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Viennale’04 (Teil 1)
Wien, Montag bis Samstag, 18. bis 23.10.04
Viennale’04 (Teil 1)
Wien, Montag bis Samstag, 18. bis 23.10.04
Der Titel klebt auf dem Film wie das Preisschild auf einer Ware. Eine etwas abgeschmackte Art ist das, Versuchsanordnung zu sagen oder Experiment. Auf einer Toilettenpapierverpackung wirkt das gut, fünf Rollen, zweilagig, wie das vom Penny um die Ecke, auf dem „Happy End“ draufsteht. Das finde ich immer grandios und es passt gut zu Ozons Film, der in einem Glück endet, das durch das schon Gesehene, das noch Kommende, bereits vollständig kontaminiert ist. 5 x 2, das klingt auch ein bisschen so, als gäbe es etwas umsonst – man kauft ein Paar und kriegt noch vier andere dazu. Hier also: Papa & Mama, Ich & mein One-Night Stand in der Hochzeitsnacht, der schwule Bruder meines Ehemanns & sein Freund, mein Mann & seine Ex. Und überall ist es gleich, es ist eine unnötige Vervielfachung des bedingt Interessanten, überall herrschen die gleichen Automatismen von Beziehung und Alltag, von Verletzen und Verletztwerden. (In einem typisch französischen Mittelklasse-Milieu noch dazu, das die Houellebecqs und Beigbeders dieser Erde frustrierter und deshalb meinungsfreudiger denunziert haben.)
Über schlechten Sex sind schon bessere Filme gemacht worden.
Das vermeintliche Rätsel, das sich mit dem Titel verbindet, ist läppisch, und aus der damit verbundenen formalen Entscheidung, die Geschichte in fünf Etappen rückwärts zu erzählen, springt erstaunlich wenig erzählerischer Surplus heraus. Gut, ein paar scheinbare Eindeutigkeiten geraten ins Schwimmen. Zum Beispiel ob der gemeinsame Sohn wirklich der gemeinsame Sohn ist (dieser Gedanke kam mir im gleichen Moment wie der Neben-, Gegen-, Ergänzungs- und Entwertungsgedanke „So what?“: für den Film hätte auch das überhaupt keine Folgen).
Bei jeder Einstellung der Verdacht, die Rückseite des Bildes sei interessanter.
Häppchenweise Psychologie bekommt man durch Marions Eltern eingeflößt. Dass das schon immer so… Und dass das halt zum Pärchen-Sein… Geschenkt. An diesen Stellen wird die Argumentation anthropologisch, aber in der verallgemeinernden Gleichung zugleich banal. Alltag = Beziehungskiller. „Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge.“ Dabei behauptet der Film, er würde genau das zeigen, die alltäglichen Dinge eben, die in französischen Filmen so viel Spaß machen können. Aber die sind hier in keinem Bild enthalten und es wird schmerzlich bewusst, wie wenig Ozon mit dem Alltag anfangen kann: Wischi-waschig ein paar wichtige Papiere im Büro unterzeichnen und im Bistro um die Ecke mit entrücktem Blick Steak-Frites essen, während die Ehefrau im Krankenhaus entbindet. Ein Gesicht wird nicht zwingend dadurch aussagekräftiger, dass ich ihm langsam immer näher rücke mit der Kamera. Allerdings, das gebe ich gerne zu, mag ich Valeria Bruni-Tedeschis obere Schneidezahnreihe, wenn sie so von schräg halb-unten gefilmt wird.
Ein Film wie ein Vorwand für etwas anderes, das er selbst vergessen hat.
Was mir gefallen hätte als eine verächtliche Geste (und damit: überhaupt eine Geste) dem Publikum gegenüber und als wirkliche Überraschung: Wenn Gilles und Marion am Ende, der zugleich der Anfang ihrer Beziehung ist, in diesem unerträglichen Postkartenbild also, in dem beide in den italienischen Sonnenuntergang hinein schwimmen, plötzlich ertrinken. Dann hätte sich der ganze Film im Vor- und Nachhinein selbst gelöscht und ich wäre mit dem zufriedenen Gefühl der Bestätigung nach Hause geradelt, dass all dies wirklich nicht der Rede wert war.
So foul and fair a day I have not seen.
Drei Küchen
1 – Der Schreibtisch vorm Fenster, Mimmi – im Gegenlicht – legt eine Kassette in den Rekorder ein (Guilty By Association/VIK CHESTNUTT), wendet sich nach rechts aus dem Bild. Nach dem Einsatz der Musik erfolgt der Umschnitt auf eine frei im Raum stehende Küchenzeile: Hängeschränke, Bodenschränke – dazwischen ein Spalt mit Ausblick auf einen kleinen Fensterausschnitt im Hintergrund. Mimmi nimmt das zuvor geschmierte Butterbrot auf, wendet sich in den Raum hinein, blickt zum Fenster hinaus, das jetzt außerhalb des Bildes liegt. Alles bildbestimmende Licht kommt von hier. Sie isst das Brot. Sie hört der Musik zu. Das ist alles. Da es aus Kamerarichtung keine merkbare Aufhellung gibt, liegt fast die gesamte Szenerie im Dunkel und Mimmi ist mehr konturiert, als dass man sie sieht. Dazu steht sie Kamera abgewandt. Trotzdem füllt sie den Raum mit Widerstand an. Ihr Eigensinn durchwirkt das Bild; kein Tappen im Dunkel, kein Fischen im Trüben. Mimmi besetzt die Kategorie der Radikalität. Das ist ein Vermögen der Darstellerin, das sich die Regisseurin für ihre Figur nutzbar zu machen versteht. PLÄTZE IN STÄDTEN
2 – Durch das große Fenster des Living zum Vorgarten hin sieht man Eric auf die Haustür zulaufen. Er öffnet, durchquert den Wohnraum auf die Kamera zu und biegt in die helle gelbe Küche ab, die wiederum amerikanisch zu einer Essecke hin geöffnet ist. Aus dem Kühlschrank bedient er sich an einem Plastikkanister mit Milch, indem er ihn zwanglos zweimal an die Lippen setzt und zwischendurch zum Fenster hinaus schaut. Dabei geht er im Küchenrund einmal im Kreis, stellt die Milch in den Kühlschrank zurück, verlässt die Küche zum Esszimmer hin und verschwindet in einem Türrahmen im Hintergrund. Im Ton ist zu hören, dass er die Treppe zum Basement hinunter läuft. Alles in einer Einstellung, die ohne künstliches Licht auskommt und in der jederzeit alles zu sehen ist. Um Eric herum gibt es kein Geheimnis. Das führt zur paradoxen Situation, dass aus Unaufdringlichkeit ein Sog entsteht und man zu spüren meint, soviel USA war nie. Das Wort von der Errettung der äußeren Wirklichkeit scheint hier konkretisiert. Die Last der Suggestion bürdet sich nicht auf, was als Befreiung erfahren wird. ELEPHANT
3 – In Sophies Arbeitsraum befindet sich hinten links eine Küchenecke. Durch die Fenster dringt spätes Sonnenlicht, so dass von der Küche nur Schemen zu erahnen sind, denn sie liegt außerhalb der Einstrahlung. Nach der reminiszenten Betrachtung einiger Fotografien auf dem Arbeitstisch befindet sich die Fotografin nach dem Umschnitt vor dem Kühlschrank und entnimmt ihm eine Wasserflasche. Diese Aktion zu verfolgen gestattet einzig die Kühlschrankinnenbeleuchtung, die beim Öffnen der Tür ein kurzes Gegenlicht erzeugt. Sophie setzt die Flasche an die Lippen, leert sie und trägt sie zur Leergutkiste, die wiederum im Sonnenlicht steht. Dem dummen Wortspiel zum Trotz ist diese Einstellung leer oder erscheint falsch. Die an Naturalismen orientierte Gegenlichtfotografie reizt zwar das Material aus, wodurch sie das Bild in Spannung versetzt. Sie dekoriert quasi Sophies offene Fragen, die in einem – Was ist als nächstes zu tun – zusammenzufassen wären. Da aber nicht der unfokussierte Charakter einer Darstellerin den Raum füllt, sondern eine Schauspielerin versucht, das Bild mit dem Charakter einer Figur aufzuladen, entsteht eine unproduktive Reibung – zwei Dinge schleifen aneinander in gleicher Stoßrichtung – die keine Dichte erzeugt. MARSEILLE
Epilog – In einer geheimnislosen Küche sitzt der Kommissar am Küchentisch, seine Mutter arbeitet an der Küchenzeile im Stehen. Auf dem Küchentisch vor dem Kommissar liegt ein feuchtes Küchentuch. Der Kommissar in etwa: DAS STINKT! Die Mutter ist empört. Großartige Alltagsbeobachtung. L’HUMANITÉ
Diejenigen, die nicht in Österreich sind, diejenigen, die hier ausharren oder mit dem Zug in die, wie man anderswo lesen konnte, „lebenswerteste Stadt der Welt (Kategorie 200.000 – 750.000)“ unterwegs waren, um dort „A Corner in Wheat“ und „Die Seele des Geldes“ zu zeigen, diejenigen, die auf die John Ford-Filme verzichten müssen, und auch auf die Filme von den beiden, die die John Ford-Filme ausgesucht haben für Wien, eine Stadt, in der es, wie ich erfahre, keine Camel-Zigaretten und keine Lucky Strikes gibt, seit zwei Jahren schon, was mir in einem merkwürdigen Gegensatz zu den John Ford-Filmen zu stehen scheint, die man dort sehen kann, diejenigen also koennen sich heute abend den Film, besser: die Filme IL RITORNO DEL FIGLIO PRODIGO – UMILIATI“ im Fernsehen anschauen, was doch immerhin auch etwas ist.
JOHN FORDS Horizont. Von Manfred Bauschulte & Michael Girke
Aus dem Prolog:
„John Ford steht da als Monument des Kinos und ist doch zugleich ein großer Unbekannter. Er ist Hollywoods erfolgreichster Regisseur, vier Oscars für Regie erhielt er selbst, unzählige weitere Oscars und Nominierungen seine Filme. Er brachte Leinwandikonen hervor wie John Wayne, der Western wird auf ewig mit seinem Namen verbunden bleiben und ganze Bücher ließen sich füllen mit der Aufzählung all der Regisseure, die Ford bis heute ehrerweisend zitieren, ihn beklauen, kommentieren oder überbieten wollen. Aber wer wüsste schon, dass Ford Filme machte seit 1917, dass seine Karriere also beinahe die ganze Filmgeschichte umfasst, oder, dass er über sich selbst sagt, nicht seine Western sind wirklich gut, sondern seine billigen kleinen Filme ohne Stars über einfache Leute?
Fords Unbekanntheit begann offenbar schon zu Lebzeiten (er starb 1973). 1965 drehte er „7 Women“, seinen beinahe ausschließlich mit Frauen besetzten letzten Film, der in den von Veränderungsgeist bewegten 60ern heftig ignoriert wurde. Als Manfred Bauschulte und ich uns Anfang des Jahres aufmachten, „7 Women“ anzusehen und zu würdigen, begann ein Abenteuer. Dank der Unterstützung von Klaus Volkmer, ergab sich ein intensiver und regelmäßiger schriftlicher Austausch mit Tag Gallagher, dessen „John Ford – The Man & His Films“ eines der besten Filmbücher überhaupt ist. Gallagher schickte Videos, dank deren wir Filme wie „The Sun Shines Bright“, „Battle Of Midway“, „Wagonmaster“ im Original und ungekürzt sehen konnten, was zu Einsichten verhalf, von denen wir vorher nicht einmal etwas ahnten. Immer mehr verdichtete sich der Eindruck: Trotz einiger sehr verdienstvoller Arbeiten, wie der Hartmut Bitomskys in der FILMKRITIK, ist Ford im deutschen Sprachraum nie wirklich angekommen. Um so aufregender ist es, dass Danielle Huillet und Jean Marie Straub den Anstoß gaben zu einer Ford-Retrospektive bei der diesjährigen Viennale.
Warum diese umfassende, zeitraubende Beschäftigung mit einem Regisseur, der lange tot ist? Vielleicht muss man jeder Kinogeneration das Recht zugestehen, Vorgänger geflissentlich zu übersehen oder von ihnen gelangweilt zu sein. Gerade an John Ford aber lässt sich zeigen, wie fragwürdig eine Kinologik ist, die das jeweils Neueste auch für den höchsten Stand der Entwicklung hält. Filmgeschichte verläuft zugleich vorwärts und rückwärts. Holt man Kinomonumente wie Ford von ihren Sockeln und erlöst sie aus kanonischer Erstarrung, so lassen sich beim Betrachten alter Filme eben nicht nur „Meisterwerke“ oder vergangene Welten und ihre Probleme entdecken, sondern, es wird auch möglich, die Gegenwart mit anderen Augen zu erfassen. Und nur einer der Effekte dabei ist, dass manche Anmaßung und Ignoranz des heute selbstverständlichen und gültigen (Film-)Denkens sichtbar wird.
Wir hoffen, unser Gespräch zu „7 Women“, kann ein wenig dazu beitragen, zwei Brücken zu bauen; eine für das heutige Publikum zu Ford und erst recht eine Brücke für John Ford in die Gegenwart.“ (mehr hier)
Sonntag, 10.10.2004, 21:00
Pirate Cinema Berlin
Ziegelstrasse 20
Klassiker des urheberrechtsverletzenden Films (Teil 2)
René Vienet: The Girls of Kamare (F 1974, 88 min)
Japanisch mit englisch untertitelten französischen Untertiteln
„(…) Bereits 1967 festgestellt zu haben, dass man die Abschaffung des Kinos nicht allein Jean-Luc Godard überlassen sollte, ist nur eins der Verdienste von René Vienet, mit dessen „The Girls of Kamare“ wir unsere Reihe „Klassiker des urheberrechtsverletzenden Films“ am Sonntag fortsetzen. Bei „The Girls of Kamare“ handelt es sich – in voller Länge – um „A Pair of Panties for Summer“ von Norifumi Suzuki (in dessen zentraler Schaffensperiode Mitte der 70er Jahre auch Werke wie „Hot Springs Mimizu Geisha“, „Tokugawa Sex Ban“, „School of the Holy Beast“ und „Dolls of the Shogun’s Harem“ entstanden sind). Vienet hat sich – wie bereits in „Can Dialectics Break Bricks?“ – darauf beschränkt, die Originalvorlage entgegen des durch die Tonspur intendierten Sinns neu zu untertiteln – womit „The Girls of Kamare“ Debords „Gesellschaft des Spektakels“ nicht nur an formaler Radikalität übertrifft, sondern auch an Unterhaltungswert.“ (mehr hier)
Ein Film über die Liebe zum Handwerk. Des Tötens, als Kampf Mann gegen Mann. Der Rest ist Überbau: Tierliebe, Abraham und Isaak, Johnny Cash und Vorgeschichten. Was Kultur ist, soll Natur werden, der Film nimmt die Witterung auf fürs Proto-Signifikative im Unterholz der Zivilisation. Keine Hermeneutik der Spur, sondern Rückkehr in die Urzeit animalischer Jagdinstinkte. Werwölfe in Portland. Die geblähten Nüstern von Tommy Lee Jones und der Faustkeil. Verlust der Unschuld, Heilung durchs Sohnesopfer. Im Hintergrund das Tosen der Ideologie. Friedkin inszeniert, schneidet, schlitzt mit Bewegungseleganz. Auge in Auge mit einem Regisseur, der sein Handwerk versteht: Wenn Schnitte töten könnten.
Aaron (Del Toro), in die Ecke getrieben, deutet auf einen ideologischen Kern seines Tuns, über die Industrialisierung der Nahrungskette sprechend: dass dabei superiore den Respekt vor inferioren Wesen verloren haben. Der Profilerin wäre dies ein Schlüssel zur psychischen Disposition. LT. (Lee Jones) aber unterbricht, als Aaron Namen von Militärsondereinsätzen reiht: „black eagle, mongoose, cobra…“ Tiere!
Vom Kern her streben alle Aussagen und Bilder zu Natur. Der Film streut sie im Modus der Analogie – Parallelmontage und Attributierung durch Lebensraum. Sie sollen aber nicht gelesen werden, sondern gravieren. So entsteht Gravity (Gravität), die Friedkin außerordentlich zu dynamisieren weiß. Jagen, Stellen, Töten.
The Hunted (William Friedkin) USA 2003
Um den pensionierten Ausbilder L.T. zu charakterisieren, zeigt Friedkin, wie er einem Wolf in der verschneiten Landschaft aus der Schlinge hilft und den verletzten Vorderlauf mit weichgekautem Moos verarztet. Dem Fallensteller, der sich derweil in der Blockhütte einen gemütlichen Jungsabend macht, knallt er die Falle auf den Tisch, und seinen Kopf gleich hinterher. Jemand springt auf, aber schon hält L.T. den Aufgebrachten mit seinem Zeigefinger in Schach. So ähnlich geschmeidig habe ich beim Trampen mal einen Fahrer immer wieder vom zweiten in den dritten Gang schalten sehen, wobei sein Arm die Bewegung wie ein Tänzer bis vorne zum Armaturenbrett verlängerte.
„There is no reference in what you do“, flüstert es den überausgerüsteten Freizeitjägern zu. Verweise hinterlassen und als bedeutende Spuren wahrnehmen – darauf gründet der modus operandi echter Naturburschen, die noch ein indexikalisches Weltverhältnis leben. Ein kartographisches Spiel betreiben sie: Räume mappen, auch in der urbanen wilderness noch Material finden, in das eingeschrieben werden kann. Der Showdown als biblische Verabredung; archaisch, vielleicht auch antizivilisatorisch, in jedem Fall aber: nicht mehr im Zugriffsbereich einer Polizeimacht, die high-tech-bewehrt im Hubschrauber kreist und die Räume nicht mehr prozessiert bekommt. Am Ende werden alle Abdrücke ausgelöscht; Briefe verbrennen, Schnee legt sich über die Landschaft.
The Hunted (William Friedkin) USA 2003