber irgendwie hat auch das nicht geklappt, alles bleibt beim Alten. In LE FILS dagegen ist am Schluss die Welt unverhofft offen, findet zum Licht ohne den Gebrauch korrumpierter Sprache. In einem klitze-kleinen Teil Welt ist Versöhnung vielleicht möglich. Genaueres lässt sich nicht sagen.

Donnerstag, 10.10.2002

Lieber Jan,
ich war, vor allem vom 2. Teil unseres Gesprächs zu Deinem WINDTALKERS-Text in film-epd 8/2002, so angeregt, daß ich auf einer anschließenden Zugfahrt Notizen machte, die ich nun maile. Zugleich war ich am Telefon etwas überfahren. Das, weil ich feststelle, zunehmend langsamer zu denken, leider viel Zeit zu benötigen, damit sich zum Film auch nur annähernd das einstellt, was man Klarheit nennen könnte. So vermochte ich zu Windtalkers nichts als Flüchtiges, Angedachtes, Fetzen beizutragen. Wenn das, wie Du sagst, „voll auf Linie liegt“, dann möchte ich hiermit von dieser Linie aus einige vorsichtige „Anstöße“ zu einer irgendwann zu führenden Windtalkers- Debatte (die sich hoffentlich nicht in der Diskussion ausgerechnet dieses Films erschöpft) schon liefern.

Um nicht von zu vielem zu reden: Windtalkers beginnt und endet mit Bildern des Monumental-Valley. Das sind Bilder aus einer überdeterminierten Ikonographie, die ich nur als Verweise auf eben diese Ikonographie lesen kann.
Hieraus ergibt sich m.E. ein dominantes Thema des Films: Wie Figuren dieser Ikonographie (die Indianer) auf Figuren aus einer anderen Ikonographie treffen (die amerikanischen Soldaten) und was sich daraus ergibt. Anders formuliert: Wie läßt sich das Markenzeichen John Woo in diesen Ikonographien plazieren und etablieren?
Zudem betont der Film an vielen Stellen bestimmte Blicke: Den von Joe Enders auf Yahzee, den von Yahzee auf Enders. Die „objektive“, nachvollziehbare (Kriegs-)Handlung scheint mir gegen diese Dramaturgie der Blicke zweitrangig. So ist der Film nur sehr sehr bedingt lesbar als einer über den 2. Weltkrieg. Zumindest mir will es nicht gelingen, die Verweise und den Gestus des Films zu lesen als „Es ist Krieg!“ Was ich sehe, kann man, verkürzt, nennen: „Es ist Kunst“.

Ist das nicht ein Unterschied ums Ganze? Zum Beispiel zu Nachrichtenbildern oder denen von Guido Knoop? Zu Inszenierungen also, die eben jene Ausrufezeichen setzen: „Es ist Realismus“ und also „Es ist Krieg!“ Ist nicht ein nervendes Problem – von den Promotionsabteilungen der Filmfirmen, von gängigen Betrachtungsweisen und der Mainstream-Filmkritik genauen Lesarten (was man so nennt) und vor allem auch Filmen selber aufgehalst – daß man sich bis heute herumschlagen muss mit Wahrnehmungen von Filmen, die Realismus selbst da hinein lesen, wo Filme dies nicht nur nicht nahelegen, sondern offen ausstellen, dass sie ganz und gar nicht auf Realismus aus sind? In der Tat, Filme wie „Wir waren Helden“ wirken auf mich, als hätten sie sich zum Ziel gesetzt, die Erfüllung all der als Filmkritiken getarnten Wünsche zu sein, die ich vor 4 Jahren in meinem Text zu „Soldat James Ryan-“ zitiert habe, also die angemaßte Realisierung des Phantasmas, es ließen sich objektive, authentische Bilder (und damit Erlebnisweisen) des Krieges mit (Spiel-)Filmmitteln herstellen.
In Windtalkers aber geht es in etwa so um Erinnerung, wirkliche Geschichte oder Wahrscheinlichkeit, wie es in einem Film von Joseph von Sternberg mit dem Titel „Scarlet Empress/Die große Katharina“ um die wirkliche geschichtliche Figur der Zarin Katharina geht.

Wo es in Windtalkers um wirkliche geschichtliche Aspekte geht, gibt es einen augenfälligen Bruch, gerät der „John Woo-Film“ in Widerspruch zu „seiner“ Geschichte, liefert er andere Bilder. Das sind die eineinhalb Szenen, in denen sich der Film um das Versprechen kümmert, das der Filmtitel auch gibt, nämlich sich für die Codesprecher als solche zu interessieren und damit für die kriegsentscheidende Bedeutung von Codes, von Technologie und wie sie den Krieg verändert und die Stellung der Person in ihm.
Wenn der kleine Nicolas Cage-Trupp die Ausrichtung des Geschützfeuers verändern muß, werden die Codes wichtig und ihre Folgen, die aus den Rohren der Riesengeschütze der Schlachtschiffe erwachsen. Man kann die Bilder der durch ihr eigenes Tun plötzlich sehr klein und sehr bedeutungslos werdenden Hauptfiguren kritisieren, weil sie diesem maßlosen Feldherrenblick so entsprechen, der einzelne Menschen zu bedeutungslosen Statisten großer geschichtlicher Ereignisse (oder imposanten Bildern davon) macht. Gleichwohl ergeben diese Bilder einen seltsamen, inkohärenten Film im Film, den ich bemerkenswert finde, weil das, was er visualisiert, so gar nicht aufgeht in der Geschichte dieses Films oder Geschichten, die man erzählt über ein seit Jahren laufendes Kriegsfilmprojekt Hollywoods. Und: Weil dieser Film im Film zu Windtalkers gehört, das heißt, mit den anderen Bildern zusammen gedacht, jeden leicht ermittelbaren, somit leicht verfügbaren Sinn dieses Films (sowie eine abgeschlossene Beurteilung) in Frage stellt.
Man kann in Windtalkers einen bestimmten Stilwillen beobachten. Einen, der offen ausstellt, dass er nicht historisch oder geographisch rekonstruiert, der auf anderes aus ist. Wenn man diesem Stilwillen, verkürzt gesagt, anmaßenden und schlechten Realismus („Es ist Krieg“) vorwirft, ist das nicht so, als werfe man der Kunst vor, Kunst zu sein?

Fragen: Kann man Enders (und schließlich Yahzee) nicht, neben anderem, als Varianten der Kapitän Ahab-Figur betrachten? Und, vorausgesetzt das trifft zu, macht Kapitän Ahab hier nicht einen Lernprozess durch, tritt er nicht auch neben seinen Wahn (der keinesfalls nur verständlich und legitimiert, sondern auch als Motor einer Katastrophe im Bild ist: Der Katastrophe des vom Soldatischen strukturierten, unerträglich engen und brutalen Raumes, der der Liebe nicht mehr zugänglich ist)? Entwickelt er nicht einen Blick, der Unterscheidungen möglich macht und spaltet sich darüber auf – und wird so fähig Teil eines Gemeinwesens, einer Familie, einer Liebe zu sein? Anders gefragt: Ist Windtalkers nicht auch Wiederholung, Variante und milde Kritik von „The Searchers“? Und was war die tiefere Motivation von „The Searchers“, was ist der (historische) Gehalt dieses Films?

Wie die Windtalkers-Bilder korrespondieren mit der Romanvorlage und dem Drehbuch des Films;
wie Motive, Einstellungen, Konflikte (und ihre Auflösungen) dieses Films korrespondieren mit anderem Material der Filmgeschichte, mit gegenwärtigen Kriegsfilmen (kann man die „Nah-Dran-Einstellungen“ bei Explosionen nicht neben anderem auch als Production Values betrachten, als State of the Art filmischen Designs, daß man in Hollywood benutzt und benutzen muss, woraus aber noch nicht das Projekt des jeweiligen Films abzuleiten wäre?) oder mit Bildern anderer Filme des John Woo;
wie die Themen, Konflikte (und ihre Auflösungen) korrespondieren mit Gesetzmäßigkeiten von Genres und mit (amerikanischen) Mythen (alten, ewigen oder gegenwärtigen);
vor allem: In welcher Relation einzelne Filme oder filmische Werke zu dem stehen, was man Realität nennt – aus all dem mag sich ergeben, ob es sinnfällig ist, beim Regisseur von Windtalkers von einem Autor zu reden.

„Einmal mehr ist der Krieg im Kino nicht nur ein Ort, an dem die Probleme kulminieren, sondern auch der Modus ihrer Auflösung“ schreibst Du in Deinem Windtalkers-Text. Wenn man das „im Kino“ ersetzt durch „in der Filmkritik“ macht der Satz auch Sinn. Und aus dem, was der veränderte Satz markiert, ergibt sich mein Diskussionsbedarf.
Was sich aber monumentaler und melodramatischer anhört, als es gemeint ist. Ich bin sicher, Dir nichts Neues und darüber hinaus eher Schlichtes mitzuteilen. Es geht mir um die Diskussion von drei Gedanken: Filme der gegenwärtigen Blockbuster- und Kriegsfilmwelt lassen sich mannigfaltig unterscheiden.
Die Kategorie des Autors kann – überhaupt, aber auch in der Blockbuster- und Kriegsfilmwelt (allerdings nach einer Klärung ihrer Voraussetzungen, zu der es in der Mainstream-Filmkritik nie wirklich kommt – mit grotesken Folgen) – kein Qualitätsmerkmal, aber durchaus angemessen und praktikabel sein.
Durch welche Gesten und Verfahren werden Filmkritiker wahrnehmbar und wichtig (zu Autoren)?

Viele Grüße,
Michael Girke

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Lieber Michael,
mir ging es auch so: Bei unserem ja ziemlich langen, zweigeteilten Telefonat fehlte mir trotzdem die Zeit, all das zu sagen, was da irgendwie hinaus mußte. Das hängt, denke ich, damit zusammen, dass wir eigentlich (oder zumindest ich) ständig parallel zum Film auch über die prinzipielle Frage nach der Autorenschaft im populären Kino redeten – dass da zwei Themen, die vielleicht auch gar nicht voneinander zu trennen sind, auf ein Mal bearbeitet sein wollten, und noch dazu von Zweien, die (so war jedenfalls mein Eindruck damals) unterschiedlich mit der Frage nach dem auteur umgehen. Gerade darum finde ich Deine Idee, ein paar Gedanken dazu schriftlich und quasi in einem Rutsch anzugehen, inzwischen (nach Bedenken, keine Zeit zu haben & doch eigentlich den direkten Dialog zu bevorzugen) klasse. Ich nehme einfach mal Deine Anmerkungen als Ausgangspunkte.

Ja, die Monumental-Valley-Szenen sehe ich ähnlich wie Du als Teil einer, wie Du schreibst, „überdeterminierten Ikonographie“. Ich wäre nur dafür, sie nicht gleich als „Verweise“ auf ihre eigene Bild-Geschichte zu akzeptieren, sondern sie zuerst eben als Teil dieser Ikonographie zu beobachten. Als stereotype Repräsentationsmuster mit einer eigenen Geschichte von Identifikation und Repression; als Bilder, die uns verständlich „Indianer“, „Ursprung“ und „Natürlichkeit“ sagen sollen und die inzwischen natürlich auch den Untergang oder die Bedrohung dieses „Anderen“ mitsprechen.
Die dominanten Fiktionen zu „US-Soldaten“ und zu „Indianern“, die sich in WINDTALKERS zeigen, sehen nicht nur anders aus, sind auch in ihrer Entstehungsgeschichte und in ihren Integrations- und Ausschlußverfahren voneinander unterschieden. Insofern (und das scheint mir ein Problem des Films im Umgang mit diesen Bildertraditionen zu sein) ist es dann auch nicht überraschend, dass die Gruppe „der Soldaten“ heterogener ist als die „der Indianer“, deren Inszenierung traditionell immer schon auch eine geschlossene, ursprüngliche Form von Gemeinschaft behauptet.

Auch dieses Verhältnis von Hetero- und Homogenität ist ein historisch gewachsenes. Es gehört zu der „überdeterminierten Ikonographie“, von der Du sprichst – ich kann nur einen „Verweis“ darauf, also eine ausgestellt bewußte (vielleicht sogar kritisches) Beziehung des Films dazu, kaum entdecken. Wo ist der Punkt, von wo aus hier gezeigt, verwiesen wird? Noch dazu: Wenn wir uns einig sind, dass wir es hier mit Stereotypen zu tun haben, dann ist es im Sinne des möglichen Verweises doch auch interessant, dass beide Stereotypen am Ende (jedenfalls aus meiner Sicht) ungebrochen sind und – auf ihre Art – bestätigt werden. Allenfalls hat die Armee und der Krieg die Kameraden über alle (auch inneren) Widerstände hinweg zueinander gebracht. Zwischen den Waffengängen ein kleines Konzert, WhiteHorse an der Indianer-Flöte, Henderson an der Westerner-Mundharmonika. Selbst der einzige Rassist in der Kompanie wird bekehrt, und wenn Nicolas Cage am Ende sagt: „We saved a lot of marines today“, dann ist das nicht nur ein Genre-Ritual, sondern auch innerhalb der Logik des Films schlicht „richtig“.

Ich will damit nicht sagen, dass WINDTALKERS dominante Fiktionen bruchlos fortführe – schon deshalb nicht, weil ich nicht glaube, dass ein von so vielen für so viele konstruiertes Kulturprodukt/Kunstwerk so einfach funktioniert. Du hast recht, dass es in WINDTALKERS auch darum geht, wie man sich anschaut. Und genau das hätte auch ein Thema werden können, das die, wie Du schreibst “ „objektive“, nachvollziehbare (Kriegs-)Handlung“ in den Hintergrund rückt. Mir scheint es nur so zu sein, dass diese Frage der Blicke aufeinander sehr stark innerhalb der Kriegsfilmgeschichte verhaftet bleibt – sowohl in der des Films als auch in der des Genres. Die Dramaturgie zielt ja auch darauf, offensichtlich rassistische Klischees (ein paar Mal wird Yazeeh „Wilder“ genannt“ und die Frage nach dem Feind auch in Bezug auf Yazeeh gestellt) aufzulösen und auch darauf, dass sich Enders und Yazeeh letztlich als Kameraden und Freunde blutend und fast wie ein Liebespaar in den Armen liegen. (Zu der Tradition dieser Arm-in-Arm-Ikonographie des Kriegsfilms hat John Newsinger mal geschrieben: „The experience of battle is shown as binding men together in a way that no other experience can and, of course, it is an experience that only other men can share. Men die in other man-s arms, combat is what being a man, being a warrior, is all about.“) Wenn wir also sagen wollten, dass WINDTALKERS auf Stereotypen verweist, dann tut er das – mal ganz grob und über alle Widersprüchlichkeiten hinweg gesprochen – bis zum Ende und erfüllt sie auch mit der letzten Szene, wenn wir wieder im Monument Valley, wieder in der „Indianer-Kultur“ sind und Yazeeh den erfolgreichen Abschluß der Mission, binding men together, bestätigt: „If you want to tell a story about him, tell he was a friend.“ Anders gesagt: Ein Verweis auf etwas hat für mich immer etwas mit einer Distanz zu tun, mit einem Standpunkt, von dem aus man auf etwas anderes verweist. Und meiner Meinung nach gelingen WINDTALKERS in diesem Sinne kaum Verweise, sondern vor allem Affirmationen, weil er immer schon drin steckt in der Ikonographie.

Darum würde ich bei Deiner Unterscheidung „Es ist Krieg!“ (also „Realismus“ – wer auch immer das entscheidet) vs. „Es ist Kunst!“ ( oder „Stilwille“) erstmal diesen Kunst-Aspekt betonen und befragen: Woraus speist sich dieser Stil, was macht ihn aus, worauf beruft er sich, was blendet er aus, wo will er hin und was geschieht dabei mit mir? Ist es nicht so, dass WINDTALKERS in den Gefecht-Szenen etwas von dem inszenatorischen Gestus der beweglichen Frontschweinkamera hat, die in der Rezeption von SAVING PRIVATE RYAN und anderen Kriegsfilmen ziemlich häufig als „beklemmend authentisch“ als größtmögliche Nähe zur „Wahrheit des Gemetzels“, als „the nature of war“ usw. übersetzt worden sind?
Ganz sicher hast Du recht damit, dass die „“Nah-Dran-Einstellungen“ bei Explosionen (…) auch als Production Values (…), als State of the Art filmischen Designs“ betrachtet werden können. So sieht Action und Krieg halt heute (immer öfter) aus, könnte man vielleicht sagen. Und mir geht es auch gar nicht darum, daraus „das Projekt des jeweiligen Films abzuleiten“. Ich entdecke aber Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten zu zeitgenössischen und historischen Kriegsfilmen – und selbst wenn wir diese Mittendrin-statt-nur-dabei-Ästehtik als Production Value sehen: Hat dies nicht einen Effekt auf das, was mit diesem Production Value erzählt wird? Kann man sagen, dass diese Inszenierung von Krieg eine eigene Kriegsgeschichte (und Kinogeschichte und Filmkritikgeschichte) erzählt, die inzwischen so etwas wie konsensfähig ist und gerade als Production Value andere Bilder verhindert, die unser intuitives Verständins von „so sieht Krieg aus“ stören könnte? Deshalb hatte ich in meiner Kritik das ziemlich nebulöse Wort „langweilig“ gebraucht – weil ich diese point-of-view-combat-Ästhetik in Verbindung mit dem leidenden Soldaten in den Klauen der „Bestie Krieg“ nicht mehr sehen will. Mich macht das wütend und erinnert mich in der behaupteten Allgemeingültigkeit von Kriegs-Bildern an Rudolf Scharping und die Bild-Zeitung, deren Fotos aus Jugoslawien („Wir dürfen nicht wegsehen!“; „Sie treiben sie ins KZ!“) den NATO-Kriegseinsatz hierzulande für eine breite Öffentlichkeit intuitiv verständlich und notwendig erscheinen lassen sollten.

Ich merke gerade, dass ich endlos weiter über viele Punkte schreiben könnte, die Du in Deinen Anmerkungen nennst, und die ich alle sehr wichtig und bemerkenswert finde. Dazu gehören auch die Bezüge zu Ahab und Ford, wobei Ahab uns auch direkt zu PLATOON führen würde. Weil das aber alles zu lang wird, will ich mich auf eins beschränken, das mich schon lange umtreibt & das dann auch die WINDTALKERS-Debatte (vorläufig) verlässt. Ich möchte die Diskussion aufnehmen, die Du zum Verhältnis von Film, Autor und Filmkritik anregst; genau diese Debatte, in der die Frage nach Autorität und ihrer Konstruktion vielleicht im Zentrum stehen könnte, scheint mir extrem nötig.
Du schreibst von den „gängigen Betrachtungsweisen und der Mainstream-Filmkritik“ und setzt dagegen u.a. die Frage, wie sich das Markenzeichen John Woo in diesen Ikonographien plazieren und etablieren ließe. In unserem Telefonat war das noch deutlicher gewesen, als Du von John Woos Perspektive gesprochen hattest, mit der sich Woo als Nicht-Amerikaner den US-Themen/-Genres zuwendet. Gegen das Reden vom „Realismus“ (was ich auch ziemlich bescheuert finde) setzt Du „Kunst“ und einen „bestimmten Stilwillen“ und fragst danach, wie hier eine Kategorie des Autors „angemessen und praktikabel“ angewandt werden kann.
Mein Problem ist erst einmal: Zu den „gängigen Betrachtungsweisen und der Mainstream-Filmkritik“ gehört nicht nur das Rekurrieren auf einen problematischen Realismus-Begriff, sondern auch und gerade die Suche nach dem Autor, bzw. dem auteur. Seit Jahren wird John Woo als „action auteur“ gehandelt und fast jede Filmkritik, die ich zu WINDTALKERS gelesen habe, arbeitet sich daran ab. Um als Filmkritiker seine Autorität unter Beweis zu stellen, werden traditionell Filmemacherautoritäten erkannt, benannt, diskutiert und etabliert. Und wenn ich dabei von Filmkritikern und Autoren spreche, und nicht von Filmkritikerinnen und Autorinnen, dann ist dies auch eine Reaktion darauf, dass dieses Verfahren des Spiels um Autorität seit der politique des auteurs traditionell eine Angelegenheit unter Männern ist, deren (implizite) Kategorien von Genie, starker Kreativität und künstlerischer Durchsetzungskraft eng an traditionelle Bilder spezifischer Männlichkeit gebunden ist.
Ich würde darum gerne zunächst von der Suche nach dem auteur als einer kommerziellen Strategie reden und von der ideengeschichtlichen Tradition dieser Konstruktion des „Manns hinter dem Film“, die auch meine Kinosozialisation stark geprägt hat. Darum ging es auch in meiner Filmkritik zu WINDTALKERS: Durchaus trotzig zu sagen, dass ich bei diesem Entdeckungsspielchen (wo steckt denn der Meister?) erstmal einfach nicht mitmachen will und gleichzeitig davon reden, dass dies zu WINDTALKERS (auch zur PR des Films) dazugehört. Ich weiß, dass die Kategorie des Autors durchaus spannende Fragen an den Film stellen könnte. Mir scheint es nur gerade im Augenblick wichtig, auf die Implikationen und Bedingungen dieser doppelten Autoritätsstiftung (Kritiker und Filmemacher versichern sich gegenseitig ihrer Autorität, siehe z.B. die Interviews zu WINDTALKERS) hinzuweisen, um anders vom auteur zu reden. Nämlich als vor allem nachträgliche Konstruktion unseres Blicks, mit dem wir dem Gesehenen und Gehörten (das ja von sehr vielen verschiedenen Kräften produziert worden ist) „Sinn“ geben. Bei der Produktion von Bedeutung spielt unsere Arbeit als Publikum ja eine ungeheure Rolle, und eben diese Arbeit nachträglich auf das Regie-Subjekt zurückzuführen, scheint mir falsch. Noch dazu, weil die historischen Produktionsprozesse sehr oft diesem Master-Plan widersprechen.

Ich denke, dass wir damit gar nicht weit auseinander liegen. Welche Rolle spielen dominante Fiktionen sowohl in Filmen als auch in Filmkritiken? Wie funktioniert „Verstehen“ in diesem Zusammenhang? Du fragst: „Durch welche Gesten und Verfahren werden Filmkritiker wahrnehmbar und wichtig (zu Autoren)?“ Dazu gäbe es sehr viel zu sagen – auch, dass spätestens seit Mitte der 50er Jahre, als Truffaut, Godard und die anderen als Filmkritiker Hitchcock und Hawks als Künstler etablierten, die Entdeckung von Filmemacherautoritäten ein wesentlicher Teil dieser Gesten und Verfahren ist. Natürlich ist jeder veröffentlichte Beitrag potentiell eine Geste, mit der man sich einen Namen macht. Auch eine Kritik am auteurismus oder an Tendenzen der aktuellen Filmkritik kann dazu prima dienen. Bourdieu hat vorgemacht, wie man als dezidierter Kritiker von Autoritätskämpfen, des „Ringens um symbolisches Kapital“, selbst unbestrittene Autorität werden kann. Mir erscheint es als das beste, mit diesen Problemen und Fragen so transparent wie möglich umzugehen. Vielleicht könnte hier ja eine Diskussion darüber beginnen, wie das aussehen kann. Wie kommen wir in ein Verhältnis zum jeweiligen Film? Von wo aus sprechen wir? Und wie können wir beim Schreiben auch von unsere Bedingungen des Filmverstehens und Schreibens handeln?

Viele Grüße,
Jan Distelmeyer

Montag, 07.10.2002

Presseschauen

Kam hier noch nicht vor: filmz.de: mit links zu allen vielen deutschsprachigen Rezensionen (neu)angelaufener Kinofilme.

Donnerstag, 26.09.2002

Gott allein weiß, was Brian Wilson meinte
In dem Film L’amour, largent, l’amour wird die Liedzeile oben, God only knows what Brian Wilson meant, mehrfach wiederholt. Ich weiß nicht, wer dieses Lied auf dem Soundtrack singt, aber es ist eine schöne Ellipse, in einem Film zur verrückten Liebe einen Popsong fragend und zweifelnd auf einen Popsong verweisen zu lassen, den Popsong vielleicht über das Gefühl des Geliebtwerdenmüssens und des Verlorenseins ohne das Geliebtsein durch eine/n Bestimmten, God only knows what I’d be without you. Und natürlich wird L’amour, l’argent, l’amour zum Schluß auch, nach 137 Minuten, zu der filmischen Entsprechung eines solchen Geschicks.
L’amour, l’argent, l’amour sah ich zuerst Anfang des Jahres mit Stefan in einer dieser Samstagmittagveranstaltungen ungestarteter Filme im Arsenal, Berlin. Stefan war auch dabei, als wir vor längerer Zeit Grönings TERRORISTEN auf Video sahen. Den Film mochte ich damals nicht besonders. Um den Film herum, und dessen Ausstrahlung im Ersten Fernsehprogramm, Anfang der 90er, gab es einen Skandal, an die Einzelheiten erinnere ich mich nicht – schaltete sich der Bayerische Rundfunk aus dem abendlichen Sendeverbund, weil in dem Film eine avantgardistische Terroristen-Kunstgruppe in einem hamburger Loft ein Attentat auf Helmut Kohl plante und dann auch -scheiternd?- durchführte? TERROISTEN mochte ich nicht sehr, weil er mir zu sehr um das kalkuliert Skandalöse herumgebaut schien; bei seiner bewußt scheiternden modernistischen Artifizialiät kam mir fast das Kotzen. Heute Nachmittag blätterte ich in der Programmzeitung und entdeckte den Ausstrahltermin von L’amour, l’argent, l’amour auf Arte. Ich suchte ein paar Bilder zusammen im Netz und notierte den Film als Fernsehhinweis ins Weblog. Ein Text zu dem Film war mir nicht eingefallen.
Beim Angucken des Films sind mir die Sachen vom Wolfgang Schmidt von dieser Seite eingefallen. Ein/Aus. Fernsehberichte. Wenn Wolfgang Schmidt diesen Text hier schreiben würde, stände jetzt vielleicht auch noch was über Hans-Dietrich Genscher, der in der DAS WERK/arte-Geldscheffel-Reihe “Why are you creative?”, die dem Gröningfilm folgte, nach Kreativitiät, seiner Kreativität gefragt wurde. Irgendwie raffte er, altersweise erscheinen wollend, zwei, drei Substantive zusammen. Phantasie und so. Und das man mit sich im Reinen sein müsse, wegen der Kreativität. Auf dem Wörterberg würde Treffendes stehen können darüber, wie die Kreativen der Wenderschen Sorte Vorschub leisten für nachhaltige semantische Verschiebungen sozio-ästhetischer Begriffe im Sinne Hartzs und Späths. Ich kann sowas nicht schreiben. Ich kann darüber schreiben wie Ludger mir vor Jahren aus der Zeitung die Geschichte von den beiden Jungen erzählte, 12 und 13 Jahre alt: wie sie ein Auto klauen, von Berlin, Marzahn auf die A10 bis nach Hamburg und zurück und kurz vor ihrer Wohnung erst, in Berlin, von der Polizei gestellt werden nach einem Tag und einer Nacht und in der Zeitung habe nichts darüber gestanden, was zwischendurch geschah; und wie man sich aber einen Film ausdenken könnte, der davon, davon was da zwischendurch geschehen könnte, etwas zeigen würde. Bei L’amour, l’argent, l’amour, Grönings Film heute abend, stellte ich mir wider besseren Wissens vor, wie Gröning den großartig ungelenken Schauspielern in Berlin einfach nur Mikrophone angesteckt habe und der Kamerafrau Filme in ihre Tasche gelegt und gesagt: nun mal los, macht mal, wir sehen uns dann in Hamburg. Und wie sie dann losfahren, zu dritt, von Berlin übers Ruhrgebiet nach Duisburg und von dort über Paris an den Atlantik.
Ich habe mir nie die Mühe gemacht, etwas über Roadmovies zu lesen. Ich gucke sie mir aber andauernd an. (Demnächst: Badlands, von Terence Malick, auf Arte.) Fernsehgucken kann man nicht mit Roadmoviegucken vergleichen, es ist eher wie Spazierengehen in Redlightvierteln, kaum ist man an einem Haus vorbeigekommen, zerrt ein nächster Türsteher einen in sein Boudoir, Hans-Dietrich Genschers Auffassungen zur Kreativität zu lauschen. Ich möchte aber noch etwas über den Film von heute schreiben. Aber der Durchmesser meines Fernsehers beträgt etwa dreißig Zentimeter. Als ich Michael heute anrief, um ihn daran zu erinnern, den Film von Gröning nicht zu verpassen, versprach ich ihm vor allem dessen Farben – natürlich hat das Farbenwahrnehmen auch etwas mit dem großartigen Filmfarbenbuch von Frieda Grafe zu tun (Frieda Grafe: Filmfarben, mit Die Geister die man nicht loswird. Ausgewählte Schriften in Einzelbänden, Band 1. Berlin: Brinkmann und Bose, 2002). Im Kino packten mich die Farben von L’amour, L’argent, L’amour spätestens als das Paar Berlin verlassen hatte, im Winter. Aufwachen im Auto auf einem abgeernteten, vereisten Feld. Die Haare kleben an einem oder stehen zu Berge. Und es hat einen schlechten Geschmack im Mund. Und man friert. Und die ganze Leinwand ist schmutzigweiß. Vorher waren die Geschehnisse im Film fast immer in Nacht zu sehen und dann auf einmal dieses überstrahlende Weiß. Stefan und mir schmerzten die Augen im Kino davon. Wolfgang Schmidt schrieb hier einmal etwas über die aufrauhende Funktion des Fernsehens. Dass das Fernsehen die Sujets greifbarer macht, und die Knoten, Übergänge, Scharniere einer Erzählweise diskursiver. Als ich aber bei Michael heute für den Film warb, wollte ich ihn mit dessen artaudscher Rauhheit und vorbehaltloser Unmittelbarkeitsemphase überzeugen, die sich bei meinem Fernsehen des Films aber fast restlos auflöste. Beim Gucken jetzt war mir auch noch Punk eingefallen. Die drei Akkorde und die Unbedingtheit, die es braucht, einen Film zu machen. Ich finde es ganz unverständlich, dass es keinen Verleiher hier gibt, der diesen Film in die Kinos brachte.

Mittwoch, 25.09.2002

Fernseh-Hinweis


L’amour, l’argent, l’amour
, Regie: Philip Groening, Kamera: Sophie Maintigneux, CH/F/D 2000, 137 Min.
Heute, Mittwoch, 25. September, 22:45, arte

Montag, 02.09.2002

In Erinnerung an Frieda Grafe

Textbeitrag zu gleichnamiger Veranstaltung im Kino Arsenal Berlin am 01.09.2002

„Mir wär’s lieb, wir könnten über den Film noch einmal reden, und ich dürfte Ihnen Fragen stellen. Oder finden Sie das ungehörig, weil ich allein damit zurande kommen müsste.“
(Aus einem Brief Frieda Grafes vom 17.01.1997)

Begegnungen mit Frieda Grafe – nur eben zwei oder drei Dinge

Rote Lippen soll man küssen, denn zum küssen sind sie da, … – seltsame Assoziation zu einem Seminar, in dem es um die Geschichte des Dokumentarfilms geht. Eine der wenigen Begegnungen mit Frieda Grafe, bei denen ich ihr direkt gegenüber saß. Sie war eine erotische Erscheinung und das zuallererst. Die Lippen sorgfältig nachgezogen mit einem Rot, das zu den aktivsten gehört, die man finden kann. Die Hände verschränkt vor dem Busen, die Handinnenflächen ihm zugewandt, nicht zufällig oder doch? Warum es gerade hier „der“ Busen heißt, ist der deutschen Sprache geschuldet.

Vor Beginn des Seminars waren noch ganz andere Stolpersteine zu meistern. Wieder und wieder erklärte sich die Referentin als eher nicht kompetent. Aber wenn sie es schon machen würde, dann sei dieses und jenes auch in Betracht zu ziehen. Das Ergebnis war eine Filmliste, die wenigstens 40 Filme, möglichst in der Originalversion, umfasste, um die Bodo Knapheide, als der Studienleitung der dffb zugehörig, sich sorgte. Tatsächlich gelang es ihm immerhin 20 davon rechtzeitig aufzutreiben. Das stürzte Frieda Grafe in Verzweiflung, weil ihr Argumentationsbogen für sie so nicht mehr aufrecht zu erhalten war.
– Weiterhin waren diese 20 Filme in einem zwei- oder dreiwöchigen Seminar überhaupt nicht zu bewältigen, so dass viele Filme ungesehen zurückgingen.
– Hinzu kam, dass ihre Seminarteilnehmer, ungefähr fünf an der Zahl, sämtlich dem Französischen insofern ignorant gegenüber standen, als dass sie einem französischen Film in Originalversion nicht ohne Weiteres folgen konnten.
Und das einer Frankophilen wie ihr – damit hatte sie nun wirklich nicht rechnen können. Wie auch anders verstand sie die Geschichte des Dokumentarfilms als Geschichte des Films. Das Thema hatte ihr die Filmakademie als Klotz so gestellt. Da ihr Blick aufs Ganze ging, kam es nicht in Frage, sich auf einen Bereich zu beschränken. Das Ergebnis war ein vermeintlich heilloses Durcheinander, in Ordnung gebracht durch die strukturierende Kraft ihrer filmischen Leidenschaft. Wie Anna Karina in VIVRE SA VIE, deren Tränen hemmungslos kullerten im Angesicht von Dreyers JEANNE D’ARC, fanden wir sie nach der Projektion von Straubs LOTHRINGEN! im wiederaufscheinenden Licht weinend vor.

„Ich nehme ihre Filme zu persönlich. Sie machen mich so betroffen, daß ich auf Anhieb den Sprung in die notwendige Abstraktion nicht schaffe. Ich müsste es besser wissen und längst die Methode darin erkannt haben.“
(SZ, Nr. 222, 26. Sept. 1997: Patrioten im Niemandsland)

ZORN’S LEMMA von Hollis Frampton wurde wieder und wieder besprochen, immer mit der Befürchtung, ob denn so viel Abstraktion jungen Menschen heute überhaupt noch zuzumuten sei. Sie zeigte uns CHARLOTTE ET SON JULES, in dem bereits alles angelegt scheint, was Godard später zu voller Blüte entwickelt. Den Moscheefilm von Jean Rouch (LA MOSQÉE DU CHAH À ISPAHAN) sahen wir uns mehrmals an, weil ihre Begeisterung für dieses Stück Architekturfilm alle mitgerissen hatte, so dass wir auch gerne noch ihrer Aufforderung folgten, den Film am Abend in einer Veranstaltung im Arsenal, die Helmut Färber ausrichtete, ein weiteres Mal zu betrachten. An diesem Filmabend muss es gewesen sein, da alle Krähen Brandenburgs sich in den Wipfeln der Fuggerstraße versammelt hatten. Als das Publikum das Kino verließ, stoben sie auseinander, setzten sich erneut, brachen wieder als schnatternde, krächzende Wolke gen Himmel auf, blieben ihrem Standort aber treu. Mehr als Hitchcock sich jemals hätte ausdenken können – sie war beeindruckt; immer wieder kam sie auf das unglaubliche Ereignis dieser Versammlung der Vögel zurück – ungezügelte Naturgewalt.

Sie schimpfte, dass die filmtheoretischen Beiträge aus USA sich seit Jahren nur den Genderstudies zuordnen ließen, und gleichzeitig gewann man den Eindruck, dass ihr dieser Sachverhalt nicht so ungelegen kam. Sie zeigte uns THE SAGA OF ANAHATAN, dieses letzte sternbergsche Kunstprodukt aus Studiotechnik und Kabukiexotik, als dokumentarischen Versuch. Und irgendwie kam die Sprache immer wieder auf Carl Einstein und Jean Renoirs TONI, obwohl der Film gar nicht auf der Liste und somit auch nicht zur Verfügung stand. Sie hatte eine Vorführung des Films im Arsenal einige Jahre vorher begleitet. Die Beteiligten trafen sich im Anschluss in einem italienischen Restaurant um die Ecke. Harun Farocki saß mit Frieda Grafe an einem Tisch, machte aber seine Honneurs später auch an anderen Tischen und erzählte uns dabei, wie sie jedes Gericht kommentieren und bestimmen konnte, was daran z.B. alles falsch zubereitet gewesen sei. Ihm hätte es aber geschmeckt. Das klang mehr behauptet als überzeugt. Das Auge hatte mitgegessen.

Als mir ein Text von Brigitte Wormbs in die Hände fiel, ‚Utopia schwarz auf weiß – Aufzeichnungen zu Carl Einsteins Entwurf einer Landschaft‘ (in: Brigitte Wormbs: Raumfolgen, Darmstadt 1986) ließ ich ihr eine Kopie als Hinweis für ihre Einsteinforschungen zukommen. Auch hierin war von den brandenburgischen Krähen die Rede.

„Man will dem Todesprozeß entfliehen und stellt Bilder in das Dasein. Das ist die Bildgrenze,“ wird Carl Einstein dort zitiert und an anderer Stelle:
„Man müßte fragen, wie weit Bilder nun unseren Wahnsinn verstärken oder wir sie als Waffe gegen die willkürliche Mechanik der Zeichen benutzen, um den Dingen und der Wirklichkeit zu Hilfe zu eilen.“
Frieda Grafe hat die Moderne für tot erklärt und in Klammern fügte sie listig, schnippisch, wie hinter vorgehaltener Hand hinzu: „(Das Kino ist auch halbtot.)“ (SZ, Nr. 222, 26. Sept. 1997: Patrioten im Niemandsland).

Die Computerisierung der Welt empfand sie als einen persönlichen Angriff auf ihre Integrität. Trotzdem oder gerade deshalb war sie von sprühender Jugendlichkeit und Interessiertheit – dazwischenstehend eben -, wie sie sich begeistern konnte z.B. über Kluges Bauernschläue, der es geschafft hatte, zu Hauptsendezeiten auf zwei oder drei Kanälen gleichzeitig Plätze zu besetzen. Sie war sich bewusst, dass das der Jugendkultur am Arsch vorbeiging. Aber welche Kultur war hier die jüngere?

In einem Lied von Ella Fitzgerald heißt es:
„… and you appear in all your splendour …“
Ich glaube, das ist eine Liebeserklärung.


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