Teil I: Blicke, Waffen, Abgründe
Cape Fear (1962)
„Ich kann nicht beschreiben, was in so einem Blick sein kann, der mir den Boden wegzieht. Er ist für mich der Beweis, daß Menschen eine Seele haben. Sie wissen nicht, daß man sie dann sehen kann, und ihr verzweifeltes, unrealistisches Bedürfnis, etwas zu durchdringen, aus sich heraus, in was hinein. Es ist nicht persönlich gemeint, und es ist mehr als sexuell. Niemand weiß, was er sich davon verspricht, und niemand bekommt es wirklich bleibend, oder? Es liegt so nah, die Augen zu schließen, einzuwilligen, nachzugeben und zuzulassen, dass alles zerstört wird.“
(Silvia Szymanski: Chemische Reinigung, 1998)
Return from the Ashes (1965)
„Die menschliche Seele ist in den Nerven des Körpers enthalten, über deren physikalische Natur ich als Laie nichts weiter aussagen kann, als daß sie Gebilde von außerordentlicher Feinheit -— den feinsten Zwirnsfäden vergleichbar — sind, auf deren Erregbarkeit durch äußere Eindrücke das gesamte geistige Leben des Menschen beruht.“ (Daniel Paul Schreber: „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, 1903)
Return from the Ashes (1965)
„Es ist eine Angewohnheit von mir, Menschen auf den Mund zu schauen und nicht in die Augen, wenn ich mit ihnen spreche.“ (Claudia Basrawi: „Intelligente Oberflächen“, Merkur, Mai 2014)
The Guns of Navarone (1961)
Sicherheit ist allenfalls Verzögerung. Nur kurz sperrt Stahl das Unheil draußen aus oder den Tod drinnen ein. Nichts hält den Fortgang der Geschichte auf, nur das Geschick eines Erzählers.
Return from the Ashes (1965)
Um von unerwiderter Liebe zu erzählen, war das Melodram plötzlich nicht mehr der richtige Auftrittsort. Mitte der 60er Jahre war etwas neu eröffnet worden: der Thriller. Verdrängtes durfte darin grob zum Ausdruck kommen. Alter, Verfall und Begehren. Ehrlichkeit. Was Aldrich und Castle mit Bette Davis und Joan Crawford erfunden haben, kann man Horror-Melodram nennen.
Sogleich der Anfang von Return from the Ashes stellt unzweifelhaft klar: Der größte, nicht vorstellbare Schrecken liegt vor dem Begin der Erzählung.
„The opening scene before the credits is a virtuoso masterpiece summing it all up and showing, it may be suggested, a derivation or influence of Wyler’s The Heiress.“ (Christopher Mulrooney)
Sich jemanden kaufen, durchschauen, lieben, ohne geliebt zu werden.
Filme machen, Filme anschauen.
Phoenix spricht anders als Return from the Ashes leise, wo es um Liebe geht. „Speak low when you speak love“. Ich bewundere die Intelligenz mit der Petzold und Farocki den richtigen, schmerzlichsten Abschnitt aus der Erzählung gewählt und vergrößert haben. Aber im Gegensatz zu Phoenix bringt Return from the Ashes heraus, was sich nur im Schutz des Genrekinos aussprechen lässt: Eine Frau, die akzeptiert, nicht geliebt zu werden, muss um ihr Leben fürchten.
Sylvia Syms, Yvonne Mitchell, J. Lee Thompson
Woman in a Dressing Gown (1957)
Eine Frau unter Einfluss. In einem Käfig namens Küche.
Wer verlangt noch weitere Beweise, dass die besten Actionregisseure die besten Frauenfilme machen?
The Guns of Navarone (1961)
20 Filme von Lee Thompson sah ich seit dem Frühling. Und mein Vergnügen nahm die Form an, die sprachlos bleiben möchte, mit der Ausrede: Nichts kann ich sagen, bis ich nicht alles gesehen habe.
Ich stellte außerdem fest: Schaut man die Filme ein zweites Mal an, werden die schwächeren besser und sogar die besten noch besser. Warum das so ist, erkläre ich mir damit: Weil es Filme eines Virtuosen sind; virtuos darin, die Sicht auf alles, was geschieht, nach Belieben einzuschränken oder plötzlich freizugeben, unermüdlich und geschickt zu behindern.
Säulen, Hinterköpfe, Gitterstäbe, Felsen und Gestrüpp machen es dem Auge und dem Urteil schwer. Aber das Auge gewöhnt sich auch an die Finsternis. Blicke sind Suchende. Höhlen haben zweite Ausgänge.
The White Buffalo (1977)
Wild Bill Hickok (Charles Bronson) feuert aus zwei Revolvern. Ein unaufhaltsam herannahender weißer Büffel versetzt ihn in Todesangst, als er in einem Schlafwagenabteil aus seinem schrecklichen Traum erwacht. Noch benommen erhebt er sich und schaut eilig in die über ihm gelegene Schlafkoje, die von ihm durchschossen, aber glücklicherweise leer ist. Jederzeit kann es einen zufällig ganz übel erwischen, weil irgendwer einen scheußlichen Traum hat.
Cape Fear (1962)
Es gibt die strotzende Überlegenheit über das Hilflose.
Ich habe noch eine zweite Hypothese, warum die Filme von Lee Thompson beim wiederholten Sehen noch besser sind: Weil sich dann ein Widerstand aufgelöst hat.
„Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen – so verstand es Aristoteles –: sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein, – jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schließt… “ (Nietzsche: „Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt“, 1889)
Mackenna’s Gold (1969)
„Die Indianerin nimmt ein Nacktbad in einem Studio-Pappmaché-Felsenweiher.“ (Joe Hembus, Westernlexikon)
Mackenna’s Gold (1969), „ein schrecklicher Film.“ urteilte Hembus.
Am 1. August wäre der Hundertste Geburtstag von J. Lee Thompson gewesen. Ich hatte mir vorgestellt, punktgenau mit einem Text aufwarten zu können, der geschmückt mit den allerschönsten Perlen, fremden Federn, zweckentfremdeten Zitaten, einen fast Vergessenen feiert. Aber der Termin verstrich.
„Der Sommer ist schneller vorbei, als man denkt. Ein nächtlicher Wind hat die Blüten gekränkt. Die Zeit, die dir blieb, hast du lachend verschenkt,“ sang Udo Jürgens 1976.
Taras Bulba (1963)
„Dabei hat sich aus der Gesammtheit meiner Erinnerungen der Eindruck in mir festgesetzt, als ob der betreffende nach gewöhnlicher menschlicher Annahme nur drei bis vier Monate umspannende Zeitraum in Wirklichkeit eine ungeheuer lange Zeit umfaßt haben müsse, als ob einzelne Nächte die Dauer von Jahrhunderten gehabt hätten, sodaß innerhalb dieser Zeit sehr wohl die tiefgreifendsten Veränderungen mit der ganzen Menschheit mit der Erde selbst und dem ganzen Sonnensystem sich vollzogen haben konnten.“ (Schreber: „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“)
Schwebefähre und Zündplättchenpistole, Tiger Bay (1959)
Hans Schifferle hatte Tiger Bay in seiner Entdeckungsliste in der letzten SGE-Ausgabe. Das war ein entscheidender Hinweis.
Ich sollte versuchen, aus den drei Worten der Überschrift wenigstens ganze Sätze zu bilden. Blicke, Waffen, Abgründe.
Über die vielen Waffen in den Filmen von Lee Thompson, ließe sich sagen, dass sie regelmäßig denen in die Hände fallen, die damit bedroht werden sollten. Aber jeder weiß das: Waffen waren schon immer in der Mehrzahl aus zweiter Hand. Und ich weiß: Alles was ich über „die aktuelle, noch nie dagewesene Situation“ denken kann, ist auch nur aus zweiter Hand.
John Goldfarb, Please Come Home (1965)
„Der moderne Massenkrieg ist möglich, nicht weil mehr Menschen uneinig sind, sondern weil mehr Menschen übereinstimmen.“ (Chesterton: „Der stumme Ochse. Über Tomas von Aquin“, 1933)
In Return from the Ashes, in einer Rückblende – 1939 – sagt Maximilian Schell: Sollte der Krieg kommen, wird Deutschland ihn jedenfalls verlieren. Und als Ingrid Thulin daraufhin amüsiert fragt, was ihn da so sicher mache, sagt er: „Can you name one really outstanding german chess player?“
Happy Birthday to Me (1981)
Einen Abgrund zu überwinden – oder auch nicht, das ist eine Standardsituation in den Filmen von Lee Thompson. Mutproben erweisen sich häufig als verhängnisvoll.
Kurz nach Kriegsende in Österreich: Major Burnside (David Niven), englischer Kommandant eines Flüchtlingslagers, erzählt eines Abends von einer Brückensprengung, die jemand „once upon a time“ im Alleingang, eigenmächtig, leider erfolglos versuchte. Er wünscht sich zurück in eine ähnliche Situation. Before Winter Comes (1969) erzählt davon, dass sich Mut nicht beweisen lässt zum selbstgewählten Termin, sondern nur im Umgang mit dem Unumgänglichen.
The Yellow Balloon (1952) …
…“begins in Blitzed ruins and ends in an underground station closed since the war.“ (Christopher Mulrooney)
North West Frontier / Flame Over India (1959)
„Hier eine höchst einfache Bemerkung: niemand hat jemals behauptet, er handle aus bösem Willen. Wir alle – unsere Feinde inbegriffen – sind ‚Menschen guten Willens'“
(Denis de Rougemont: „Der Anteil des Teufels“, 1942)
North West Frontier hat mich erst beim zweiten Sehen begeistert. Ein Abenteuer- und Reisefilmessay über Waffen und all die vergangenen und kommenden Kriege. Sehr nahe dran an John Ford; Drehbuch: Frank Nugent, nach einer short story von Patrick Ford.
Auch J. Lee Thompson fragte skeptisch, was nach dem Krieg kommt. Bestimmt nicht das, was man Frieden nennt.
Taras Bulba (1963), „the cinematic equivalent of one fine chub of garlic sausage“ (Greg Klymkiw)
In fast allen Texten über J. Lee Thompson ist zu lesen, er habe mit ein paar Filmen seinen guten Ruf ruiniert. Aber es sind jedesmal andere Filme, die da genannt werden. Und speziell jene Titel, die als „Ausrutscher“ gelten, haben anderswo ihre Fans.
Christoph Huber hat ein famoses Interview gemacht mit jenem Produzenten, der dem „much-maligned craftsman“ Lee Thompson in den 80ern eine kontinuierlich rege Herstellung von Alterswerken ermöglichte, Menahem Golan (1927-2014). Ein wirklich famoses Interview.
Mackenna’s Gold (1969)
Eine ausdrückliche Empfehlung: Der Affen- & Vogelpark Eckenhagen, im Sauerland. Das ist eine feine Mischform aus Kirmes und Zoo, wo zwischen elektromechanischen Schaukeln und Karussells mit Münzeinwurf, draußen im Grünen, die Tiere mit Menschen in Berührung kommen.
North West Frontier / Flame Over India (1959)
Das Münchner Werkstattkino, das beste Kino der Welt, zeigte vorletzte Woche Harun Farockis drei Kinofilme von 1986, 1988, 1990, und dann als Auftakt einer Filmreihe im Gedenken an Lauren Bacall: North West Frontier.
Das verblüffende Ende von Caboblanco (1980)
Das Aufzeichnungsverfahren Papagei oder Der Sprung in der Schallplatte.
Indem er seinen Vornamen auf den Anfangsbuchstaben verkürzte und dazu noch auf den Bindestrich zwischen seinen zwei weitverbreiteten Nachnamen verzichtete, hat John Lee Thompson es dem Gedächtnis der Nachwelt nicht gerade leicht gemacht. Trotz seiner 45 Filme in vier Jahrzehnten, trotz Yield to the Night und North West Frontier und Tiger Bay und Cape Fear führen einige Lexika ihn falsch unter Thompson, nur manche korrekt unter Lee, die meisten überhaupt nicht.
Als wir an einem sonnigen Januartag in Leuven diese Raupe bestiegen, klang aus den Lautsprechern „Whole Lotta Shakin‘ Goin‘ On“ von Jerry Lee Lewis und dann, in voller Fahrt, „Kili Watch“ von den Cousins. Mit der Erfindung des Rads ist es gelungen, die Drehbewegung in einer Konserve – also ein nicht geringes Maß an Euphorie – auf alle Zeit bereitzustellen.