Mai 2010
Montag, 31.05.2010
Samstag, 29.05.2010
John Ford – ganz weit vorne
In CHEYENNE AUTUMN (John Ford, 1964) gibt es eine frühe mediale Kommunikation, die das iPad gewissermaßen vorweg nimmt. Richard Widmark schreibt auf die Schultafel die Zeile: WILL YOU MARRY ME? – Diese Nachricht ist an die blonde Quäkerin, gespielt von Deborah Wright, gerichtet, die den Cheyennekindern die lateinischen Buchstaben zu vermitteln sucht. Später wird sie ihm an gleicher Stelle eine Botschaft hinterlassen, die besagt, dass sie ihren Platz bei den Indianern sieht.
BETEN – DIE FLATRATE ZU GOTT.
Werbezeile an der Hausfassade einer freikirchlichen Gemeinde. Zu sehen war sie vor ca. 2 Jahren aus der S-Bahn heraus in der Nähe der Bahnhöfe Holstenstraße/Sternschanze, Hamburg.
Als ich heute Nachmittag beim Aufräumen eine Freikarte vom fsk fand, erinnerte ich mich zum Glück an Simons Cargo-Eintrag nebenan. Auch ich schreibe gerne vom Soundtrack, wiewohl der das Geringste ist an »Le père de mes enfants«. Jedoch: Ein Film, der mit Musik von Jonathan Richman beginnt! [Hier: »Egyptian Reggae« (youtube); zuletzt: »There’s Something About Mary« (USA 1998) (youtube).] Vor ein paar Tagen hatte ich etwas gelesen zum Unterschied der Todesauffassungen bei Montaigne und Pascal. Für Pascal bleibe der Tod eine außerordentliche Ungeheuerlichkeit. Bei Montaigne sei er das integrative Ein und Alles der Lebenslehre (»Philosophieren heißt, Sterben lernen«). Mia Hansen-Løves Film «Le père de mes enfants» folgt deutlich – und manchmal fast widerwillig – Montaigne. Ich muss deshalb Gerhard Middings Text im tip freundlich widersprechen, denn dieses montaignische Grundempfinden unterscheidet den Film von Claude Sautets großem pascalschen Firmen- und Moralitätszusammenbruchsfilm »Mado« (Frankreich 1976). Das Unausweichliche ist dort immer schon da und ein Skandal. Beim »Vater meiner Kinder« ist das anders, weil der sich von Beginn an dem Fluiden, Wechselhaften verschreibt. Sein szenisch wohlgesetzter Impressionismus ent-skandalisiert das andauernde Weitermachen, ohne dies vitalistisch zu verkitschen. Wie die Kinder dem Liquidator die Hand geben, »au revoir, Monsieur Liquidator«, schien mir in dem Moment ein kluges Wort zum katatonischen Ökonomie-Terror der Texte und Reden der letzten Monate. Und überhaupt diese luftige Skizzenhaftigkeit die ganze Zeit, die ich zuletzt so schön (wohl leuchtend, aber ein Leuchten ohne Pathos, weil in Dynamik, Beweglichkeit, Alltagsbezüglichkeit gedacht) wirklich bei Assayas (»L’heure d’été« (Frankreich 2008), »Fin août, début septembre« (Frankreich 1998)) gesehen hatte. Kamera: Pascal Auffray. Schnitt: Marion Monnier. Auf dem Rückweg über die Oranienstraße kamen mir unheimlich viele Jugendliche mit neonfarbenen Strumpfhosen entgegen.
Freitag, 28.05.2010
Langtexthinweis
* Johannes Beringer: Filme von Pierre Zucca
Donnerstag, 27.05.2010
Kinostart
„… es war eine seltsame und ergreifende Geschichte, die viel mit uns selbst zu tun hatte… “
(William Hope Hodgson: Die Boote der Glen Carrig, 1907)
Der Mann auf dem Bild hat gerade einem geschulten Philosophen ein sehr gute Frage gestellt.
Zu den schönsten Gefängnisfilmen, zu Jacques Beckers Le Trou und Don Siegels Escape from Alcatraz, gibt es jetzt eine feine Ergänzung: Die Eroberung der Inneren Freiheit – Sokratische Gespräche unter Gefangenen, von Silvia Kaiser und Aleksandra Kumorek
„Was wir wissen“, sagt Maurice Maeterlinck, „geht uns nichts mehr an.“
Montag, 24.05.2010
Langtexthinweis
Wolfgang Schmidt – Und jetzt: Ballett (3 Minuten Film)
Aus der Schlusskadenz des Films BEYOND THE SEA (Kevin Spacey, 2004)
Not Famous Enough Americans: Bern Porter
Bern Porter war als Physiker beteiligt an der Erfindung des Fernsehens. /// Er arbeitete auch mit am Manhattan Project, bis die Amerikaner die Atombombe einsetzten und er sich der Kunst zuwandte. /// Bern Porter, liest man, hat an der Entwicklung der Saturn V-Rakete der NASA mitgearbeitet. /// Henry Millers Karriere sähe ohne Bern Porter anders aus, denn Porter publizierte zahlreiche seiner Bücher in den USA, bevor irgendjemand anderes das tat. /// Nach der Lektüre von TROPIC OF CANCER entwickelte Bern Porter eine produktive Obsession für das Werk Henry Millers. /// Bern Porter wohnte später in einem Haus, dem er selbst den Namen „Institute for Advanced Thinking“ verliehen hatte. /// Bei der Serie “Not Famous Enough Americans”, die Tom Bryar herausgab und der 1984 eine Folge über Bern Porter widmete, handelte es sich um Aufkleber, die auf Sirup-Flaschen angebracht wurden. /// Bern Porter behauptete von sich, die Mail Art erfunden zu haben, und zwar als Kind in Maine. Ich habe keinen Grund, an seiner Behauptung zu zweifeln. /// Sein Leben lang bevorzugte Bern Porter die Kommunikation per Post. Ein Telefon oder einen Computer besaß er nie. /// Eine von Bern Porters zahlreichen Publikationen heißt The Manhattan Telephone Book. 1975* (Somerville, Mass.: Abyss Publications). Porter war fasziniert von dem Versprechen auf Kommunikation, das ein Telefonbuch ausstrahlt. /// Die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbrachte Bern Porter im ca. 6000 Einwohner großen Ort Belfast, Maine. /// Im gleichnamigen Film von Frederick Wiseman kann man Bern Porter sehen./// Bern Porter, der im Jahr 1911 geboren wurde, starb im Jahr 2004. /// Das Leben und Werk von Bern Porter wirkt wie ein Kontinent, für dessen Erforschung man einige Jahre einplanen sollte.
Zwei gute Ausgangspunkte für zukünftige Bern Porter-Studien:
* ubu.com: Bei Ubu.com kann man sich 5 Bücher von Bern Porter und auch sonst einiges ansehen und herunterladen.
* MoMa.org: Im New Yorker MoMa findet zurzeit – noch bis zum 5. Juli – unter dem Titel LOST AND FOUND die erste größere offizielle Bern Porter-Ausstellung statt. Von dort auch der oben abgebildete Briefumschlag.
30/100
Die Geschichte vom amerikanischen Experimentalfilmer, der seinen Papagei auf den Namen „Peenemünde“ taufte und ihm die Worte „The End is nigh!“ beibrachte – eine düstere Parole, die der gelehrige Vogel am Himmel kreisend lautstark wiederholte, bis jemand vom Boden aus „Repent! Repent!“ rief, um ihn von seinen apokalyptischen Bahnen herunterzuholen.
Sonntag, 23.05.2010
Kleine Bücher
Mark Betz’ schöner Artikel über die Little Books und ihre Konjunkturen verfolgt den einleuchtenden Gedanken, dass die Entstehung und Geschichte akademischer Disziplinen eng mit den Publikationspraktiken von Verlagen zusammenhängt. Im Falle der Film Studies: Mit Filmbuchreihen und ihrer Ausrichtung, mit dem Verhältnis von nicht-akademischen und akademischen Autoren, mit Auflagenstärken und Schreibweisen. Und, nicht zuletzt: Mit der Größe der Bücher.
Little Books versteht Betz ganz handfest als „a small-format publication – usually around 18 cm x 13,5 cm (7 in x 5.25 in) – published in series, often by a trade publisher, and purchased more or less cheaply by an audience not primarily, or at least not exclusively, academic.“ Betz rekonstruiert die Konjunkturen und Hintergründe dieser Buchreihen, insbesondere seit den 60er Jahren; auf seiner Website am King’s College London kann man eine ausführliche Bibliographie der Bücher, Publikationsdaten und Phasen abrufen. Nach anfänglichen eher plätschernden Wellen (1933 bis 1958) und einem Anstieg der Produktion 1959 bis 1964 sind zwei große Phasen der Little Book-Produktion zu verzeichnen: Eine erste zwischen 1965-1971 und eine zweite zwischen 1972-1980. Danach gerät die Produktion dieser preisgünstigen Publikationen zu Regisseuren, Strömungen oder theoretischen Konzepten ins Stocken bzw. wird abgelöst von den dicken Wälzern akademischen Zuschnitts, für die sich nicht mehr die Publikumsverlage, sondern amerikanische University Presses zuständig fühlen. Erst ab Mitte der 90er Jahre tauchen die Little Books wieder verstärkt auf, erneut – wie in den ersten beiden Phasen – eher von britischen als von US-amerikanischen Verlegern und insbesondere dem BFI initiert; die BFI Film Classics sind wahrscheinlich das bekannteste Beispiel dieser Renaissance, während für den Übergang von Phase I zu Phase II Peter Wollens Signs and Meaning in the Cinema die weitreichendsten Folgen hatte.
In Großbrittanien wirkten die Bücher Anfang der 70er Jahre als Scharniere zwischen unterschiedlichen filmbegeisterten Milieus und Institutionen. Die Filmkultur, die im einzelnen vielleicht nicht weniger parzelliert war als später, kannte jedenfalls noch nicht in die scheinbar klaren Zuständigkeitsgebiete „Universität“, „Filmkritik“ oder „Theorie“. Das zeigt sich auch an den alltagspraktischen Anbindungen der Bücher an Orte und Öffentlichkeiten. Insbesondere die BFI-Publikationen – Richard Dyers Gays and Film oder Sylvia Harveys May ‘68 and Film Culture – begleiteten Filmreihen im National Film Theatre, dem Hauskino des BFI, andere wurden vom Edinburgh Film Festival im Rahmen von Retrospektiven herausgegeben oder flankierten die jährlichen Summer Schools, die das BFI in britischen Unis veranstaltete. Der Begriff „mortar“ fällt bei Betz in diesem Zusammenhang einige Male, und, wichtiger noch: „debate culture“. Wie Kitt oder Mörtel vermittelten die Little Books zwischen den Milieus und Geographien. Zwischen Cinéphilen, Filmkritikern und anderen, die professionell mit dem Kino zu tun hatten. Leser war, auch weil es noch keinen disziplinären (und disziplinierenden) Zusammenhang gab, eine breitere Filmöffentlichkeit, die in den Büchern ganz unterschiedliche Dinge suchte (und fand).
Ergänzend zu Betz’ Text kann man sehr gut das Gespräch lesen, das Peter Wollen und Laura Mulvey im gleichen Band führen und das die gleiche Phase zum Ende der 60er Jahre hin umkreist. Man bekommt sofort Lust, mehr über Paddy Whannel zu erfahren, der in dieser entscheidenden Phase das Educational Department des BFI leitete und Leute wie Wollen um sich herum versammelte. Whannels Working-Class-Hintergrund, die abgebrochene Schullaufbahn, grenzenlose Begeisterung für das amerikanische Kino…
An den Little Books lassen sich, so Betz, auch einige der Ungleichzeitigkeiten und Unterschiede festmachen, die sich zwischen den amerikanischen und britischen Film Studies entwickelten. Am interessantesten vielleicht die folgende Beobachtung: „Ironically, the BFI Monographs represent an apogee of the little book at the same time as they sowed the seeds for its decline. For the BFI monographes were (selectively) consumed, along with Screen, by the first university-trained generation of american film studies scholars who would reach their terminal degrees in the late 1970s and then go on to publish much lengthier treatises with university presses in the 1980s. In Britain they were intended for and purchased by a wider audience, as contributions to a ‚debate culture’ not centered in the university but on its fringes and dealing with aspects of popular culture in Britain, whether that be American cinema or national television.“
Natürlich würde man gern eine ähnlich präzise Rekonstruktion der Little Books für den deutschsprachigen Raum lesen. Hier gibt es faktisch keine University Presses, und das Feld der ernstzunehmenden Filmbuchverlage ist erschreckend überschaubar. Trotzdem gab es auch hier eine Kultur der großen kleinen Bücher. „Fischer Cinema“, die Reihe Hanser, die Buchreihen von Seeßlen und anderen bei Rowohlt. Viele Übersetzungen aus dem Französischen, die meisten davon von Grafe/Patalas. Kommt mir das nur so vor, oder versickerte diese Taschenbuchkultur auch hier schon Mitte der 80er Jahre?
Ach ja, wo ich gerade von kleinen Büchern spreche: Vielleicht kann ich diesen Eintrag zum Anlass nehmen, auf das Erscheinen eines Little Book hinzuweisen. Es ist 10 x 16 cm groß, 112 Seiten dünn, enthält 30 schwarz-weiße Abbildungen und hat in etwa die Röte des Rots von Technicolor. Der Titel ist Ränder des Kinos. Godard – Wiseman – Benning – Costa. Es kostet 9 Euro und 80 Cents und ist von mir so geschrieben worden, dass es in jede gutsortierte Jackentasche hineinpasst.
[Mark Betz: Little Books, in: Lee Grieverson / Haidee Wasson (ed.): Inventing Film Studies, Durham/London: Duke University Press 2008. S. 319-349; die vollständige Bibliographie der Little Books hier (ganz unten auf der Seite)]
Valeur humaine du cinema
Amerikaner mit Gesicht, Bechers Backhaus, Köln
Wer ist dieser Michel Dard, aus dessen Buch, „Valeur humaine du cinema“ (Paris, 1928), Siegfried Kracauer zitiert? Im Kino „sind wir Brüder der Giftpflanzen, der Kieselsteine…“.
Mir gefällt auch, daß „das Kino alle Dinge aus ihrem Chaos heraushebt, bevor es sie wieder ins Chaos der Seele eintaucht“.