Für die Lemke Retrospektive, die jetzt in Hamburg und Berlin vorwiegend als Videoprojektion läuft, waren keine Filmkopien aufzutreiben. Das kommt auch daher, dass Klaus Lemke sich nicht um Bestandssicherung schert. In mancherlei Hinsicht ist sein einziges Interesse das, was davor passiert: Vor Drehbeginn, vor der Kamera, vor allem Endgültigen. Das ist auch die einfachste Erklärung, warum der vergangene Ruhm und zwanzig Jahre ohne Erfolg, den Mann so wenig tangieren. Beim spannenden Match zwischen der Nummer 1 unter den Nostalgikern (Werner Enke) und der Nummer 1 unter den Anti-Nostalgikern (Klaus Lemke), beim Podiumsgespräch anläßlich der 60er Jahre Retro auf der Berlinale 2002, erlebte man komplett unvereinbare alte Freunde, die sich aber einig waren, dass Stereo impotent macht – und dass die besten Filme entstehen, wenn man sich total verschuldet hat. Das wenige was Lemke immer gerne von „damals“ erzählt: Sie hätten das amerikanische Kino ganz naiv für ein getreues Abbild des Lebens gehalten, wie es dort stattfindet und hier stattfinden müsste: „Dokumentationen darüber, wie’s sein könnte.“ Dazu passend demonstrierte Werner Enke mit welcher Geste Dean Martin in SOME CAME RUNNING dem Sinatra, der an der Schreibmaschine verzweifelt, so nebenbei die Schnapsflasche hinschiebt. Solche Gesten, meinte er, die seien es gewesen. Aber indem Enke das so nachmachte, war da auch mit drin, dass Lemke eben noch an der Schreibmaschine sitzt, das heißt Filme macht, und Enke nicht mehr. Vor drei Jahren hat Klaus Lemke einen Film mit dem Titel RUNNING OUT OF COOL gemacht, den bislang nur ein paar Dutzend Leute gesehen haben. Ein konzentriertes Alterswerk, getarnt als atemloser Debütfilm, dessen Schöpfer im Vorspann ohne Namensnennung sein Gesicht hinter einer Piratenflagge versteckt. Der Raubzug in den eigenen Gewässern, den Straßen Schwabings, birgt als funkelnden Schatz ein Ensemble begnadeter Darsteller. Lemke erzählt, der fertige Film hätte einem Sender ganz gut gefallen, man hätte ihm vorgeschlagen ein TV-Remake zu machen mit richtigen Schauspielern, die langsam und deutlich sprechen. Wer weiß, meint er, wie viele Filme in Deutschland vom Fernsehen mit richtigen Schauspielern „noch mal neu“ gemacht werden; und die eigentlichen Filme werden heimlich vernichtet. Eine tolle Paranoia-Fantasie, selber Stoff für einen Film. Die tieferen Gründe für Lemkes feste Position im filmpolitischen Abseits liegen woanders. In RUNNING OUT OF COOL ist es für den Jungen aus Hamburg (Maxi Treu) ein Kinderspiel bei ARRI eine 35mm Kamera zu klauen. Aber die Kellnerin (Marlene Morreis) und die Stripperin (Claudia Grimm) sind nicht leicht rumzukriegen zum Filmemachen. Es sind Frauen, die für Schwärmereien ungern die starke Position aufs Spiel setzen, die sie beim Sex innehaben. Kein anderer Spielfilm über das Kino hat je so viel Enthusiasmus hergezeigt, ohne das geringste Pathos aufkommen lassen. Wie bei Hawks kämpft jeder mit jedem, mit billigen Tricks und geklauten Sprüchen, bis klar ist, worum es geht: um den heiligen Moment, wenn sich zwei von einander hinreißen lassen. Dass anwesende Dritte und Vierte dabei nicht stören, gar förderlich sind, verträgt sich gut mit dem Wesen der filmischen Arbeit. In NEVER GO TO GOA, einem wilden Urlaubsfilmessay über die Liebe am Ende der Ferien, tritt sein treuer Kameramann Rüdiger Meichsner zu Lemke und zur jungen Produktionsleiterin Annika Herr vor die Kamera. Mitten ins Geschehen. Wie einst bei Hawks so geht es bei Lemke um gegenseitige Überforderung, Reizung, Sex, Konkurrenz, Kumpanei, aber diese Lebenslust ist fordernd, verlangt eine irre Selbstbehauptung. Straub war so wichtig, sagt Lemke, wegen der Art wie Straub redet. Zum eigenen Schutz ist Lemke pseudo-anti-intellektuell. Aber seine Filme sind ohne Deckung. Als roter Faden gehen Geschichten von Jungs und ihren älteren Vorbildern durch das Oeuvre. Einen toll finden, selber toll sein wollen, darum geht’s. Ich behaupte, dass von daher auch die Geringschätzung der Filmgeschichtsschreibung rührt. Denn vom Überleben durch bloße Selbstbehauptung – Lemke nennt es attitude – davon zu handeln, ist irgendwie nicht wirklich respektabel. In Lemkes Filmen sieht man, was sonst auf der Leinwand nie zu sehen ist: Leute die rot werden. Klaus Lemke sei ja eigentlich gar kein richtiger Filmregisseur, sagte mir ein Filmmuseumsdirektor. Ein richtiger Rektor. Formale Gründe wo es um Inhalte geht. Die Angreifbarkeit des Selbstbewußtseins ist eben etwas, was man nicht zu ernst nehmen sollte, und gleichzeitig was, worüber man keine Witze macht. Von daher Stoff für Komödien. Und doch sind Lemkes Komödien im Grunde schwer melancholisch. Dokumentationen darüber, wie’s sein könnte. Aufrichtiges, weil unreines Kino, zu 40 Prozent reine Poesie.
TV-Tipp: Do, 22.Mai – ARD 00:50 – Liebe, so schön wie Liebe (1971) –
Regie, Buch: Klaus Lemke; mit Marquard Bohm, Sylvia Winter
Internet-Tipp: www.mach-dich-grade.de
Rainer Knepperges